.:67:. Ein bisschen Frieden

Stimmengewirr brandete auf, soweit das Ohr hören konnte.

„Was hat sie?"

„Ist sie wirklich wieder da?"

„Ria?"

„Eleasar, was ist mit ihr passiert?"

Plötzlich packten sie Hände. Unbekannte Hände. Fauchend sprang sie zurück, ihr Herz pochte ihr wild in den Ohren. Das hier war nicht sicher! Jemand hatte versucht, sich zwischen Eleasar und sie gedrängt! Ragna tauchte neben ihr auf, eine tödliche Waffe. Wer auch immer sie angegriffen hatte, er sollte es nicht wagen, noch einmal in ihre Nähe zu gelangen.

Kollektiv wurde Luft eingesogen.

„Ruhe!", donnerte Eleasar so plötzlich, dass sogar sie sich erschrak. Augenblicklich kehrte Stille ein. Kurz darauf erklang das Geräusch behutsamer Schritte. Eleas Schritte. Sie erkannte seinen Gang. „Ria. Ganz ruhig. Komm zu mir."

Sie streckte ihre Sinne nach ihm aus und versuchte herauszufinden, wo genau er stand und ob er alleine war. Er befand sich zwischen ihr und einer kleinen Gruppe Personen. Irgendwie vertrauten Personen. Sicherlich war Adele eine von ihnen. Doch sie jetzt zu suchen, war ein Ding der Unmöglichkeit, wenn sie sich so nahe am Abgrund bewegte, wie jetzt. Sie musste sich in den Griff kriegen. Leider klang das leichter als es war. Sie war einfach zu erschöpft.

„Ria?" Eleasar. Sie konzentrierte sich auf ihn. Konzentrierte sich darauf, dass er ihr Sicherheit geben würde. Sie musste nur zu ihm gelangen. Er war für sie da. Er sorgte sich um sie. Bei ihm war sie gut aufgehoben, denn er vertrieb ihre Albträume. „Komm zu mir, mein Herz."

Sie schickte Ragna zurück und zwang sich, wieder normal zu werden. Das bedeutete, sämtliche Eigenheiten ihres ursprünglichen Wesens zu unterdrücken. Erleichterung machte sich breit. Unwillkürlich fauchte sie diese Idioten an. Die Trennwand zu ihrem eigentlichen Wesen wurde wieder gefährlich dünn.

„Ich sagte, ihr sollt euch zurückhalten", knurrte ihr Mann. Dann fuhr er fort, unendlich viel ruhiger. „Es ist alles gut. Du kennst jeden hier. Komm her und ich stelle sie dir vor."

„Vorstellen?" Adele. Es war nur ein leises Flüstern, jedoch laut genug. „Sie sieht uns doch."

Sehen. Sie würde nie wieder... Ganz plötzlich und ohne Vorwarnung flackerte etwas durch ihr Bewusstsein. Ein Eindruck, ein Bild. Es zeigte Adele, Aram, einen jungen, ihr unbekannten Mann, Marjan und Sara. So schnell, wie das Bild gekommen war, war es auch schon wieder verschwunden. „Siehst du? Du kennst sie." Elea. Er hatte ihr diesen unbezahlbaren Eindruck verschafft. Seine Fürsorge überwältigte sie beinahe. Aber sie musste sich zusammenreißen. Sie konnte nicht noch einmal die Fassung verlieren. „Sie alle freuen sich, dich wieder hier zu haben."

Hinter ihm begann Adele zu schluchzen.

„Elea." Mehr brachte sie nicht heraus, da gaben ihre Beine nach und sie fiel in seine Arme. So viel zum Thema Fassung bewahren, bemerkte ein Teil ihres Geistes trocken.

Fürsorglich strich Eleasar seiner mitgenommenen Frau durchs Haar. Sie brauchte Ruhe, das war unübersehbar. Ruhe und Zeit. „Schon gut. Es ist okay. Ich weiß, dass es anstrengend ist. Ich hätte dich doch nachsehen lassen sollen."

Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem müden Lächeln. „Nein. Es ist gut, wenn sie sich keine Sorgen um mich machen."

Er schnaubte. „Hör mal. Für uns ist es ein Wieder... treffen." Wie er es vermied das Verb sehen zu verwenden. Diese kleine Geste rührte sie zutiefst und sie kam nicht umhin festzustellen, dass sie diesen Mann wirklich abgöttisch liebte. Wie kam es dann nur, dass er dafür sorgen konnte, dass sie sich noch weiter in ihn verliebte? Irgendwann konnte das doch nicht mehr gesund sein. „Für dich hingegen ist es so viel mehr." Sanft glitten seine Hände auf beruhigende Weise ihre Arme auf und ab. Mit den Lippen streifte er ganz leicht ihr Ohrläppchen, als er ihr zuflüsterte: „Ich kenn dich, schon vergessen? Du hast die neuen Begebenheiten als Herausforderung betrachtet und den Schmerz ignoriert. Das alles holt dich jetzt ein." Sein Mund wanderte weiter, bis er ihr einen leichten Kuss auf die Stirn hauchte. „Hier darfst du Schwäche zeigen. Das weißt du."

Eine wohltuende Brise wehte durch ihren Geist und sorgte dafür, dass sie sich entspannte. Er manipulierte sie - und sie ließ es zu. Dankbar lud sie ihm für wenige Augenblicke des Friedens ihren Ballast auf. Nur einmal kurz durchatmen.

„Möchtest du hier bleiben und mit den anderen sprechen oder dich hinlegen?"

Am liebsten wär sie jetzt ins Bett gekrochen, doch die anderen erwarteten bestimmt... Sie kam nicht dazu, ihren Gedanken zu vollenden, da hatte Eleasar sie bereits hochgehoben und die anderen dazu verdammt zu warten, bis sie sich erholt hatte.

Wenig später setzte er sie wieder ab. „Warte hier. Ich hole dir etwas anderes zum Anziehen."

Verloren stand sie in dem ihr unbekannten Raum herum. Sie hörte eine Tür auf und zu gehen, dann ein Geräusch, als würde jemand den Nebenraum auf den Kopf stellen. Eleasar konnte sie deutlich spüren. Endlich wieder, nach all der Zeit. Er war erleichtert, besorgt und glücklich. Gleichzeitig schien sein Beschützerinstinkt ungewöhnlich stark ausgeprägt. Hoffentlich stand das nicht irgendwann zwischen ihnen. Sie musste doch nur lernen, wie sie ihre Sinne einzusetzen hatte, dann würde sie auch hier problemlos zurechtkommen. Um ihm zu beweisen, dass sie nicht ganz so hilflos war, wie er jetzt vielleicht annehmen mochte, begann sie ihre Umgebung zu erkunden. Sie fand ein großes Bett, Nachtschränkchen und eine Kommode. Mehr nicht. Bedacht setzte sie einen Fuß vor den anderen. Hm, Elea hatte immer die Seite an der Tür bevorzugt. Hier war das die... rechte. Dann würde sie mit der linken Vorlieb nehmen.

Vorsichtig befühlte sie die Matratze. Ganz schön weich. Waren die Betten hier alle so? Sie erinnerte sich nicht mehr. In den vergangenen Jahren hatte sie in ihrer Astralgestalt geschlafen. Ob sie sich hier verwandeln sollte? Immerhin konnte sie dann einigermaßen gescheit die Nacht verbringen. Was Eleasar wohl dazu sagen würde, wenn neben dem Bett ein kleiner Drache schlief? Eleasar. Ihr Atem stockte. Ob er...? Konnte er das von ihr wollen? Konnte sie es ihm geben? Sie wusste es nicht. Ihre Abwesenheit hatte den Großteil der Karten komplett neu gemischt.

„Hier. Es ist zwar nur eines von meinen Oberteilen, aber es sollte vorerst genügen. Morgen lasse ich deine Sachen herbringen."

Sie wusste, dass er vor ihr stand, denn sie hatte neben seiner Stimme auch seine Schritte vernommen. Was sie nicht genau sagen konnte war, was er da in der Hand hielt. Seiner Aussage nach musste es eines seiner Shirts sein. Die hatte sie früher so gerne getragen, daran konnte sie sich noch gut erinnern. Es hatte ihr anfangs jedes Mal belustigte Bemerkungen eingebracht, bis er es akzeptiert zu haben schien, dass sie sich an seinem Kleiderschrank bediente. Ein wenig befangen versuchte sie, die Verschlüsse ihrer Kleidung zu lösen. Mittlerweile wusste sie die Dienste eines Ankleidemädchens durchaus zu würdigen. Meistens war es in der Astralebene leicht gewesen, sich zu kleiden. Sie hatte sich nur vorstellen müssen, was sie tragen wollte. Das war der Vorteil, wenn der Geistgefährte eine variable Form hatte. Hier in dieser Welt war die Kleidung plötzlich real geworden, wie sie mit riesiger Erleichterung festgestellt hatte. Ihre Mundwinkel zuckten zu einem belustigten Lächeln, als sie sich vorzustellen versuchte, wie die beiden reagiert hätten, wäre sie nackt vor ihnen erschienen.

Noch immer in sich hinein lächelnd machte sie sich an ihrer Kleidung zu schaffen. Sie war sich sicher, dass das, was sie nun veranstaltete auf Außenstehende extrem unbedarft wirken musste. Für sie war es jedoch eine gewöhnliche Sache. Sie sah durch ihre Hände. Daher musste sie auch unbedingt Eleas und Eileans Gesichter abtasten. Sie musste einfach wissen, ob ihr Mann sich verändert hatte und was aus ihrer Kleinen geworden war.

„Warte." Federleicht legten sich seine Hände auf ihre. „Lass mich dir behilflich sein."

Sie erstarrte. Was, wenn mehr dahinter steckte, als der bloße Wunsch ihr zu helfen?

Er seufzte leise. „Du solltest mich gut genug kennen."

Ertappt biss sie sich auf die Lippe. Der war ja immer noch in ihrem Kopf. Daran musste sie sich erst wieder gewöhnen.

„Mit der Zeit." Beruhigend langsam machte er sich an den Verschlüssen zu schaffen. „Wie hast du das bloß angezogen?"

Unwillkürlich brach sich ein belustigtes Grinsen Bahn. Mit Vorliebe hatte sie sich drüben in ihre geliebte Gothik-Kleidung gehüllt. Für sie war das einfach Arbeitskleidung. Okay, nicht direkt, aber sie mochte sie noch immer. Bevor sie ihr Augenlicht hatte hergeben müssen, hatten sie und Ragna mit Freuden neue skurrile Varianten entworfen. In irgendeine von diesen hatte ihr Drache sie gesteckt, ehe sie die Ebenen seit Ewigkeiten das erste Mal wieder gewechselt hatte. „Gar nicht. Ragna war's."

Er hielt inne, offenbar irritiert. „Er kann dir unmöglich geholfen haben."

Sie wusste, was er damit sagen wollte. Der Drache verfügte nicht über die physischen Merkmale, um das fertig zu bringen. „Eigentlich hatte ich erwartet, mehr oder weniger nackt vor euch aufzutauchen." Auf seine Reaktion lauernd hielt sie inne. Sehr zu ihrem Bedauern ließ er sich nichts anmerken - Spielverderber. Um nicht in völliger Stille zu versinken, erzählte sie ihm ein wenig von ihrer Welt. Aufmerksam lauschte er ihren Ausführungen, während er ihr beim Umziehen half, als wäre sie ein kleines Kind. Dabei musste sie zugeben, dass es ihr irgendwie gefiel, so von ihm umsorgt zu werden.

Als er fertig war, krabbelte sie wahrscheinlich ein wenig unbeholfen unter die Bettdecke. Was für ein herrlich warmes und weiches Gefühl. „Wenn ich nicht nur in schwarzer Kleidung durch die Gegend rennen soll, brauche ich jemanden der mir beim Auswählen und Anziehen hilft. Zumindest fürs Erste. Was das Auswählen angeht... Nun, ich denke, da war ich schon immer ein wenig verloren."

Sie hörte sein tiefes, beruhigendes Lachen und entspannte sich ein wenig mehr. Jetzt, nach zwanzig Jahren war es ihr endlich gelungen, nach Hause zurückzukehren. Zu ihrer Familie. Zum ersten Mal seit Langem machte sich innerer Frieden in ihr breit.

„Das werden wir schon hinkriegen. Soll ich jemanden vom Personal abbestellen oder möchtest du, dass Adele dir hilft?"

Adele. Beim Namen ihrer ehemals besten Freundin wurde ihr ganz anders. „Meinst du, sie hasst mich?"

Sein scharfes, entrüstetes Einatmen war nicht zu überhören. „Nein", kam es entschieden von ihm. „Adele hat versucht, dich uns nahe zu halten. Wann immer wir nicht weiter wussten, hat sie uns an dich erinnert."

Das hatte ihre Freundin getan? Sie musste sich unbedingt bei ihr bedanken. Für alles. Plötzlich überkam sie das Bedürfnis nach Nähe. „Elea?"

Er sagte nichts, doch konnte sie spüren, dass sie seine volle Aufmerksamkeit hatte. „Magst du dich zu mir legen? Ich mag jetzt nicht allein sein."

Stille. Dann erklang das Rascheln von Kleidung. Er zog sich um. „Natürlich. Mein Vater kann den Laden ebenso schmeißen."

Deine Worte kratzten an etwas in ihrer Erinnerung. Es war etwas, was Ifrit ihr erzählt hatte. „Stimmt ja, du bist Kaiser. Was ist mit Raphael passiert?"

„Morgen", entgegnete er sanft und legte sich neben sie. Dass er sie in die Arme zog, wirkte nicht im Mindesten unangebracht. Endlich fühlte sie sich wieder wohl und geborgen. Zuhause. Die zwanzig Jahre Wartezeit hatten sich gelohnt.

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