.:70:. Eine unerwartete kleine Träne
Im ausladenden und prächtig eingerichteten Wohnzimmer angekommen, fiel Ria ihrer Tochter als erstes um den Hals. „Mein Engel, ich bin so froh, dich wiederzusehen. Ich habe dich so vermisst."
Überrumpelt erwiderte Eilean die Umarmung. Zwar hatten sie sich gestern schon umarmt, doch fühlte es sich jetzt anders an. Herzlicher und realer. Bevor ihre Mutter in der Halle aufgetaucht war, hatte sie es noch für einen Traum gehalten. Sie hier und jetzt in den Armen zu halten, bedeutete, dass es real war. Dass sie wirklich wieder da war. Und nicht nur das. Sie war noch immer ein wenig wie früher. „Ich habe dich auch schrecklich vermisst", flüsterte sie tränenerstickt. Sie hatte gedacht, sie auf ewig verloren zu haben. Oft hatte sie neben ihrem Vater gesessen und ihm dabei zugesehen, wie er stundenlang abwechselnd über das Mal seiner Herrschaft und das des Seelenbundes gestrichen hatte. Die Existenz dieses Males hatte auch ihr Hoffnung gegeben, als sie nicht mehr zu hoffen gewagt hatte.
Die Sonne begann langsam zu sinken und tauchte den hell eingerichteten Raum in blasses orangenes Licht, das sich auf faszinierende Weise in den nachtschwarzen Haaren ihrer Mutter brach. Es sah aus, als wären kleine orangene Diamanten darin eingebettet. Wie lange standen sie schon da und umarmten sich? Sie wusste es nicht. Für den Moment hatte sie sämtliches Zeitgefühl verloren.
Irgendwann löste sie sich von ihrer Mutter. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll", gestand sie ein wenig verlegen. „Vermutlich habe ich dir eine ganze Menge zu erzählen, aber für den Moment..."
Ihre Mutter lächelte verständnisvoll. Nach Betreten der Wohnung hatte sie die Illusion fallen lassen, sodass der Blick ihrer Augen wieder stumpf war. „Ich weiß, was du meinst." Ihre Hand tastete nach Eileans. „Dein Vater war dabei, dir eine Geschichte zu erzählen."
Eilean nickte vage. „Ja. Das war das erste Mal seit deinem Verschwinden, dass er von sich aus von dir erzählt hat."
Ria lächelte verstehend. „Ich war zuerst viel zu beschäftigt, um mir Gedanken zu machen. Schließlich musste ich dafür sorgen, dass ihr vor den anderen sicher wart. Aber jeden Abend, wenn ich einen Augenblick der Ruhe hatte, habe ich euch vermisst. Zuerst habe ich mich damit getröstet, dass ihr in Sicherheit wart. Aber mit der Zeit wurde alles ruhiger und ich hatte mehr Zeit, euch zu vermissen." Ihre Miene wurde bekümmernd. „Ich habe jahrelang verzweifelt versucht, zurückzukommen." Ihr fröstelte, als sie sich daran erinnerte, wie sie Eleasar zwar hatte spüren können, aber in ihrer eigenen Welt festgesessen hatte.
Die Verzweiflung und Irritation ihrer Mutter spürend, ließ Eilean sich auf eines der bequemen Sofas sinken. Die wenigen Minuten, die sie sie heute erlebt hatte, hatten ihr klar vor Augen geführt, dass sie mindestens ebenso sehr unter der Situation gelitten hatte, wie sie. Vielleicht noch mehr, wenn sie daran dachte, wie viele Vorwürfe sie sich bislang machte. „Magst du mir die Geschichte eures Kennenlernens erzählen?"
Ihre Mutter strahlte sie geradezu an. Begeistert und mit viel Humor begann sie von ihrem und Eleas ersten Aufeinandertreffen, ihrem Zueinanderfinden, den Trennungen und Wiedervereinigungen zu sprechen.
Als Eleasar wesentlich später als ursprünglich beabsichtigt seine Privaträume betrat, fand er Ria und Eilean zusammengerollt auf Eileans Bett liegend vor. Dieses Bild, Eilean in Rias Armen, erinnerte ihn stark an die Zeit vor ihrem Verschwinden. Sanft mischte er sich in den Geist seiner Tochter ein, damit sie nicht davon wach wurde, dass er ihre Mutter hochhob.
Behutsam bettete er seine Gemahlin in seinen Armen und brachte sie in ihr Schlafzimmer. Nicht minder vorsichtig wechselte er ihre Kleidung und vergrub sie unter ihrer und seiner Decke. Dann machte er sich daran, sich umzuziehen und nebenbei zu überprüfen, ob Rias Kleider wie angeordnet geliefert worden waren. Dank Eileans redseligen Freundinnen hatten bereits heute Abend einige Adlige eine Erklärung verlangt.
Seufzend ließ er sich neben ihr nieder. Er hatte gehofft, mehr Zeit zu haben. Ria bewegte sich im Schlaf, dabei rollte sie sich auf seinen Schoß. Automatisch zog er sie an sich und begann, über ihr Haar zu streichen und sie sanft zu kraulen. Sie war wieder da. Kaum zu glauben, dass er seit ihrem Auftauchen das Gefühl hatte, sie sei gar nicht so lange fort gewesen. Als hätte sich zwischen ihnen nichts geändert. Wäre er nicht Kaiser dieser Welt, hätte er sie sich geschnappt und wäre in ihr Haus am Strand gegangen. Diese Zeit hätten sie gebraucht.
Draußen im Garten brach auf einmal ein Tumult aus. Vermutlich schon wieder Unbefugte, die sich als Mutprobe in den Palastgarten schlichen. Plötzlich schreckte seine Gemahlin auf. Orientierungslos tastete sie umher, fauchte und nahm wieder ihre natürliche Gestalt an. Stumpfe rote Augen, dunkle Schuppenhaut und rauchig anmutende Haare. Ein warnendes Knurren entstieg ihrer Kehle.
Beruhigend zog er sie in seine Arme. „Schon gut, Liebling. Entspann dich, hier bist du sicher."
Ihr Knurren ließ nach, doch sie entspannte sich nicht. Stattdessen sprang sie auf, geriet auf der Matratze ins Wanken und drohte zu fallen.
„Ria!" Er fing sie auf, bevor sie sich ernsthaft verletzen konnte. „Ria, du bist bei mir!"
Schlagartig verschwand ihr neues Aussehen und sie hing kraftlos in seinen Armen. „Es tut mir leid", hauchte sie. Zitternd vergrub sie sich in seinen Armen. „Ich höre immer noch die verletzten und sterbenden Wesen, das Brennen der Häuser und die ganzen Wesen, die sich anschleichen und..." Ein heftiger Schluchzer durchschüttelte sie.
Bestürzt streichelte er immer wieder über ihren Rücken. Er hatte nicht gedacht, dass sie um ihr Leben hatte bangen müssen. Da war es nur allzu verständlich, dass sie so schreckhaft reagierte, wann immer ein unbekanntes Geräusch erklang.
„Hier bist du sicher", flüsterte er ihr liebevoll zu. „Du sollst hier nicht mehr um dein Leben bangen müssen."
Während er sie tröstend in den Armen hielt, ließ er zu, dass ihre Erinnerungen ihn erreichten. Zutiefst erschüttert stellte er fest, dass sie gemeinsam mit Ragnarök und einem Ifrit die gesamte Geisterwelt durchsuchen und unter Kontrolle hatte bringen müssen. Die beiden Wesen hatten sie die Jahre über geschützt und waren ihr zur Seite gestanden. In den ersten zehn Jahren hatte sie das Leben eines Vagabunden geführt, immer auf der Flucht vor möglichen Gefahren. Nirgendwo war sie sicher gewesen. Nach fünfzehn Jahren war ihre Herrschaft gefestigt, weitere fünf Jahre hatte sie damit verbracht, einen Weg zurück zu finden - zu ihnen.
Draußen legte sich der Lärm wieder. Gleich morgen würde er veranlassen, dass mehr Wachen postiert wurden. Angesichts ihrer Rückkehr und Geschichte der letzten Jahre erschien es ihm als notwendige Maßnahme. Vielleicht wurde sie dann ein wenig ruhiger.
Allmählich beruhigte sich auch der Sturm in Rias Innern. Ihr Atem wurde gleichmäßiger, als sie den Weg in einen traumlosen Schlaf fand. Fürsorglich strich Eleasar seiner Frau über die warme Haut. Sie war wärmer als früher. Wärmer und irgendwie verängstigter. Er hoffte inständig, das letzteres darauf zurückzuführen war, dass sie nun blind war und dies hier unbekanntes Terrain. Er konnte es ihr nicht verübeln, schließlich hatte er den gesamten Palast umbauen lassen. Kein Wunder also, dass sie sich hier nicht auskannte. Und selbst wenn alles noch so wäre wie zu Raphaels Zeiten... Zwanzig Jahre waren für ein so junges Wesen wie sie eine lange Zeit. Fast genauso lang, wie sie alt gewesen war, als sie sich dazu entschieden hatte, sie zu retten.
Sie zu retten. Immer wieder ließ er sich diese Worte durch den Kopf gehen. Ria hatte sich geopfert, um ihnen ein Leben und vor allem ein besseres Leben zu ermöglichen. In seinen Augen hatte sie sich sehr viel würdiger erwiesen, über andere zu Herrschen, als viele andere Herrscher. Ihn eingeschlossen. Für ihn war das Herrschen eine Aufgabe, die sein Leben bestimmte. Bei ihr... nun, es war ihre freie Entscheidung gewesen. Sie hätte sich nicht Harus Wünschen fügen oder sie verlassen müssen.
Sanft fuhr er ihre Konturen im schwachen Licht nach. Macht jagte durch ihre Adern. Eine so unvorstellbar große Macht, dass er sich fragte, wie sie es nur aushielt. Hatte man vor ihrem Verschwinden behauptet, sie würde niemals das Ausmaß seiner Kräfte erreichen, war er sich nun sicher, dass sie mindestens ebenso stark war. Unwillkürlich verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. Wenn er sie richtig einschätzte, hatte sie sich nicht sonderlich geändert und würde ihn zu einem Kräftemessen herausfordern, sobald die Umstände sie nicht mehr überforderten.
Auf einmal begann ihre Temperatur zu sinken. Er wollte gerade nach den Heilern rufen, da erschien Ragnarök neben dem Bett. Wie Ria, so hatte sich auch der Schattendrache äußerlich nicht verändert.
„Eleasar." Respektvoll neigte der Schattendrache seinen Kopf. „Es ist lange her."
Er nickte knapp. Ihm lag momentan viel mehr am Wohle seiner Frau als an höflichen Begrüßungsfloskeln. „Ihre Temperatur, liegt das an eurem Bund?" Er musste einfach Gewissheit haben, sonst würde er nicht zur Ruhe kommen können.
Ragnarök lachte leise. „Ja. Unsere Wesen sind eng miteinander verbunden. Ohne einander können wir nicht mehr existieren." Etwas Dunkles schwang in seiner Stimme mit. „Jetzt, wo sie hier ist, möchte ich dich bitten, auf sie Acht zu geben. Ich werde meine Familie besuchen. Beschütze sie. Sie ist stark, aber sie braucht dich." Er löste sich in Rauch auf und verschwand, ehe sein Gegenüber etwas dazu sagen konnte.
Besorgte blickte Eleasar auf seine ruhig schlafende Frau hinab. Jetzt war sie wieder gänzlich ein Wesen dieser Welt. Temperatur und Aussehen hatten sich normalisiert. Er war sich sicher, dass ihre Augen wieder orange waren. Es war schwer gewesen, mitzuerleben, wie sehr sie unter ihren Unsicherheiten aufgrund ihrer Veränderungen litt. Dabei war das Aussehen doch zweitrangig. Nie wäre er auf die Idee gekommen, sie von sich zu weisen, nur weil sie auf einmal anders aussah. Natürlich war es gewöhnungsbedürftig, aber sie war doch immer noch seine Frau. Sein Leben.
Schritte näherten sich, kurz darauf klopfte jemand an die Schlafzimmertür. Nach einem wenig begeisterten „Herein" seinerseits betrat sein Vater den Raum.
Auf leisen Sohlen schlich Marjan ins Zimmer. Der Vampir war bleich wie eh und je. Nur der sorgenvolle Zug um seine Mundwinkel war neu. Gespannt musterte Eleasar seinen Vater. Es konnte nichts Gutes bedeuten, wenn er ihn nachts aufsuchte.
„Wie geht es ihr?" Angespannt musterte der Vampir Rias bleiche, ruhende Züge. Schon einmal hatte er einen ähnlichen Anblick gesehen. Eine Weile hatte Haru ähnlich ausgesehen. Lag es am Ende etwa doch an ihr, dass sein Sohn Kaiser geworden war? Schon bei ihrem kurzen Aufeinandertreffen tags zuvor war ihm aufgefallen, wie viel Power die Kleine hatte. Ihre Aura hatte geradezu vor Macht geknistert. Jetzt war allerdings nur noch ein Teil davon spürbar.
Auf seine Frage hin zog sein Sohn sie noch enger an sich. In den letzten Jahren war Eleasar mental um einige Jahre gealtert. Rias Verschwinden hatte ihn an den Rand des Erträglichen katapultiert. Zuerst hatte es den Anschein gehabt, er wäre kurz davor, zu vergehen. Dann schien er etwas gefunden zu haben, an dem er sich festhalten konnte. Was genau das war, wusste niemand so genau. Sicherlich hatte auch Eileans Existenz einen Großteil dazu beigetragen, dass er sich nicht komplett aufgab. Seit Ria zurück war, war er wie ausgewechselt. Aus dem todernsten Mann war jemand geworden, der wieder lächeln konnte und mit seinen Gedanken abschweifte. Für seine Eltern waren diese kleinen Veränderungen eine unvergleichlich große Erleichterung. Sie würden ihren Sohn wieder zurück bekommen.
„Wenn sie so weiter macht, zerbricht sie an ihren Selbstvorwürfen." Eleasars Lippen streiften Rias Stirn. Die dabei zur Schau gestellte tief empfundene, geradezu elementare Liebe seines Sohnes zu seiner Frau, schnürte dem steinalten Vampir die Kehle zu. Sein Junge hatte ihr schon längst verziehen. Selbst für ihn war es schwer, der blutjungen Frau ihr Verhalten vorzuwerfen. Schließlich war es ihr zu verdanken, dass sich das Blatt zu ihren Gunsten gewendet hatte. Dank ihres Einsatzes hatten ihre Feinde sich nicht mehr zurückziehen und verstecken können. Das Volk feierte sie zurecht als Heldin. Und er? Konnte er ihr vorhalten, dass sie seine Familie verlassen und vor allem seinen Sohn und seine Enkelin todunglücklich gemacht hatte? Immerhin war sie zurückgekehrt, was sie, ihrem Zustand nach zu urteilen, einiges gekostet haben musste. Aram hatte ihn in groben Zügen darüber in Kenntnis gesetzt, was Sache war. Am verwunderlichsten war wohl die Nachricht, dass seine Schwiegertochter erblindet war.
Bekümmert strich Eleasar ihr über die geschlossenen Lider. „Das ist der Preis dafür, dass sie zu uns zurückkommen konnte." Trauer sprach aus seinen Worten. „Sie hatte Angst, wir würden sie aufgrund ihrer Veränderungen nicht akzeptieren." Eine unerwartete kleine Träne stahl sich aus seinen Augenwinkeln.
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