Herbsttage


Caranthir hasste die kalte Jahreszeit, wenn die Dunkelheit begann, unter seiner Tür hindurchzukriechen und Kälte ihm die Luft abschnürte, wie ein zu enger Mantel, sobald er sich vom wärmenden Kaminfeuer entfernte. Nicht, dass er andere Jahreszeiten lieber mochte: Frühlingsblüten brachten ihn zum Niesen, bis seine Knochen krachten, die Sommersonne hinterließ brennende, rote Flecken auf seiner zu bleichen Haut und im Winter konnte er sich unter zu vielen Lagen Kleidung kaum bewegen und zitterte trotzdem noch wie einer der Hasen, die Celegorm manchmal mit nachhause brachte.

Doch wenigstens waren seine Brüder dann erträglicher, während sich im Herbst ihre Gefühle mischten, wie Manwes Winde, die aus verschiedenen richtungen kamen und trotzdem alle am selben Haus rüttelten: Maglor war angespannt, nur noch für ausgewählte Gäste seines Vaters spielen zu müssen und nicht, wie es seine Gewohnheit war, für jeden auf einem der Marktplätze Tirions. Celegorm verbreitete eine Aura der Rastlosigkeit, wenn er durch die Räume streifte, wie ein wildes Tier in einem zu engen Käfig, und düster vor sich hin murmelnd den Regen verfluchte. Ambarussa sprühten vor ungenutzter Energie, schienen immer in Bewegung zu sein und turnten über Sofalehnen und Esstische, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Und Curufin war genervt davon, auf Tageslicht verzichten zu müssen.

Diese Mischung war zu viel für Caranthir, weshalb er sich die meiste Zeit über in seinem Zimmer verschanzte. Selbst die Leere in seinem Innern war dem Wirbelsturm vorzuziehen, der ihn umgab. Er hasste es, nichts zu fühlen, hasste es, dass ihm die meisten Dinge um ihn herum schlichtweg egal waren. Doch wenn sein Geist die unzähligen Emotionen, die ihn wie Fliegenschwärme umschwirrten, auffing, multiplizierte und widerspiegelte – stärker als eine eigenen je gewesen wären – dann wollte er nur noch weg und das Summen in seinem Kopf zum Schweigen bringen. Ein weiterer Grund, weshalb er sich ungern in großen Gruppen bewegte.

Bisher hatte Caranthir mit kaum jemandem über diese Eigenart gesprochen. Warum sollte er jemandem erzählen, dass er selbst nichts fühlte, dafür aber an den Gefühlen anderer erstickte? Man würde ihn nur für noch merkwürdiger halten, als ohnehin schon. Oder, noch schlimmer, mit Morgoth in Verbindung bringen. Irgendwie schien sein Vater alles, was nicht in geregelten Bahnen verlief mit dem gefallenen Vala in Verbindung zu bringen und Caranthir zweifelte keine Sekunde daran, dass er ihn wegen einer bloßen Vermutung enterben würde. Nur Maedhros hatte ihn einmal gefragt, weshalb er sich von großen Gruppen fernhielt, sich bei Familientreffen absonderte und so selten über Ambarussas Witze lachte. Nicht, dass Caranthir geplant oder auch nur gewollt hätte, dass sein großer Bruder es wusste, doch irgendwie war es danach einfacher gewesen. Schon allein deshalb, weil Maedhros ihn nun mied, wenn er wütend, oder gestresst war.

Früher hatten sie viele Herbsttage zusammen verbracht. Anders als der Rest der Familie wurde Maedhros nicht rastlos, oder ungeduldig, wenn die Tage kürzer wurden. Im Gegenteil: Die Anspannung und Wut, die ihn das Jahr über begleitete, schien Tropfen für Tropfen aus ihm heraus zu sickern, wenn er sich mit einer schweren Decke und einem guten Buch ans Feuer setzte. Sein ganzes Wesen wurde ruhiger, ausgeglichener und alles, was er sonst versuchte zurückzudrängen, schien in den Hintergrund zu rücken, sodass seine Emotionen Caranthir trafen wie eine sanfte Welle, anstatt wie eine heftige Windböe.

Vielleicht sollte er bei seinem Bruder klopfen, so wie früher, als er noch ein Kind gewesen war. Aber das war albern. Maedhros hatte wahrlich genug um die Ohren und Caranthir war erwachsen genug, allein klarzukommen – zumindest behaupteten das alle anderen.

Stattdessen zog eine Schublade auf und griff nach einem metallenen Kästchen. Ein Geschenk, für das Maglor und Curufin ihre Fähigkeiten vereint hatten, wie sie es oft taten, wenn einer von beiden eine Idee für ein neues, revolutionäres Instrument hatte. Einige Drehungen an einer filigranen Kurbel und Töne erkämpften sich ihren Weg aus der Box, wie Wildtiere aus einem Käfig. Es war sicherlich keine schöne Musik – Maglor wäre vermutlich zu Tode beleidigt, würde man es überhaupt als solche bezeichnen – doch Caranthir mochte die zu rauen, zu lauten Töne, die fast an Schreie erinnerten. Er mochte es, wie sie die Leere in seiner Seele füllten und ihn etwas fühlen ließen. Mochte die Emotionen, die sie transportierten, roh, ungeschönt und ohne die Langsamkeit, die jede andere traurige Musik in Weltschmerz verwandelte.

Die Tür flog auf. Celegorms Wut traf Caranthir wie eine Windböe und es kostete ihn einige Mühe, nicht umzukippen.

„Raus hier."

„Was ist das für ein Lärm."

„Ich hab' gesagt raus hier," er gab sich nicht einmal Mühe, nicht wütend zu klingen.

„Nur, wenn du diesen Krach beendest."

„Schön," mit einem Knall schlug Caranthir den Deckel seiner Spieluhr zu. Dann, ohne wirklich darüber nachzudenken, rauschte er an seinem Bruder vorbei den Flur hinunter.

Wenig später fand er sich selbst vor Maedhros' Zimmertür, in der Hoffnung, der Ältere habe sein Klopfen nicht gehört und würde ihn einlassen.

„Carathir," Maedhros wirkte überrascht. Dem Chaos auf seinem Schreibtisch nach zu urteilen, war er mal wieder mit Papierkram beschäftigt gewesen, doch ausnahmsweise schien es ihm nicht den letzten Nerv zu rauben. Eine halbvolle Teetasse lugte zwischen den Blättern hervor.

„Du bist der Einzige, der sich noch mit klopfen abmüht. Komm rein."

Einige Sekunden herrschte unangenehme Stille, in der keiner so recht wusste, was er sagen wollte.

„Mir ist kalt." Es war der kindischste Satz, den er hätte sagen können, aber – nüchtern betrachtet – auch die Wahrheit. Maedhros, der ohnehin immer drei Decken um die Schultern trug, hatte sich nicht die Mühe gemacht, ein Feuer zu entzünden. Ein verständnisvolles Lächeln huschte über das Gesicht des Älteren. Er warf Caranthir eine weitere Decke zu, holte etwas aus einer Schublade und setzte sich auf die gepolsterte Fensterbank.

„Du hast sie noch," ungläubig starrte Caranthir auf die dunkelrote Kerze mit den regelmäßigen Kerben, während er sich neben seinen Bruder kuschelte.

„Warum nicht," Maedhros reichte ihm Zündhölzer, „Kerzen sind teuer."

Langsam tropfte das Wachs auf die Fensterbank, die Flamme, die so unfassbar klein aussah, doch hell genug, um die Dunkelheit daran zu hindern, durch die Ritzen im Fenster zu kriechen. Caranthir fühlte sich an seine Kindheit erinnert – die wenigen Augenblicke, die die Kerze brauchte, um bis zur nächsten Markierung hinunter zu brennen, in denen kein Platz war für Kälte, oder Dunkelheit, oder Leere – und Wärme legte sich um seine Schultern wie eine weiche Decke.




Ehrlicher Weise: Ich habe keine Ahnung, was genau ich hier beschreibe. Die Idee, dass Caranthir sehr wenige eigene Emotionen hat, dafür aber extrem sensitiv ist für die Emotionen anderer, kam mir irgendwann während des ersten Entwurfs und ich war ziemlich go for it! Falls ihr sowas in real life kennt, würde ich mich über einen Kommentar freuen. Ich finde nämlich, das geht gut mit der Art, wie ich Caranthir im Kopf habe, würde es aber auch gerne realistisch darstellen. Schon mal Danke!

Ich glaube auch nicht, dass irgendjemand ihn dafür runtermachen würde, oder so, aber wir wissen alle, wie Feanor sein kann und die meisten wissen vermutlich auch, was passiert, wenn man overthinking betreibt – was zumindest mein YOT Caranthir definitiv tut. Und er ist ein bisschen Metal. Und ich mag ihn.

Tatsächlich ist Caranthir extrem neues Terrain für mich. Ich hab vielleicht ein Mal über ihn nachgedacht und das war, als ich mit 15 überlegt habe, ob man ihn mit Haleth shippen kann.

Dafür habe ich mich sehr über die Möglichkeit gefreut, ein bisschen Feanorinan-Familiendynamik auszuloten und ein paar headcanons auszuprobieren (Stichwort Curufin/Maglor/Instrumente; Maedhros/Herbstmensch; Celegorm/typisches Geschwisterkind).

Ich hab das Gefühl, Maedhros ist sehr viel besser, anderen zu helfen/ihre Probleme zu erkennen, als sich seinen eigenen Problemen zu stellen und dass er (v.A. deshalb) zu jedem seiner Brüder eine Beziehung ist, die so ähnlich ist, wie hier mit Caranthir. Weil ich gerade ein bisschen ins Maze Runner-Fandom abgerutscht bin: „He was the glue, that held everything together. Everything, but himself". Und ich kann mich so sehr mit ihm identifizieren (nicht wegen der Sache mit den Problemen), ich bin einfach auch 100% eine Herbst-Person (ich liebe Decken und Tee und Kürbissuppe und ich bin immer genervt davon, dass die Tage viel zu langsam kürzer werden und irgendwie ist im Herbst einfach alles gemütlicher und ruhiger und erträglicher) und ungelogen keiner in meiner Familie versteht das. Also, ja, ich fühle hier sehr mit Maedhros.

Wie gesagt, hat mich sehr gefreut, ein bisschen mehr Feanorian-family zu sehen als nur Maedhros und Maglor.

Oh, und da das in Valinor spielt, sind die Namen natürlich falsch. Wenn ihr wollt, seht es als eine Übersetzung aus EZ in Sindarin entstandenen Memoiren. Oder wir einigen uns einfach, dass ich keinen Plan mehr von Quenya-Namen habe.

Und funfact, ich wusste bis vor ein paar Monaten nicht, ob er Celegrom, oder Celegorm heißt XD

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