.:74:. Auszeit
Menschenwelt.
Es war kalt und eisig. Fröstelnd zog sie ihren Umhang enger um sich. Dieses Mal hatten die beiden es geschafft sich einen Ort auszusuchen, der unmöglich war. Wie sollte man hier denn bitteschön überleben? Nach spätestens zwei Tagen hier draußen wäre sie erfroren. Nur gut, dass sie hier nicht wohnen musste. Was die beiden wohl zu ihrem Besuch sagen würden? Sie konnte es sich nur schwerlich vorstellen, hatten sie bislang doch nur selten und eher sporadisch miteinander in Kontakt gestanden.
Vor einer großen Villa, inmitten eines gefühlten Niemandslands hielt sie inne. Momentan, so hatte man ihr gesagt, lebten die beiden hier als reiches Unternehmerpaar. Nur, warum suchte man sich mit dieser Geschichte einen so abgelegenen Ort aus, an den man nur gelangen konnte, wenn man sich fast zu Tode fror? Sie musste zugeben, dieser kleine Vorort hier war nun wirklich nicht das Ende der Welt, aber bei dieser Kälte konnte man schnell auf derartige Gedanken kommen. Sie schüttelte noch einmal ihren Mantel, um ein paar der durch die Luft wirbelnden Schneeflocken wieder loszuwerden, dann gab sie sich einen Ruck und betätigte den Klingelknopf an dem großen Eisentor, das das Grundstück vor unerwünschten Besuchern schützte. Lächerlich, dachte sie und schüttelte grimmig lächelnd ihren Kopf. Wenn sie gewollt hätte, wäre es kein Problem gewesen, die Abgrenzung zu überwinden. Ein wenig Anlauf, ein guter Sprung und sie wäre drüber.
An der Gegensprechanlage knisterte es leise. „Sie wünschen?", erkundigte sich eine rauchig klingende, leicht krächzende Stimme.
Herrje, was für ein Aufwand. Dabei wollte sie doch nur ihre Verwandten besuchen. „Hier ist Lin. Ich möchte gerne mit Herrn und Frau ...", sie durchwühlte ihren dicken Mantel, auf der Suche nach diesem verflixten kleinen Zettel, auf dem sie sich die Namen, unter dem die beiden derzeit lebten, notiert hatte. Sie fand ihn natürlich nicht. „Ich möchte die Hausherren sprechen", schloss sie schließlich.
Eine lange Pause trat ein. Anscheinend versuchte der Sicherheitsmann gerade herauszufinden, ob er sie hereinlassen sollte oder nicht.
Frustriert stieß sie ihren angehaltenen Atem aus. „Hören Sie, es macht mir sicherlich keinen Spaß, hier zu stehen und meiner Körpertemperatur beim Sinken zuzusehen. Ich weiß, dass die beiden da sind. Sie kennen mich."
„Sie kennen nicht einmal ihren Namen", kam es ein wenig eingeschnappt zurück.
Ein schweres Seufzen entfuhr ihr. „Okay, ich brauche Ihre Hilfe nicht." Verärgert zog sie sich die zum Mantel gehörige Mütze über den Kopf und nahm Kontakt zu ihrem Geist auf. „Dann wollen wir mal den inoffiziellen Eingang nutzen."
Mäßige Begeisterung schlug ihr entgegen. Ceres murrte jedoch nicht und half ihr, die halb vereiste Mauer zu überwinden. Geschickt ließ sie sich auf der anderen Seite in das überwältigende Weiß sinken und hielt zielsicher auf das Haus zu. Währenddessen fragte sie sich, ob es auch eine Zeit im Jahr gab, zu der die Gegend hier unter einer mindestens handbreiten Schneeschicht versank. Kurz vor der Haustür fielen ihr links und rechts von ihr ein paar Schatten auf. Angespannt hielt sie inne. Normalerweise war sie einem guten Kampf nicht abgeneigt, doch musste sie es in dieser Kälte nicht unbedingt darauf ankommen lassen.
„Ich sagte doch, ich brauche eure Hilfe nicht, um herein zu kommen", sagte sie so laut, dass sie sie verstehen mussten.
Dummerweise frischte der Wind auf, während der Himmel gleichzeitig seine Schneisen öffnete und nahezu handtellergroße Flocken auf die Erde losließ. Fröstelnd flüchtete sie sich zur Haustür, wo sie die Klingel mehrfach betätigte und ein paarmal gegen die verschneite Tür polterte.
„Stehenbleiben!", rief jemand hinter ihr. Diese beiden Idioten schienen tatsächlich zu denken, sie würde einbrechen.
„Echt jetzt?", fauchte sie ungläubig. „Wenn ich den beiden etwas antun wollte, wären sie jetzt schon längst tot. Warum sollte ich dann überhaupt klingeln?"
Unbeirrt fixierten sie sie mit ihren Waffen. Narren.
Zu ihrem Glück ging hinter ihnen die Tür auf. „Was ist hier los?" Herrisch erklang die Stimme ihres Onkels.
Prompt wandte sie sich um und fiel ihm erleichtert um den Hals. „Onkelchen, endlich. Ich dachte, ich erfriere."
„Eilean", flüstere er verblüfft. „Komm rein." Er legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie ein paar Schritte weit, ehe die Tür ins Schloss fiel. Den Sicherheitsleuten signalisierte er, dass alles in Ordnung war.
„Aleix?" Die Stimme ihrer Tante klang unsicher und recht nahe.
Neugierig drehte Eilean sich zu ihr um und nahm das Aussehen ihrer Tante in sich auf. Suzi trug ihre roten Haare mittlerweile schulterlang, ansonsten hatte sich nichts an ihr verändert. Lediglich die viel zu vornehme Kleidung wollte nicht recht zu dem Bild passen, das sie von den beiden hatte.
Froh darüber, endlich im Warmen zu sein, schlug sie ihre Kapuze zurück und öffnete ihren Mantel. Natürlich musste in eben diesem Moment der Zettel mit ihren Namen zu Boden fallen. „Das nächste Mal sucht euch bitte Namen aus, die man sich auch merken kann", brummte sie und entledigte sich ihres Kleidungsstückes.
Mit einem erstickten Schrei stürzte ihre Tante sich auf sie. „Eilean!" Ihr wurde die Luft aus den Lungen gepresst, so stürmisch war Suzis Umarmung. „Himmel, bist du hübsch geworden. Und so groß."
Sie war wirklich größer als ihre Tante. Das letzte Mal, als sie sich gesehen hatten, war sie noch kleiner gewesen. Aber das lag auch schon wieder fast zehn Jahre zurück. Wie schnell die Zeit doch verging. Zumindest in manchen Belangen.
Nachdem ihre Tante von ihr abgelassen hatte, zog ihr Onkel sie an sich. „Schön, dich zu sehen, Kleine."
Die ruhige Zurückhaltung ihres Onkels stand in einem krassen Gegenteil zu der überschwänglichen Begrüßung ihrer Tante. Doch kaum war die erste Begrüßungsfreude vorbei, veränderte sich die Stimmung. Suzi wurde wieder zur ruhigen Hausfrau, als die sie sie kennengelernt hatte und ihr Onkel übernahm es sie in ein großes, einladend eingerichtetes Wohnzimmer zu führen. Creme- und warme Brauntöne herrschten hier und verliehen der Atmosphäre etwas Ruhiges und Angenehmes. Es war ein schöner Raum.
„Du wirkst nicht mehr ganz so traurig wie letztes Mal", bemerkte er, nachdem sie neben ihm Platz genommen hatte. „Aber etwas bedrückt dich."
Seine Aufmerksamkeit trieb ihr fast die Tränen in die Augen. Gerührt kuschelte sie sich an ihn. „Darf ich ein wenig bei euch bleiben?"
„Natürlich", erklärte er und nahm sie in den Arm. „Wir freuen uns, dich zu sehen. Wenn du etwas auf dem Herzen hast, kannst du jederzeit mit uns darüber reden."
Wortlos nickte sie. In den letzten Tagen hatte ihr Vater rund um die Uhr gearbeitet. Sie und ihre Mutter hatten sich bemüht, die Tage miteinander zu verbringen, aber auch sie hatte einiges um die Ohren. Insgeheim war sie froh, nicht in der Haut ihrer Mutter zu stecken. Ihre Großmutter nahm ihre Mutter in Beschlag, wann immer diese gerade einmal fünf Minuten Ruhe hatte. Etikette, Geschichte und Schlosskunde. Es war wahrlich kein Zuckerschlecken. Und dazu noch das Volk, das immer lauter nach ihrem Erscheinen in der Öffentlichkeit schrie. Auf den Wunsch ihres Vaters hin hatten sie sich am vorangegangenen Abend kurz zu dritt auf dem öffentlichen Balkon gezeigt, damit dieser Ansturm auf den Palast endlich aufhörte. Doch heute Morgen hatten noch mehr Leute vor den Toren gestanden und verlangt, ihre Mutter zu sehen. Da hatte sie beschlossen, sich eine Auszeit zu nehmen.
„Willst du dir Kuscheleinheiten abholen?", fragte ihre Tante belustigt. Sie hatte Getränke für sie besorgt.
Eilean zuckte schwach mit ihren Schultern. „Papa hat gerade keine Zeit. Die rennen ihm die Bude ein und Mama..." Sie musste schwer schlucken. „Ich brauche meine Ruhe."
„Deine Ruhe?" Irritiert setzte Suzi sich auf Eileans andere Seite. „Wovor brauchst du denn deine Ruhe? Ich dachte, bei euch zuhause ist es ruhig."
Verlegen biss sie sich auf die Unterlippe. „Nun ja... Es gibt da Dinge, die ihr wohl nicht wisst."
„Da gehe ich von aus", bemerkte ihr Onkel mit ruhiger Gelassenheit. „Magst du uns davon erzählen?"
Zögerlich nickte sie, griff aber zuerst nach ihrem Kakao und versenkte einen der Kekse darin, die ihre Tante ihr hingelegt hatte. Nachdem sie ihre Seelenmedizin verschlungen hatte, wappnete sie sich davor, von den vergangenen Jahren zu berichten.
„Als ich das letzte Mal hier war, hat mein Onkel mich hergebracht, damit ich eine Auszeit von allem bekomme." Sie holte tief Luft. „Damals haben sie versucht, mir Papa wegzunehmen." Nur zu gut erinnerte sie sich daran, wie sie ihren Vater geholt und ihn zum Palast gebracht hatten. Er war gerade dabei gewesen, ihr, die sie bei ihrem Großvater gewesen war, etwas zu sagen, da war ihre mentale Verbindung unterbrochen worden. Danach war Onkel Aram aufgetaucht und hatte sie zu Suzi und Aleix gebracht. Ihren Vater hatten sie damals, nach Raphaels Tod sofort zum Kaiser erklärt, sodass er keine Chance gehabt hatte, ihr davon zu erzählen. Sie hatte erst davon erfahren, als er sie zurückgeholt und ihr alles erklärt hatte. Damals hatte er schon seinen Hof neu geordnet und dafür gesorgt, dass sie größtenteils unbehelligt blieb. Und er hatte es ermöglicht, dass sie bei ihm bleiben konnte, obwohl ihm alle davon abgeraten hatten.
„Ihr müsst wissen, dass Papa seit ein paar Jahren Kaiser ist."
Ihre Tante schnappte erschrocken nach Luft. „Kaiser?"
Eilean nickte traurig. „Ja. Oma und Opa wurden ermordet." Wenn sie nur daran dachte, wie es für ihren Vater gewesen sein musste. Seine Frau war fort, sein Mentor tot, die Tochter in Gefahr und er selbst wurde auf den Thron gezwungen. Unvorstellbar. „Mama war lange weg", flüsterte sie kraftlos. „Wir hatten so große Angst, dass sie nie wieder kommt. Papa war ganz alleine, als er Kaiser wurde."
Von heftigen Schluchzern geschüttelt weinte sie sich in den Armen ihrer Verwandten aus. Sie waren die einzigen, die gänzlich unbeteiligt waren und es tat gut, ihnen ihre Seele auszuschütten. Sie erzählte alles. Angefangen bei den Ereignissen, bei denen sie alle nach Anderswelt entführt worden waren.
Betroffen hörten die beiden ihr zu und trösteten sie, so gut es eben ging.
Eilean war schon seit drei Tagen bei den beiden, da spürte sie eine Präsenz, die sie nicht erwartet hatte. Sie saßen gerade im Wohnzimmer und spielten Karten, da klingelte es an der Tür. Suzi öffnete und kehrte ein wenig bleich mit zwei Personen im Schlepptau zurück. Es waren ihre Eltern.
„Was macht ihr denn hier?", fragte sie und sprang auf.
Ihr Vater bedachte sie mit einem Blick, der Konsequenzen ankündigte. „Die Frage ist wohl eher, was du hier tust. Es ist verboten, die Welten ohne meine Erlaubnis zu wechseln."
Ein wenig hilflos sah sie zu ihrer Mutter, die ein Grinsen nur schwer verbergen konnte. Sie trug wieder ihre Maske, die nur diejenigen durchschauen konnten, die von ihrem Zustand wussten. Aus unerklärlichen Gründen hatte sie dieses Detail vor ihrer Tante und ihrem Onkel verschwiegen.
Dass ihre Mutter ihr nicht böse zu sein schien, gab ihr den Mut, ihrem Vater zu widersprechen. „Du hast mir die Schlüssel doch selbst gegeben." Es war Ceres Idee gewesen, ein wenig mit der Funktion dieser Gegenstände zu experimentieren.
Das Grinsen ihrer Mutter wurde breiter. Offenbar hatte sie sie auf ihrer Seite.
„Ich habe dir aber nicht erlaubt, einfach so zu verschwinden. Wir haben uns Sorgen um dich gemacht."
Jetzt wirkte ihre Mutter auf einmal empört und ihr Vater wandte sich ihr beschwichtigend zu. Offenbar las sie ihm gerade mental die Leviten. „Ich bin auf Mamas Seite", erklärte sie schnell.
Auf einmal wurde sie unter schwarzen Wellen begraben, so schnell fiel ihre Mutter ihr um den Hals. „Ich habe dich auch lieb, mein Engel."
Diese Anrede war ihr mittlerweile ein klein wenig peinlich, auch wenn es sie noch immer zutiefst rührte, so genannt zu werden.
„Mach dir über deinen Papa keine Gedanken. Dem steht der Kopf gerade sonstwo. Warte einfach und er wird sich schon wieder beruhigen."
Ihr Vater sah das offenbar ganz anders. „Es ist verboten."
„Weil du es verboten hast", konterte ihre Mutter mit funkelnden Augen. Jedes Mal wunderte Eilean sich aufs Neue, wie sie ihrem sumpfen Blick eine solche Ausdrucksstärke entlocken konnte.
Sanft löste ihre Mutter sich von ihr und begrüßte ihren Onkel und ihre Tante.
„Du wirst uns zurück nach Hause begleiten", erklärte ihr Vater streng, kaum dass ihre Mutter die Begrüßung hinter sich gebracht hatte.
Störrisch stemmte sie die Hände in die Seiten. „Nein. Wie habt ihr mich überhaupt gefunden?"
Beschwichtigend legte ihre Mutter ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. „Schon gut, Engel. Es war nicht schwer, dich ausfindig zu machen." Sie machte eine kurze Pause, in der ihr Blick zu ihrem Vater ging. „Nimm dir die Auszeit, die du brauchst. Aber sag uns das nächste Mal bitte, wo du hin gehst. Nicht, dass wir von allen gefragt werden wo du bist und uns Sorgen machen."
Sie hatte ja mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass ihre Mutter so viel Verständnis für ihre Situation haben würde. „Danke Mama." Gerührt schloss sie sie in ihre Arme.
Ria tätschelte den Rücken ihrer Kleinen, ehe sie einen Schritt von ihr zurücktrat. „Dein Vater muss jetzt wieder an die Arbeit. Wir lieben dich, Engel."
Nach einer raschen Verabschiedung waren die beiden wieder verschwunden. Fassungslos schüttelte Eilean ihren Kopf. Wie gut ihre Mutter ihren Vater doch im Griff hatte. Nein, korrigierte sie sich schnell wieder. Sie wusste einfach, wann er überreagierte und erinnerte ihn daran. Dass sie sich nach all den Jahren der Trennung noch immer so gut kannten und verstanden, gab Anlass zur Hoffnung. Es musste einfach gut werden.
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