22. Das erste Gespräch

Hallo, ich heiße Coraline und ich soll diesen Aufsatz für die Schule schreiben. Ich soll beschreiben wie es ist eine Henotello zu sein, dabei weiß ich gar nicht so genau was es bedeutet. Ich weiß, dass meine Schwester Kyrie bald weggehen muss und das wenn ich mal ein Baby habe, das auch weggehen muss. Ansonsten glaube ich nicht das ich anders bin als meine Mitschüler, auch wenn die mich manchmal anders behandeln. Sie sind wütend weil ich immer viel Essen bekomme und meine Kleidung neu ist. Die meisten meiner Mitschüler schlafen auch in hässlicheren Häusern als ich und haben weniger Spielzeug. Aber ich kann gar nichts dafür. Ist doch nicht meine Schuld, dass meine Familie mehr hat. Ich habe es mir schließlich nicht aussuchen können in welche Familie ich geboren werde.

REINA
Wärme spielte über ihre Augenlieder und zaghaft öffnete sie sie einen Spaltbreit. Sie erkannte ihre Umgebung nicht. Reina lag auf einer Bank in einem schön eingerichteten Haus. Eine dunkelblaue Decke lag auf ihr und ein weicher Polster unter ihrem Kopf.

Zögerlich sah sie sich um und erkannte Kyrie am Fensterbrett sitzend. Der Hund neben ihr schnarchte leise. Neugierig beobachtete sie die junge Frau. Das blonde Haar war zu einem lockeren Zopf geflochten und mit ihrer Jeanhose und dem hellblauen Pullover sah sie so normal aus.

Reina hatte viele Geschichten über die mächtige Lady Nava gehört, das Monster von Bärenstein. Brandon dagegen hatte ihr Geschichten von Kyrie erzählt. Einer warmherzigen, fröhlichen Schwester. Die junge Frau sah wie keine der beiden Personen aus. Ihre traurigen Augen ließen sie älter wirken, die gekrümmte Körperhalten zeugte von Kummer und Schmerz.

"Du bist wach.", sagte Kyrie ohne sie anzusehen, "hast du dich satt gesehen?"

Peinlich berührt senkte Reina ihren Blick und versuchte sich aufzusetzen. Sofort war Kyrie auf den Beinen und trat zu ihr.

"Das würde ich noch nicht tun. Deine Verletzung ist zwar gut verheilt, aber es wäre mir trotzdem lieber wenn du dich noch ausruhen würdest." Verwirrt warf Reina die Decke weg und inspizierte ihren Bauch. Da war keine offene Wunde, kein Verband, nichts. Nur raue Haut und eine wulstige Narbe.

"Wie?", fragte sie völlig perplex. Kyrie zuckte bescheiden mit den Achseln und wich ihrem Blick aus.

"Ich kann ein bisschen heilen. Nicht gut, aber für deine Wunde hat es offensichtlich gereicht. Ist nichts dabei."

"Also das seh ich anders. Ich dachte ich müsste dort im Wald sterben!", entgegnete Reina ehrlich verwundert.

"Bleib liegen, ich werde dir etwas zu essen holen.", seufzte Kyrie und stand auf. Schwermütig ging sie in die Küche. Immer noch überrascht strich Reina über ihre neue Narbe. Sie wäre fast gestorben und Kyrie...sie hatte sie vom Rande des Todes zurückgezogen.

Erleichterung schwappte über sie wie eine angenehme Welle. Nie wieder wollte sie dem Tod so nahe kommen. Der Hund kam schwanzwedelnd auf sie zu und verlangte gestreichelt zu werden. Lächelnd tat Reina ihm den Gefallen und setzte sich vorsichtig auf.

Ihr Körper fühlte sich schwach und ungelenk an, als wäre sie einen Marathon gelaufen. Kyrie kam mit einer dampfenden Schüssel zurück. Dankbar nahm Reina sie entgegen und pustete auf das heiße Gulasch.

"Ist aus der Dose und schmeckt deshalb vielleicht nicht besonders, aber etwas anderes habe ich nicht."

"Das ist mir egal. Ich habe so einen Hunger, ich würde alles essen." Kyrie lächelte sie an und nahm neben ihr auf einem Sessel Platz..

"Da bin ich froh. Ich habe hier nicht besonders viel Auswahl."

"Wo sind wir?", fragte Reina mit vollem Mund. Kyrie zuckte erneut mit den Achseln.

"So genau kann ich dir das leider auch nicht sagen. Ich glaube allerdings das wir in der Nähe der Akademie sind. Hier schleichen hin und wieder Soldaten der NKS herum."

"Wem gehört dieses Haus?" Kyrie stand auf und strich über den Kaminsims. Ihr Gesichtsausdruck verriet Reina, dass die Antwort auf diese Frage keine schöne wäre.

"Jemand der tot ist. Diese ganze Siedlung ist tot. Ich kann dir nicht sagen, wer oder was sie alle getötet hat, aber ihre Leichen lagen im ganzen Dorf verstreut als ich hier ankam." Ein unangenehmer Schauer lief über Reinas Rücken wenn sie an all die Toten dachte. Sie konnte keinen Leichengeruch wahrnehmen und hoffte nur das der Blick aus dem Fenster ebenso wenig zeigte. Kyrie setzte sich zu ihr auf die Bank und strich nervös über ihre Oberschenkel.

"Kannst du mir deinen Namen sagen?", fragte sie neugierig und Reina verschluckte sich fast. Unsicher wie sie antworten sollte, nahm sie einen großen Bissen um sich Zeit zum nachdenken zu verschaffen. Das war nicht die Art wie sie Brandons Schwester begegnen wollte. Was sollte sie ihr sagen, wie sollte sie es ihr sagen? Kyrie schien ihre Zweifel zu spüren.

"Ich weiß in Kriegszeiten ist es immer schwer seinen Namen preiszugeben. Warum fangen wir nicht bei ihm hier an." Sie zeigte auf den Hund der Reinas Essen mit großen Augen anblickte.

"Das ist Katastrophe. Und genau das ist er auch, also lass ihn nicht aus den Augen. Ansonsten ist er eh zu faul um dir was anzutun."

Reina lächelte den Hund an und konnte sich durchaus vorstellen, das er gemütlich war. Andererseits war seine Anwesenheit beruhigend. Er verbreitete eine angenehme Stimmung. Kyrie lächelte sie ehrlich an und die Beine anziehend lehnte sie sich zurück. Reina wünschte sich dieses freundliche Klima beibehalten zu können, doch sobald sie Kyries Fragen beantwortet hätte, wäre es damit sicher vorbei. Sie schlug die Augen nieder und beschloss einfach ehrlich zu sein.

"Ich heiße Reina."

"Hallo Reina. Ich bin..ich.." Kyrie stutzte und schloss den Mund wieder.

"Du bist Kyrie Henotello." Erschrocken zog sie die Luft ein und starrte Reina an. Diese legte das Essen weg und beugte sich vor, doch mit jedem Zentimeter den sie näher kam, rückte Kyrie weiter von ihr weg.

"Du musst keine Angst haben..", begann sie und wurde abrupt unterbrochen.

"Ich habe keine Angst vor dir.", zischte sie und zum ersten Mal konnte Reina Lady Nava in Kyries Augen erkennen. Die flammende Wut in ihren braunen Augen züngelte sie aggressiv an.

"Ich meinte nicht...das ist nicht das was ich sagen wollte."

"Ist mir egal was du sagen wolltest. Ich will wissen woher du meinen Namen kennst?!" Reina hob beschwichtigend die Hände und versuchte zu lächeln.

"Ich kenne deinen Bruder. Brandon. Er ist mein Freund und hat mir von dir erzählt." Ungläubig starrte Kyrie sie an. Als wäre es so abwägig das Brandon von seiner Schwester erzählte. Zum ersten Mal fragte Reina sich ob Kyrie ihren Bruder vielleicht vergessen hatte.

"Brandon? Was? Wieso sollte er dir von mir erzählen?" Reina zuckte mit den Achseln und hob verwirrt die Hände.

"Vielleicht weil du seine Schwester bist und er dich liebt?"

"Das ist unmöglich." Kopfschüttelnd stand Kyrie auf und verschränkte die Arme unnachgiebig. Was war unmöglich?, fragte sich Reina, sprach es jedoch nicht aus. Sie versuchte Geduld zu haben. Sicherlich war es hart nach all der Zeit eine Nachricht von ihrem Bruder zu bekommen.

"Ob möglich oder nicht. Es ist die Wahrheit." Abweisend verzog Kyrie den Mund.

"Was willst du hier? Du hast doch sicher ein Ziel. Sag schon und ich gebe dir genug Proviant um dorthin zu gelangen."

"Willst du nicht wissen wie es deinem Bruder geht?", erwiderte Reina etwas abweisend. Kyries Reaktion machte sie stutzig. Brandons Schwester seufzte schwer, doch eine Antwort erhielt sie nicht. Einige Sekunden verstrichen in vollkommener Stille und schließlich gab Reina das Warten auf. Sollte sie ihr die ganze Geschichte erzählen? Sie wollte nichts verschweigen, es würde das Aufbauen von Vertrauen beeinträchtigen, ganz zu schweigen davon, dass Brandon von Kyries telepathischen Fähigkeiten erzählt hatte. Geheimnisse hatten keinen Sinn.

"Ich habe mein Ziel schon erreicht. Du. Ich bin deinetwegen hier. Wir brauchen deine Hilfe. Brandon braucht dich." Kyrie schüttelte unwillig den Kopf und trat noch ein paar Schritte zurück.

"Er würde niemanden nach mir schicken."

"Weshalb nicht?" Verwirrt blickte Kyrie sie an als wäre ihre Frage die Dümmste seit Jahrhunderten. Wie Schuppen fiel es Reina von den Augen. Kyrie glaubte ihr Bruder würde sie hassen, sie verfluchen. Sie hatte ihn zuletzt in der Kirche gesehen, als sie Loke Bärenstein geheiratet und sich gegen ihren Bruder entschieden hatte.

In Kyries Gedanken war es unmöglich das Brandon ihr vergab. Vergeben würde er ihr, besonders wenn er sie so sah. Reina kannte ihn gut genug um das mit sicherheit zu wissen.

"Du verstehst nicht. Lass es mich erklären.", setzte Reina an und wollte ihr von Brandon erzählen. Von seiner Hoffnung, seiner Liebe. Kyrie schüttelte streng den Kopf.

"Egal was ihr braucht. Ich kann es euch nicht geben. Du hättest nicht herkommen sollen!" In einem Satz drehte Kyrie sich um und verschwand die Treppe nach oben.

"Ich hatte keine andere Wahl. Bitte hör mir zu." Mit wackeligen Beinen stand sie auf und versuchte Kyrie zu folgen. Schwer keuchend musste sie am Fuß der Treppe ihr Versagen einsehen. Die unheimliche Stille wurde nur durch ihre Atemnot unterbrochen. Die Augen fest zusammengepresst verfluchte sie ihre Ehrlichkeit.

Wie es aussah würde es schwieriger werden Kyrie um ihre Hilfe zu bitten als gedacht. Katastrophe kam gemächlich auf sie zu, gab ihr einen kleinen Stupser mit der Nase und folgte dann seinem Frauchen in den ersten Stock. Reina sah ihm sehnsüchtig hinterher.

Zumindest würde Kyrie die Neuigkeiten nicht alleine verarbeiten müssen.

BRANDON
Er kannte den Weg nach Willhelmsburg bereits. Er war ihn vor vielen Monaten bereits gefahren, aber nichts hätte ihn auf die Veränderungen in seinem Land vorbereiten können.

In einem schwarzen Van fuhren er, Giselle, Aurora und drei von Viktorias besten Soldaten über die moroden Straßen Beerellons. Überall lagen Leichen, Bombenkraten vernichteten ganze Wälder. Es sangen keine Vögel mehr. Totenstille. In dem Van lagen schwarze Reisetaschen voller C4 und Zeitschaltuhren. Brandon kannte sich mit Sprengstoff aus.

In der Militärschule, die er vor dem Krieg besucht hatte, waren explosive Mittel ein Wahlfach gewesen. Er hatte sich immer dafür interessiert und nie die Gelegenheit gehabt seinem Interesse nachzugehen. Tief in seinem Herzen war er froh endlich etwas in die Luft jagen zu können.

Er saß auf dem Beifahrersitz und behielt die Umgebung wie auch Giselle und Aurora im Blick. Nun da die Situation ernst wurde, machte er sich sorgen um sie. Vielleicht hätte er bei Aurora strenger sein müssen, aber sie erinnerte ihn so sehr an Honora.

Wie hätte er da nein sagen sollen? Stunde um Stunde verging. Sie stoppten nur selten und schliefen die Nächte in Schlafsäcken am Straßenrand. Giselle hielt sich abseits, doch Aurora suchte seine Nähe. Brandon war froh darüber. Er wollte sie nahe bei sich haben um sie beschützen zu können. Doch der Schlaf wollte nicht kommen.

Nachts lag er wach und starrte in den Himmel. Er sah die Gesichter seiner Liebsten. Die Menschen die er verloren hatte. Es waren so viele. Er hoffte nur Reina und Zosia nicht auch dazu zählen zu müssen, denn die Hoffnung gab er nicht auf. Reina war stark und sie würde einen Weg finden zurück zu kommen und Killian würde eher sterben als Zosia für immer Bärenstein zu überlassen.

"Wir sollten demnächst das Auto loswerden und zu Fuß weitergehen.", meinte der am Steuer sitzende Soldat Gabriel. Viktoria hatte in der Stadtwache nach freiwilligen gefragt und diese drei hatten sich gemeldet. Gabriel, der älteste von ihnen, Anfang vierzig, bullig, mit einer tiefen Narbe am Kinn, hatte schon viele Einsätze in der Armee von Bärenstein überlebt. Brandon vertraute ihm und war sich über dessen Erfahrungsschatz im klaren.

Beim Planen der Mission während der Pausen ihrer Reise, war Gabriel ein wichtiger Berater gewesen. Nicht unwesentlich war Louis Wissen über das Abwassersystem von Willhelmsburg und deren Umgebung. Er war ein ehemaliger Kanalarbeiter und laut Viktoria ein fähiger Soldat. Sein Wissen würde sie bis zur Vordertür des Flughafens bringen.

Anders als Gabriel war Louis schlank und hatte eine bleiche Hautfarbe. Die großen blauen Augen wirken in dem schmalen Gesicht groß. Seine Schwester saß neben ihm im Van. Ihr Name war Evangeline. Viktorias rechte Hand. Sie war eine begnadete Kämpferin im Nahkampf wie mit Schusswaffen. Als Louis sich freiwillig für diese Mission gemeldet hatte, war keine zwei Sekunden später Evangeline ebenfalls mit von der Partie. Viktoria hatte sie nur ungern ziehen lassen, aber die Geschwister waren nicht zu trennen.

Etwas das Brandon sehnsüchtig beobachtete. Evangeline hatte schulterlange braune Locken und einen Nasenring. Dieselben blauen Augen wie ihr Bruder blickten Brandon entschlossen entgegen. Ihr Körperbau war genauso schlank wie der ihres Bruders, aber selbst mit Kleidung konnte Brandon ihre stahlharten Muskeln erahnen.

Jede ihrer Bewegungen hatte Kraft. Sie waren ein ausgeglichenes Team. Gabriel hielt den Wagen an und ließ alle aussteigen. Sich streckend blickte Brandon in den Himmel. Es war Mittag. Strahlend sah die Sonne auf sie herab.

"Sollten wir nicht warten bis es dunkel ist?", fragte Brandon und schulterte seinen Rucksack. Gabriel schüttelte den Kopf.

"Wir haben noch einiges an Weg vor uns. Laut meinen Berechnungen sollten wir erst in vier Stunden in der Nähe des Feindes sein. Trotzdem wäre ein ruhiges Verhalten vermutlich von Vorteil."

Vielsagend blickte er Aurora und Giselle an. Für ihn waren sie Zivilisten und bei solchen machte sich ein erfahrener Soldat immer sorgen. Auroras finsterer Blick fand seinen und ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen als er Gabriel in den Wald folgte.

So leise es ihnen möglich war wanderten sie durch die Wälder Beerellons. Hier und dort konnten sie von weitem kleine Siedlungen erahnen, Vorstädte von Willhelmsburg. Sie würden die große Stadt nicht direkt betreten, sondern eher daran vorbei nach Norden gehen.

Da sie die genauen Pläne des Flughafens hatten, war es ihnen möglich gewesen einen Schwachpunkt festzustellen. Die Zäune des Flughafens wurden gut bewacht und niemand konnte sie leicht überwinden, doch etwas war den NKS verborgen geblieben.

Das Kanalsystem. Das Flughafengebäude an sich war alt, sehr alt und besaß noch ein altmodisches Kanalsystem von der Zeit vor Bärensteins Diktatur. Ein Tunnel führte von einem der Vororte Willhelmsburgs direkt in das Flughafengebäude. Sie würden rein und raus kommen ohne das sie jemand beobachtete.

Zumindest war dies Brandons Hoffnung. Louis kannte den Eingang des Tunnels. Er war jahrelang unter der Erde gefangen gewesen und hatte für die herrschende Klasse das Kanalsystem gereinigt und gewatet.

"Sind wir bald da?", fragte Aurora und schirmte ihre Augen von der Sonne ab. Ihr schmerzender Gesichtsausdruck kam von der Helligkeit des Tages. Ihre Augen und Ohren waren für die Finsternis ausgestattet und ihr Leben in einem Unterirdischen Labor hatte sie nicht gerade auf Sonnenlicht vorbereitet. Brandon biss sich auf die Lippe und sah auf die Karte in seinen Händen. Gabriel und er versuchten ihr Bestes im navigieren.

"Nicht mehr lange. Etwa eine Stunde, dann sollten wir an unserem Ziel ankommen."

"Sollten wir nicht unsere Ausrüstung verstecken oder sowas? Was ist wenn uns jemand in der Nähe der Siedlung sieht?", fragte Evangeline und behielt die Umgebung misstrauisch im Blick. Ihr Bruder antwortete stotternd.

"Das..das ist nicht..nötig. Das Haus..nnnachdem wir suchen liegt nicht nicht direkt in der Siedlung. Es ist ein altes Herrenhaus...aus ro roten Steinen. Wir werden aber über eine eine Mauer klettern müssen."

"Na wenn es sonst nichts ist.", entgegnete Evangeline gleichgültig. Eine Mauer würde ihr kleinstes Problem sein. Louis behielt recht. Sie hielten sich am Waldrand, im Schatten der Bäume.

Die Menschen des Dorfes schienen ausgezehrt, hungernd und unglücklich. Offenbar war die NKS nicht sonderlich gut zu ihren neuen Mitbürgern gewesen. Niemand schenkte ihnen Beachtung, selbst wenn sie jemand entdeckte. Die Mauer des Herrenhauses aus rotem Backstein kam in Sicht und triumphierend lächelte Louis sie an. Brandon seufzte erleichtert. Ohne große Mühe hob Gabriel zuerst Evangeline ein Stückweit über die zwei Meter hohe Mauer.

"Alles klar. Das Haus sieht leer aus. Gib mir mehr Schwung. Ich geh rüber.", flüsterte die Soldatin und innerhalb zwei Sekunden war sie drüben. Brandon hörte keinen ihrer Schritte. Viktoria hatte nicht übertrieben. Nacheinander kletterten sie über die Mauer und sahen sich um.

Es schien tatsächlich so als hätte das Haus schon seit langem keine Bewohner gehabt. Gabriel öffnete eines der hohen Fenster und verstohlen brachen sie ein. Das innere des Hauses hielt was das Äußere versprach. Jedes Möbelstück war alt und überall lag eine dicke Staubschicht.

Giselle nieste verhalten und hatte Schwierigkeiten sich die Nase durch den Beißkorb zu putzen. Liebend gerne hätte Brandon ihr das Ding abgenommen, aber er wusste, welche Gefahr sich in ihrem Schlund verbarg. Nur im absolutem Notfall würde er diese Option wählen.

"Folgt mir.", hauchte Louis und ging voran durch die Flure des Hauses. Sein Gang war zielsicher, da war kein Zögern in seinen Schritten.

"Woher kennst du den Weg?", fragte Brandon beeindruckt und besah sich die alten Gemälde des Hauses.

"Nach Wochen in dem Irrgarten des Kanalsystems hab ich dieses Haus gefunden. Es war damals schon leer stehend. Die Leute haben sich vor Geistern in den Wänden gefürchtet. Ich war damals noch recht jung, aber niemals werde ich den Moment vergessen als ich endlich wieder die Sonne auf meinem Gesicht spüren konnte. Ich habe nie jemanden von diesem Weg erzählt. Es war mein kleines Paradies, mein einziger Hoffnungsschimmer."

Brandon wollte sich die Kindheit des jungen Mannes nicht vorstellen. Er hatte von den Kanalkindern Willhelmsburgs gehört, doch war nie davon ausgegangen, dass ihre Arbeitsbedingungen der Wahrheit entsprachen.

Für ihn und seine Schwester waren es Schauergeschichten gewesen mit denen die Lehrer ihre Schüler in Zaum hielten. Evangeline strich ihrem Bruder sanft über die Haare und lächelte ihn an. Beruhigt erwiderte er das Lächeln. Brandon dachte traurig an seine eigene Schwester.

Er hatte mit Kyrie dieselbe Art Beziehung gehabt. Ohne Worte hatten sie einander alles sagen können. Wo sie in diesem Moment wohl war? Louis führte sie weiter in den Keller. Es war dunkel und staubig, sofort sah Aurora sich um während die anderen ihre Taschenlampen einschalteten.

"Da vorne ist eine Falltür.", murmelte sie und ging darauf zu.

"Warte auf uns, Aurora."

"Ich kann hier unten wesentlich besser sehen als ihr alle. Am besten ich gehe voran." Brandon seufzte. So etwas in der Art hatte er sich auch schon gedacht, allerdings wäre es ihm lieber das Mädchen würde hinter ihm bleiben, weit weg von jeglicher Gefahr.

"Eine gute Idee. Ich stimme dem zu.", brummte Gabriel und ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe im Raum umherwandern. Damit war es beschlossen. Zusammen hoben sie die hölzerne Tür des Tunnels auf und kletterten hinein. Es machte laut platsch als Brandons Schuhe in seichtem Wasser landeten. Angewidert verzog er das Gesicht.

"Wir sind jetzt im Kanalsystem und sollten eng zusammenbleiben. Wenn wir uns verlieren, wäre es für euch sehr schwierig wieder nach oben zu finden.", meinte Louis mit einem entschuldigenden Lächeln. Ungewollt kroch Angst über Brandons Rücken. Der Gedanke für immer an diesem dunklen, nassen Ort gefangen zu sein war kein Schöner.

"Los gehts.", Auroras Stimme war zuversichtlich und mit festen Schritten ging sie voran. Brandon und die anderen folgten leise.

Anmerkung der Autorin: Einen lieben Gruß aus der Selbstisolation. Ich glaube meine Schildkröte hat jetzt schon keinen Bock mehr auf mich. Und mir geht die Farbe aus mit der ich meine Möbel anmale....

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