.:66:. K.O.-Stelle entdeckt
Sie spürte eine Bewegung nahen, dann strich eine Hand sacht über ihren Rücken. Eleasar. Ihr Mann. Ein Zittern durchfuhr sie und sie spürte, wie er sie in seine Arme zog. Viel zu lange hatte sie darauf verzichten müssen. Viel zu lange hatte sie in Angst davor gelebt, was sie über ihre Erscheinung sagen würden und darüber, dass sie nicht mehr die war, die sie verlassen hatte. Diese Angst beherrschte sie noch immer, obwohl ihre engsten Lieben ihr gerade zu verstehen gegeben hatten, dass sie sie um ihretwegen liebten und nicht von sich stoßen würden. Aber dennoch. Sie waren nicht die einzigen, denen sie wieder gegenübertreten musste.
„Scht." Seine andere Hand fand den Weg zu ihrer Wange. Äußerst behutsam ließ er seine Fingerspitzen über ihre Haut gleiten. Als ob er sie zerbrechen könnte. „Nicht, Ria." Er klang beinahe hilflos. „Du bist wieder hier, es wird alles gut."
Wie gerne sie ihm glauben würde. Nichts war gut.
Eleasar atmete tief durch. Ria so durch den Wind zu sehen, ließ ihn ganz gewiss nicht kalt. Seine Frau war einem ernsthaften Zusammenbruch nahe, das spürte er nur allzu deutlich. „Wir gehen zurück."
„Das ist eine gute Idee", stimmte Eilean mit ruhiger Stimme zu. Sie verstand, dass ihre Eltern Zeit miteinander verbringen mussten. Später konnte sie immer noch zu ihnen stoßen. Obwohl sie wusste, dass es das Richtige war, hatte sie dabei ein mulmiges Gefühl im Magen.
Das ist die richtige Entscheidung, flüsterte Ceres ihr aufmunternd zu. Sie lieben dich beide und wenn sie ihre Gefühle sortiert haben, werden sie zu dir kommen.
Erschrocken zuckte Ria zusammen. Ihr war kurzfristig entfallen, dass sie hier zu dritt waren. Wie konnte sie nur ihre Tochter vergessen?
„Scht." Mit sorgenvoller Miene strich Eleasar ihr ein weiteres Mal sanft über die Wange. „Komm, ich bringe dich nach Hause. Da sind wir ungestört. Eilean findet alleine zurück."
Ria spürte, wie ihre Tochter ihren Oberarm drückte und anschließend verschwand, konnte aber nicht verhindern, dass sich ein bitteres Lachen aus ihrer Kehle stahl. Sie fühlte sich momentan fast überall ungestört. Die Hand an ihrer Wange wurde fortgenommen. Dann wurde sie vollends an Eleasars Brust gedrückt. Sie wusste was kam. Doch wie sollte sie sich nun darauf vorbereiten?
„Halt!" Panisch klammerte sie sich an seine Kleidung. Was für ein herrlich weicher Stoff das war. Wie er darin wohl aussah? Trauer schwappte über sie hinweg, als sie sich daran erinnerte, dass sie ihn nie wieder würde sehen können.
Er hielt inne. „Ich bringe dich nur nach Hause."
„Du benutzt die Portale", brachte sie schwach hervor. „Ich... ich weiß nicht, ob ich dann wieder nach ... also..." Sie schluckte schwer. „Ich..."
Er schien ihre Not zu verstehen, denn sie konnte spüren, wie er nickte. „Okay. Wir sind in der Nähe von Vaters Schloss."
„Vampire." Erschrocken sprang sie ihm fast in den Arm. „Nein, nicht jetzt."
Über ihre mentale Verbindung spürte sie, wie er krampfhaft überlegte, was er jetzt tun konnte. Sie wusste zwar nicht, welche Auswirkung die Portalreisen auf ihre Gegenwart in dieser Ebene hatten, doch konnte sie ihm eine andere Möglichkeit anbieten. Auf diesem Wege würde sie sicher zurückkehren können. „Entfernung und Richtung des Schlosses. Am besten in Luftlinie." Es kostete sie einiges an Kraft, jetzt nicht zu einem Häufchen Elend zusammenzuschrumpfen. All den Kummer und den Schock über ihr verlorenes Augenlicht hatte sie in der Geisterebene einfach verdrängt. Doch jetzt, wo sie wieder bei ihm war, wo sie sich geborgen fühlte, da drohte alles auf einmal über sie hereinzubrechen.
Eleasar zögerte, schien abzuschätzen. Schließlich nannte er ihr die gewünschten Informationen.
Tief durchatmen, erinnerte sie sich. Dann rief sie nach Ragna. Ihr treuer Begleiter erschien sofort in ihrem Geiste. Sanft aber bestimmt löste sie sich von ihrem Mann und trat einen Schritt zurück. Dabei hob sie mahnend eine Hand. „Ich brauche ein wenig Abstand." Sobald sie sich sicher war, dass er verstanden hatte, ließ sie alle Barrieren fallen und verschmolz mit ihrer zweiten Wesenshälfte zu dem, was sie war. Schlagartig öffnete sich nun auch ihr Reich vor ihren Augen. Einige anwesende Geister wandten sich ihr zu, als schienen sie eine Anweisung zu erwarten. Mit einem Kopfschütteln wies sie sie an, wieder ihrem Geschäft nachzugehen. Danach zwang sie ihre Aufmerksamkeit auf die andersweltsche Ebene zurück. Zu Eleasar. „Vertraust du mir?" Während sie sprach, verfluchte sie ihre unsichere Stimme. Nicht mehr lange, und sie war am Ende ihrer Selbstbeherrschung angelangt.
Über ihre Verbindung spürte sie, wie er ein wenig lächelte. Wie gerne sie es sehen würde. Aber nicht nur das Lächeln spürte sie, sondern auch noch etwas anderes. Etwas, das sie ziemlich aus der Bahn warf. Seine Bereitschaft, sich ihr nach all der Zeit schonungslos auszuliefern, ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Und das einfach so. Nach zwanzig Jahren Trennung.
Ragnarök lachte leise. Ihr liebt einander auf einer extrem elementaren Ebene. Du wärst nicht fähig, ihn zu hintergehen.
Wieder einmal hatte der Schattendrache recht. Erschrocken fuhr sie zusammen, als jemand - Elea - ihre Hand umfasste. „Ich vertraue dir."
Tränen der Rührung brannten in ihren Augen und bahnten sich ihren Weg über ihre Wangen. „Dann lass mich dich nach Hause bringen." Das war ihr allemal lieber als von ihm teleportiert zu werden. Noch konnte sie nicht einschätzen, was das mit ihr machte.
„Muss ich etwas tun?"
Ihre Mundwinkel verzogen sich automatisch zu einem belustigten Lächeln. „Ich würde mich ja für eine deiner ersten Reisen mit mir revanchieren, aber dazu fehlt es mir wohl noch an Fingerspitzengefühl." Damals hatte er sich einfach mit ihr fallen lassen - und sich anschließend an ihrem Schrecken amüsiert, nachdem sie sicher auf seinem Bett gelandet. „Wehr dich nicht gegen das, was geschieht."
Eine Weile sagte er gar nichts, dann räusperte er sich plötzlich und sagte mit leicht belegter Stimme: „Okay." Er hatte wohl genickt und vergessen, dass sie es nicht mehr...
Hastig schluckte sie ihre Tränen runter und wandte sich wieder ihrem Vorhaben zu. Sanft und sehr bedacht löste sie ihren Mann aus seiner Ebene und zog ihn mit sich. Sie spürte seine fassungslose Überraschung, als er die Veränderungen um sich herum wahrnahm. Sie wusste, was er sah. Ihr eigenes Reich konnte sie mit ihren verbliebenen Sinnen so gut erfassen, dass es keinen großen Unterschied machte, ob sie es sah oder nicht. Sie befanden sich auf einer großen, dunkelroten Steppe. Weiter hinten verschwand das Gras und ein Ausläufer der Wüste begann. Sobald sie sicher war, dass ihr Liebster diese Eindrücke in sich aufgenommen hatte, überließ sie ihren Körper Ragnarök - ihrer zweiten Wesenshälfte. Neben ihr spannte Eleasar sich unwillkürlich an. Sie konnte es ihm nicht verdenken, schließlich stand er plötzlich einer menschengroßen Ausgabe eines Schattendrachen gegenüber.
Liebevoll stupste sie ihm mit ihrer Schnauze in die Seite. „Ich dachte, du würdest dich mit allem arrangieren", versuchte sie, ihn zu necken.
Vorsichtig trat er an sie heran und ließ seine Hand über ihre Schuppenhaut wandern. Dann, ohne Vorwarnung, begann er sie unter ihrem Kinn zu kraulen. Das fühlte sich verboten gut an. Willenlos sackte sie schnurrend auf dem Boden zusammen.
„Oh", war das einzige was er dazu sagte.
Hastig rappelte sie sich wieder auf. Wie peinlich. „Entschuldige. Du hast mich auf dem falschen Fuß erwischt."
Er lachte leise. „Wohl eher an der falschen Stelle."
Gespielt drohend bleckte sie ihre Zähne. Sie wusste, dass es eindrucksvoll wirkte. Vielleicht nicht ganz so gruselig, wie bei Ragna, aber auch nicht ohne. „Halt dich fest. Ich fliege nicht, aber du musst dich trotzdem festhalten."
Er tat, wie ihm geheißen. Seine Hand lag verdächtig nahe der frisch entdeckten K.O.-Stelle. Wenn er es auch nur wagte, sie damit gefügig zu machen, würde er sich eine fangen. Mit einem warnenden Knurren konzentrierte sie sich auf ihre Welt und auf den Ort, an den sie wollte. Im Zeitraffer raste ihre Umgebung an ihnen vorbei. Neben ihr konnte sie Eleasar nach Luft schnappen hören. Ha!
Als sie spürte, wie ihr Ziel nahte, verlangsamte sie das Tempo. Das ganze konnte nicht länger als drei Sekunden gedauert haben, aber irgendwie wirkte ihr Mann recht mitgenommen. Nun, wirklich verübeln konnte sie es ihm wohl nicht. Sie hatte auch einen riesen Schrecken bekommen, als sie das erste Mal auf diese Weise gereist war. Das war nichts für schwache Nerven.
In stummem Einverständnis trennten Ragna und sie ihre Wesen, sodass sie wieder auf die andere Ebene wechseln konnte.
Sanft umschloss sie Eleasars Hand mit ihrer. „Gib mir ein paar Sekunden, dann suche ich uns einen ungestörten Ort."
Beruhigend drückte er die ihre. „Es ist okay. Ich übernehme ab hier. Du bist kaum noch in der Lage, dich selbst aufrecht zu halten."
Wie konnte er sie nur immer noch so gut kennen? Es war, als hätte es die vergangenen Jahre fast nicht gegeben. „Okay." Entschieden löste sie sie aus der Astralebene. Sehr zu Eleasars Überraschung landeten sie quasi direkt im Thronsaal. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Art zu reisen so effektiv war.
Kurz nach ihrem Auftauchen im Palast sah Ria sich einer ganzen Menge von Sinneseindrücken ausgesetzt. Erstickte Schreie ertönten, was sie wiederrum in höchste Alarmbereitschaft versetzte und ihren Herzschlag erhöhte, dann wurde sie plötzlich an Eleasars Brust gedrückt.
„Gebt ihr Zeit", fauchte ihr Mann und schirmte sie mit seinem Körper ab.
„Ria!" Das war Adeles Stimme, soweit sie sich erinnerte. Hatte sie schon immer so weich geklungen? Oder waren es nur ihre anders entwickelten Sinne, die ihr diesen Umstand vor Augen führten? Was hatte sich noch an ihren Lieben geändert? Nun verabschiedete sich auch noch der letzte Rest ihrer Selbstbeherrschung. Hemmungslos schluchzend brach sie in den Armen ihres Mannes zusammen. Es war einfach zu viel.
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