KAPITEL 1
»Ja, ich will.«
Diese drei Worte kamen ihr so leicht über die Lippen. Zuvor hatte Grace sich noch so sehr vor ihnen gefürchtet, doch nun waren sie gesprochen und aus ihrem Kopf, wo sie herumgeisterten, seit Roy ihr vor einem Jahr den Heiratsantrag gemacht hatte. Er hatte es mitten auf der Straße getan, ganz schmucklos und schnell, als wäre er zu aufgeregt, um eine ausschweifende Rede vorzubereiten. Der Typ dafür war er sowieso nicht – das wusste die junge Frau bereits, seit ihre Arbeitskollegin und beste Freundin Caren ihn ihr auf einer Betriebsfeier vorgestellt hatte.
Damals war er noch Carens Freund gewesen. Dumm nur, dass Roy so angetan von Grace war, dass er seine Freundin glatt verließ, um etwas mit ihr anzufangen. Lang betteln musste er nicht, schließlich war auch Grace alles andere als abgeneigt. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Zumindest hatte es sich in etwa so angefühlt, aber zu wenig glaubte Grace an das Schicksal oder die Existenz einer Seelenverwandtschaft, um sich das einzugestehen.
So hatte ihre gemeinsame Geschichte begonnen. Nun neben dem Mann zu stehen, den sie über alles liebte und der ihr nach nur drei Monaten Beziehung bereits die Frage aller Fragen gestellt hatte, fühlte sich so unwirklich an. Er war sich einfach sicher mit ihr gewesen, hatte ihr ehemals Verlobter noch zwei Tage vor der Vermählung erklärt, als Grace ihn darauf ansprach, dass es doch wirklich recht schnell mit ihnen beiden ging.
All die Bräute vor Grace hatten recht, wenn sie sagten, dass die Hochzeit der schönste Tag im Leben einer Frau sei. Wie unglaubwürdig es auch klang, solange man nicht selbst vor den Traualtar getreten war. Alles war perfekt. Vor allem der Kuss, den Roy der Blonden auf die Lippen drückte, als der Pfarrer ihm das Zeichen dazu gab. Die Menge an Menschen, die sie dabei beobachteten, blendete die Braut dabei für einen Moment vollkommen aus. Es gab in diesem einen Moment nur sie und Roy. Mehr zählte nicht, weder die Schuldgefühle gegenüber Caren, mit der sie sich zerstritten hatte, da Roy sich für Grace und nicht für die Rothaarige entscheiden hatte, noch der Fakt, dass ihr all diese Menschen um sie herum fremd waren, da von ihrer Familie niemand in diesen Reihen saß.
Diese hatte Grace hinter sich gelassen, als sie damals mit ihrem ersten Freund durchbrannte, um von ihrer kontrollsüchtigen Mutter und ihrem alkoholkranken und mitunter gewalttätigen Vater fortzukommen. Mit dem Jungen, Leon war sein Name, hatte Grace sich einfach auseinandergelebt. Vor allem deshalb, da sie ihn mit einem anderen Mädchen im Bett erwischt hatte, als sie von ihrem Minijob im nächstgelegenen Supermarkt nach Hause kam. Also zog sie weiter und baute sich allein ein Leben auf, wo sie doch zuvor mit nichts als ihrem Ersparten gestartet war, das gerade einmal für das Anmieten eines Zimmers im schäbigsten Motel der gesamten Stadt gereicht hatte.
Diese Gedanken wischte Grace nun beiseite. Das alles lag hinter ihr. Dieser ganze Dreck und Schmerz war mit dem Tag ihrer Hochzeit wie weggewaschen. Sie konzentrierte sich wieder allein auf Roy. Die Liebe ihres Lebens. Sie war sich sicher, ab heute würde ihr Leben perfekt werden. So sollte es doch sein, wenn man verheiratet war, oder? In guten wie in schlechten Zeiten, das hatten sie beide gerade geschworen. Diese Worte sollten es besiegeln.
Noch während des ewig andauernden Kusses lächelte die Braut über ihren neuen Namen, den sie sich in Gedanken immer wieder vorsagte, um sich an dessen Klang gewöhnen zu können. Grace Moore. Das klang so viel besser als Young. Und sie konnte vollkommen neu anfangen. Grace Moore würde nicht dieselben Fehler wie Grace Young machen. Letztere sollte nur noch als böse Erinnerung in irgendeiner finsteren Ecke ihres Gedächtnisses herumgeistert. Es war Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Alles was zählte, war das Leben, das beginnen würde, sobald dieser perfekte Moment verstrich.
Auf Flitterwochen hatten sie verzichtet. Dafür war kein Geld da, wenn man Roys Worten Glauben schenken wollte, doch sie würden es nachholen, sobald er einen Job gefunden hätte und so viel Kohle verdienen würde, dass sie nie wieder Sorgen hätten. Grace vertraute ihm da und hinterfragte seine Worte nicht. Schließlich war sie verliebt und endlich in dem normalen Leben angekommen, das sie sich immer erträumt hatte. So war sie schon zufrieden, dass sie ein warmes Heim hatte, ein Bett, das sie mit ihrem Ehemann teilte und eine Zukunft, die ohne dunkle Wolken und Angst sein würde.
Damit saß die junge Frau da am Esstisch, ein leises Lächeln ihre Lippen umspielend, während sie versuchte, sich auf ein Buch zu konzentrieren. Nebenan lief der Fernseher – wohl irgendein Footballspiel, das Roy sich ansah. Grace hasste diese lauten Stimmen. Sie erinnerten die Blonde sehr an das Geschrei, das zu oft ihr Elternhaus erfüllt hatte, wenn Mutter und Vater stritten, und an das Gefühl, niemals allein sein zu können. Deshalb saß sie auch hier und versuchte sich abzulenken, wie sie es immer getan hatte, wenn es um sie herum zu laut wurde. Die junge Frau hasste sich dafür, dass sie Angst vor dem Fernseher hatte und allein war, anstatt bei ihrem Mann zu sein. Es fühlte sich falsch an, als wäre sie der Fehler, genauso wie ihre Mutter es ihr immer vorgeworfen hatte. Grace würde diese Angst ablegen müssen. Für Roy und das Leben, das sie führen konnte, wenn sie ihr altes Ich hinter sich ließ.
Frustriert legte Grace das Buch zur Seite. Es half nichts, sie konnte sich im Moment nicht auf Worte konzentrieren, die sie las, aber nicht sah, weil sie zu tief in Gedanken versunken war. Angespannt fuhr sie sich mit einer Hand durchs Haar. Warum nur konnte dieses dämliche Footballspiel nicht einfach enden? Grace schloss die Augen und versuchte ruhig zu atmen. Sie würde sich daran gewöhnen. An den Fernseher, an das Haus, an das Leben als normale Person, ohne Angst, ohne Schmerz, ohne Enttäuschung. Alles würde gut werden. Sie musste nur atmen und aufhören, Angst zu haben.
Plötzlich verstummten die Stimmen – der Fernseher war aus. »Grace?« Roys Stimme aus dem Nebenzimmer ließ die junge Frau zusammenzucken. Sie nickte stumm, vergaß, welche Angst sie eben noch gehabt hatte und stand auf. »Ja, Schatz?« Grace blieb im Türrahmen stehen und betrachtete ihren Ehemann, der noch immer auf der Couch saß, wie sie ihn zurückgelassen hatte, und in den nun schweigenden Fernseher starrte, als sähe er etwas, was sie nicht sehen konnte. Eine Akte lag auf seinem Schoß, die er hin und wieder sanft berührte, als wäre sie sein wertvollster Besitz. Eine Weile saß Roy so da, ehe er sich zu seiner Frau umdrehte und ihr in die Augen sah.
»Komm her.« Der Dunkelhaarige klopfte neben sich auf die Couch und sie gehorchte prompt seinem Befehl, wie sie es immer getan hatte, noch bevor sie Roy kannte. Schweigend forderte Grace ihn auf, weiter zu sprechen. Der Mann atmete tief ein, suchte für einen Moment nach Worten und redete schließlich leiser als gewöhnlich drauf los, die Akte vor sich noch immer gedankenverloren liebkosend.
»Ich muss dir etwas erzählen, was ich dir bisher verschwiegen habe«, begann Roy. »Etwas, was ich bereue und ungeschehen machen würde, wenn ich es könnte. Ich weiß, dass du mich dafür hassen und Angst haben wirst, aber keine Sorge. Das liegt alles hinter mir.« Der Dunkelhaarige öffnete die Akte und zeigte seiner Frau einen alten Polizeibericht samt Fahndungsfotos von seinem jüngeren Ich.
»Du weißt bereits, dass ich nicht aus den besten Verhältnissen komme. Meine Familie hatte immer Geldprobleme und als mein Vater meine Mutter betrog und mit seiner Schnalle abhaute, war ich das älteste Kind von vieren, dazu noch der einzige Sohn. Also war ich der Mann im Haus, der das Geld beschaffen musste. Und als ich dann versuchte, einen Job zu finden, bat mir irgendein Kerl einen an, der mich dann in seiner ‚Familie' aufnahm. Damit war ich das neue Mädchen für alles, nur ein erbärmlicher Laufbursche, der die Drecksarbeit machen sollte und ganz unten in der Hackordnung stand. So wurde ich zum Dealer, der immer sein Leben für ein paar Gramm Stoff riskierte. Oder auch zum primitiven Schlägertypen, der aufmüpfig gewordenen oder zahlungsunwilligen Kunden eine Lektion erteilte. Und dabei passierte etwas, was mich bis heute nicht loslässt.
Ich war fünfzehn und dumm. Bei einem ... Hausbesuch wollte dieser eine Typ einfach nicht nachgeben. Da habe ich nach der Lampe neben mir gegriffen. Sie war echt schwer und ich schlug zu, ich ...« Roy stockte und fuhr sich mit der einen Hand durchs kurze Haar, als wollte er seine Unsicherheit überspielen. »Deshalb war ich im Jugendknast. Aus irgendeinem Grund hat das Gericht Gnade walten lassen, da sie glaubten, ich hätte aus Notwehr gehandelt. Denn der Typ, den ich umgebracht habe, war ein gesuchter Kinderschänder. Also ... irgendwie habe ich sogar etwas Gutes getan, als ich ihm den Schädel zertrümmert hab.« Doch so gequält wie der Mann drein blickte, glaubte er wohl selbst nicht an seine Worte.
»Ich bin noch nicht lange draußen. Ich weiß eigentlich gar nicht mehr, wer ich bin und wer ich sein will. Doch jetzt habe ich dich. Wir sind vielleicht beide etwas kaputt, das hat Caren zumindest einmal gesagt, aber so können wir einander verstehen und uns ein normales Leben aufbauen.«
Er nahm Grace die Fahndungsfotos aus den Händen, legte sie zurück und die Akte zur Seite, nur um die Hände seiner Frau sanft in seine zu nehmen. Roy lächelte die nun etwas verstörte junge Frau an. »Hab keine Angst, Grace. Ich bin nicht mehr der Typ von damals. Das ist schon lange her und ich will es wiedergutmachen. Ich habe mich geändert, das verspreche ich dir.«
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