.:65:. Paroli für den Kaiser

Einige Zeit später saßen sie gemeinsam an einem nahegelegenen See und beobachteten, wie Ragnarök und Ceres miteinander spielten. Ria lag in seinen Armen. Er konnte es noch immer kaum fassen, dass sie endlich wieder da war. Und doch war etwas anders. Sie war anders. Er konnte es spüren. Die Art, wie sie sich bewegte und wie sie sich umsah. Raubtierhaft. Und mächtig. Viel stärker als zuvor. Ihr ganzes Wesen sang geradezu vor Macht. Auch, wenn sie es gut zu verstecken wusste.

„Ich weiß. Ihr wollt wissen, was geschehen ist", begann sie in traurigem Tonfall. Über ihre Verbindung konnte er ihren Schmerz spüren. Vereinzelte Eindrücke erreichten ihn ebenfalls. Darunter waren Szenen, in denen sie geradezu in Blut badete. Bestürzt zog er sie enger an sich. Was um alles in der Welt hatte sie durchleben müssen? Und vor allem: was hatte es mit ihr gemacht? Sie war Gewalt und Grausamkeit bis zu einem gewissen Maß gewohnt, aber das, was er gesehen hatte, war eine ganz andere Dimension.

„Du warst zwanzig Jahre fort", entgegnete er schwach. Zwanzig Jahre, in denen er nur für Eilean gelebt hatte und für die Hoffnung, sie einmal wieder in seinen Armen zu halten. Wenigstens ein letztes Mal. Und nun, wo dieser Augenblick endlich gekommen war, konnte er es noch immer nicht ganz fassen.

Er spürte, wie Schuldgefühle sie überrollten. Ihre Worte waren kaum mehr als ein zartes, zittriges Hauchen, als sie sagte: „Es war der einzige Weg, euch zu retten." Sanft strich sie ihm übers Kinn. „Ihr habt mir gefehlt." Ihre Stimme brach und sie kuschelte sich Halt suchend an ihn. Wenigstens das zwischen ihnen hatte sich nicht geändert. Natürlich würden sie einige Dinge neu lernen und umstellen müssen, aber die Grundfesten schienen noch immer dieselben zu sein. Vor Erleichterung darüber brannten ihr die Tränen in den Augen.

„Was ist geschehen?"

Sie musste tief durchatmen, ehe sie antwortete. „Wir haben zwar die Anhänger ausgeschaltet, aber die Unruhen hätten sich nicht gelegt." Zornig ballte sie ihre Hände zu Fäusten. Das, was diese Größenwahnsinnigen getan hatten, war unverantwortlich gewesen. „Diese Narren haben Wesen entfesselt, die das Gleichgewicht zwischen den Ebenen zu kippen drohten." Ihre Augen blickten in die Ferne, als sie sich an die vergangenen Jahre erinnerte. Diese Zeit war alles andere als einfach gewesen. „Es war ein Handel. Euch sollte nichts geschehen und ich... ich hatte das zu beenden, was Haru zuletzt vor Jahrtausenden fertig gebracht hat."

Eleasar erinnerte sich an etwas, was Raphael ihm kurz nach ihrem Verschwinden erzählt hatte. Vor seinem endgültigen Verschwinden hatte der Altkaiser ihm gegenüber das Geheimnis um seine Hinterlassenschaft gelüftet. „Das war also Harus Erbe?"

Ria deutete auf Eleasars Unterarm. Dorthin, wo das Zeichen seiner Herrschaft zu finden war. Es zeigte einen Vollmond, umgeben von einem Drachen, dessen Schwanzspitze Ähnlichkeit mit Ceres aufwies. „Du herrschst über diese Ebene, ich mitunter über die der Geister. Die letzten Jahre", sie schluckte schwer, „habe ich damit zugebracht, meinen Teil des Handels zu erfüllen und das Reich kennenzulernen. Danach habe ich versucht zu euch zurück zu kommen." Ein Zittern durchfuhr ihren Körper und sie löste sich aus seiner Umarmung. Ihr graute vor dem, was sie jetzt tun musste. Doch es zu verschweigen, das stand für sie außer Frage. Sie mussten es wissen. Mit einer geschmeidigen Bewegung stand sie auf und ging ein paar Schritte weit. Ihre zarten Schultern hoben und senkten sich, als sie tief durchatmete. Elesasar konnte ihre ängstliche Anspannung spüren. Zugleich war er sich sicher, dass es nichts gab, was ihn dazu bewegen konnte, sich von ihr abzuwenden. Sie gehörten nun einmal unwiderruflich zueinander.

Wieder war da diese Brise, die schon ihre Ankunft angekündigt hatte. Zeitgleich schnappte seine Tochter neben ihm nach Luft. Er konnte es ihr nicht verübeln. Schwarzer Rauch hüllte Ria ein. Das war so weit nichts Ungewöhnliches. Dass ihre Haut plötzlich den Rauch absorbierte und sich schwarz färbte, hingegen schon. Ihre Haare begannen in dieser unnatürlichen Brise ein wenig zu tanzen, bis die einzelnen Strähnen verschwammen und nun Rauchschwaden ähnelten. Ihr Gang zeugte nunmehr gänzlich von einer Raubkatze - elegant, aber gleichzeitig tödlich und effizient. Dessen konnte er sich überzeugen, als sie sich zögerlich umdrehte. Erst da erkannte er, dass ihre Haut nicht nur schwarz war, sondern sogar leicht schuppig. Ihre Fingernägel waren Krallen und ihre Hände erinnerten vage an Klauen. Es schien, als wäre sie mit ihrem Drachen verschmolzen. Wahrscheinlich war auch genau das der Fall.

Eileans ersticktes „Sie ist blind", ließ ihn alarmiert aufspringen. Bei den Worten ihrer Tochter hatte seine Frau ihren Blick gesenkt und starrte nun zu Boden. Sie schämte sich doch nicht etwa? Mit krauser Stirn horchte er auf ihr Band. Was er dort fand, war ein ganzer Gefühlscocktail. Da waren Angst, Trauer, Reue und Scham. Er wollte nicht, dass sie sich so fühlte. Entschlossen trat er vor sie, legte seine Hand behutsam unter ihr Kinn und hob es leicht an. Ihre Augen hatten sich ebenfalls verändert. Sie waren jetzt nicht mehr orange, sondern rot. Und stumpf. Sein Engel hatte recht. Ria konnte nichts mehr sehen. Bestürzt schloss er sie in seine Arme, woraufhin sie ihre Hände sehr langsam anhob und sie auf seine Arme legte. Sie zitterte unglaublich stark.

„Es ist in Ordnung, Liebste. Es ist okay. Ich bin so glücklich, dich wieder bei mir zu haben." Wie ein Mantra flüsterte er ihr diese Worte ins Ohr. Niemals wieder würde er sie gehen lassen. Niemand konnte ihn dazu bewegen.

Nach einigen Minuten legte sich ihr Zittern und sie sank erschöpft gegen seine Schulter. „Ich konnte euch spüren, aber nicht finden." Ihre Stimme bebte vor unterdrückten Gefühlen. „Ich hatte solche Panik. Der einzige Weg, zu euch zurückzukehren war, herauszufinden, wie ich wieder ich werden konnte." Noch während sie sprach, begann ihre Haut zu rauchen. Eine Minute später war sie wieder normal und Ragnaröks großer Drachenkörper erschien hinter ihr.

„Ria ist zu mächtig. Wir mussten einige Gefallen einfordern, bevor wir herausfinden konnten, wie wir wieder ganz in diese Ebene wechseln konnten", begann der Drache die Geschichte fortzuführen. „Der Preis war ihr Augenlicht."

Ihr Augenlicht? Das war nicht nur auf ihre rotäugige Form beschränkt? Ihre orangenen Augen waren doch gerade noch klar gewesen. Irritiert hob Eleasar erneut ihr Kinn an. Jetzt war selbst das strahlende Orange getrübt.

„Eine Illusion", erklärte Ragnarök sofort. „Um euch nicht zu überfordern."

„Das macht dich nicht weniger liebenswert", erklärte er sofort und strich seiner Frau sanft über die Wange. Da erst bemerkte er die Tränen. „Ich werde deine Augen sein, wenn du welche brauchst", versicherte er ihr.

Betreten sah Eilean beiseite. Das war eine Angelegenheit ihrer Eltern. Solch intime Momente musste sie nicht bezeugen. Unauffällig zog sie sich ein Stück zurück. Sie musste erst einmal verarbeiten, was passiert war. Ihre Mutter war wieder da. Fassungslos schüttelte sie ihren Kopf. Das war zu fundamental, um es in den wenigen Augenblicken zu verarbeiten, die sie nun schon wieder bei ihnen war. Sie war wieder da - und blind. Änderte das etwas? Für sie nicht. Aber die Tragweise dessen würde sie mit Sicherheit erst noch erfahren. Ihr Blick wanderte zu ihren Eltern, die einander noch immer im Arm hielten. All die Jahre über war ihre Mutter in der Ebene gewesen, die auch sie einmal würde betreten können. Ceres hatte ihr davon abgeraten, es zu versuchen. Ob die Cait Sith es gewusst hatte? War es das gewesen, was sie ihr gestern hatte sagen wollen? Dass ihre Mutter endlich dazu in der Lage war, zurückzukehren?

Es war ihre Entscheidung zurückzukehren. Ceres materialisierte sich neben ihr. Aus ihren weisen Augen musterte sie sie eindringlich. Du solltest ihr keinen Vorwurf daraus machen, dass sie euch hat retten wollen. Ragna sagt, sie hat über all die Jahre hinweg immer wieder versucht, mit deinem Vater in Kontakt zu treten. Wer weiß, wie viel er wusste.

Ihr Vater? Nachdenklich wanderte ihr Blick zu ihren Eltern. Es würde zu ihm passen nichts zu sagen, solange er keine konkrete Bestätigung hatte. War das der Grund gewesen, weshalb er nicht aufgegeben hatte? Oder hätte er auch für sie überlebt?

Ceres ließ ein giftiges Fauchen hören. Du hast sie nicht mehr alle! Natürlich hat er für dich gelebt! Er ist nicht halb so selbstsüchtig, wie du ihn gerade darstellst.

Ihre Worte lösten ein schlechtes Gewissen in ihr aus. Wahrscheinlich tat sie ihrem Vater wirklich Unrecht, indem sie das von ihm annahm. Um sie zu retten, war ihre Mutter fortgegangen. Sie erinnerte sich noch an diesen Tag. Damals hatten die bösen Leute sie entführt. Ihre Mutter war gerade noch rechtzeitig aufgetaucht, um Schlimmeres zu verhindern. Sie hatte sie gerettet, sie mit ihrem Leben geschützt. Dann waren da ihre Großeltern gewesen und ihr Papa. Ihr Papa, der, als sie ihn das nächste Mal gesehen hatte, so schrecklich bleich gewesen war. Danach hatte sie ihn etwa zwei Monate lang nur sporadisch gesehen. Die Stimmung damals war bedrückend gewesen, obwohl wieder Frieden eingekehrt war. Überall hatten die Leute auf den Straßen gefeiert. Überall. Nur im Palast hatte eine so bedrückte Stimmung geherrscht, dass es nicht auszuhalten gewesen war. Deshalb hatte ihr Papa sie zu Opa, Oma, Onkel Aram und Tante Adele geschickt.

Und jetzt war sie wieder da. Die Frau, die all ihren Lieben diesen schier endlosen Kummer bereitet hatte. Die Frau, die ihr die kostbarsten Erinnerungen ihres Lebens geschenkt hatte. Konnte sie ihr das plötzliche Verschwinden verzeihen? War es grausam und ungerecht von ihr so etwas zu denken? Sie war ihre Mutter. Sie hatte ihr das Leben geschenkt und es gerettet. Sie hatte sie zum Lachen und Ceres mit nach Hause gebracht und ihr viele fantastische Geschichten erzählt. Aber sie hatte sie auch alleine gelassen. Und sie hatte ihren Papa unglücklich gemacht. Niemand durfte ihren Papa unglücklich machen.

Eine plötzliche Bewegung vor ihr brachte sie zurück in die Gegenwart. Ihre Eltern standen vor ihr. Mit einem unsicheren Lächeln streckte ihre Mutter langsam die Hand nach ihr aus. Das Lächeln konnte die Trauer nicht ganz aus ihrem noch immer hübschen Gesicht vertreiben. „Du hast alles Recht der Welt, mich zu hassen."

Sie konnte sehen, wie viel Kraft es ihre Mutter kostete, diese Worte auszusprechen. Sie spürte ebenfalls, wie nahe sie daran war, zusammenzubrechen. Das hier war nicht nur für sie schwer. Sie war ebenso unsicher und auch ein wenig überfordert, wie ihre Mutter es war.

Bevor sie etwas sagen konnte, gab ihr Vater ein ungehaltenes „Nein!" von sich. Der böse Blick, den er sich daraufhin einfing, hatte es in sich. Mit einem Mal musste Eilean schmunzeln. Schon lange hatte niemand mehr ihrem Vater Paroli geboten. Die meisten sahen in ihm nur den armen Mann, der seine Frau verloren hatte. Ein wenig verloren wirkend streckte ihre Mutter ein weiteres Mal die Hand nach ihr aus. Dieses Mal hatte es den Anschein, als wollte sie ein Geschäft abschließen. Oder sich vorstellen. „Ich...", begann sie schwer schluckend, „ich weiß, dass ich das mit der Mutterrolle versaut hab." Sie holte tief Luft, als wollte sie sich wappnen. „Ich bin mir auch durchaus bewusst, dass du denkst, ich werde dir deinen Vater ein Stück weit nehmen." Prompt begann besagter Vater zu widersprechen, wurde jedoch mit einer entschiedenen Handbewegung erneut zum Schweigen verdammt. Mit einem traurigen Lächeln fuhr ihre Mutter fort. „Immerhin hattest du ihn eine ganze Weile für dich." Die ausgestreckte Hand verschwand, als sie sich durch die schwarze Haarmähne fuhr. Wie ihr Vater, wenn er nicht weiter wusste. Früher hatte er das auch gemacht, wenn er mit seinem Latein am Ende gewesen war. „Ich mache dir einen Vorschlag. Nein, eigentlich ist es ein Friedensangebot. Oder besser gesagt, die einzige Möglichkeit, die ich für uns beide sehe, miteinander auszukommen." Gespannt wartete Eilean auf das, was ihre Mutter ihr vorzuschlagen hatte. „Ich möchte dir anbieten, dass wir Freundschaft schließen." Ein traurig-hoffnungsvolles Lächeln erhellte ihre wunderschönen Züge, als sie ihr wieder die Hand hinhielt. „Du darfst mich auch Ria nennen."

Sprachlos starrte sie die zarte Hand ihrer Mutter an. Sie bot ihr quasi Absolution und einen Neuanfang an. Ein ersticktes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, als sie ihrer Mutter ein weiteres Mal um den Hals fiel. Sie war so zierlich - fast einen halben Kopf kleiner als sie selbst. „Mama." Für ein so zierliches Persönchen hatte es die Umarmung ihrer Mutter wirklich in sich. „Ich hab dich vermisst."

„Ich dich auch, mein Engel. Ich dich auch." Es gelang Ria nicht, ihre freudige Überraschung und große Erleichterung zu verbergen. Und das war gut so. Es erfüllte Eilean ebenfalls mit Erleichterung und ermöglichte es ihr, sich wirklich aufrichtig zu freuen. Trotz der langen Zeit der Trennung würde alles wieder gut werden. So musste es einfach sein. Ein weiteres Paar Arme schloss sich um sie. Es waren die von ihrem Papa. Glücklich schloss sie ihre Augen. Egal was passierte, er würde auf sie Acht geben.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top