.:64:. Eine Spur aus Erinnerungen

Aufmunternd klopfte sie ihm auf die Schulter. „Na, dann suchen wir hier nach Mamas Spuren."

Sie hatte eine Spur zu laut gesprochen, sodass sich einige Leute umdrehten. Vor Ehrfurcht erstarrten sie. Gemurmel wurde laut und kurz darauf bildete sich eine Gasse, die bis nach vorne führte, wo sich ein kleines Denkmal für ihre Mutter befand. Für die, die es noch nicht mitbekommen hatten, sagte jemand laut: „Seine Majestät, der Kaiser."

Eilean konnte ihren Vater lautlos seufzen hören, bevor er seine Schultern straffte und sie nach vorne zur Gedenkstätte führte. Nachdem er die Inschrift eingehend gemustert hatte, drehte er sich um und verneigte sich vor den versammelten Leuten. „Wir fühlen uns zutiefst geehrt."

Als die Menge stumm blieb, zeichnete sich erneut der Anflug eines Lächelns auf seinen Lippen ab. „Sieht so aus, als wäre es dieses Mal an uns, das Volk zu überraschen."

Seine Bemerkung wunderte Eilean. Wo kam denn dieser plötzliche Anflug von Humor her? Er weiß, dass Dinge im Umbruch sind, meldete sich Ceres mit einer für sie typischen kryptischen Andeutung.

Kopfschüttelnd hakte sie sich bei ihrem Vater unter. „Na dann komm, hinterlassen wir hier unsere eigenen Spuren."

Mit einem schwachen Nicken ließ er sich von ihr zurück zur Kutsche führen. „Wo willst du hin?"

Sie bemühte sich um ein tapferes Lächeln. Diese kleinen Zeichen, dass es ihrem Vater besser zu gehen schien, waren für sie Anlass genug, um Kraft und vor allem Hoffnung zu schöpfen. Wenn es ihm half, den Spuren ihrer Mutter zu folgen, dann wollte sie alles in ihrer Macht stehende tun, ihm so viele schöne Erinnerungen wiederzubringen, wie sie nur konnte.

Ihre erste Station erreichten sie recht schnell. Es war das kleine Strandhaus ihrer Eltern, in das sie sich zurückgezogen hatten, als ihre Mutter mit ihr schwanger gewesen war. Auch als sie noch klein gewesen war, waren sie oft vorbei gekommen, wenn sie dem Theater im großen Haus hatten entkommen wollen. Sie erinnerte sich noch gut daran, mit den beiden gemeinsam Sandburgen gebaut zu haben. Am Ende hatte Ragnarök mit ihnen spielen wollen und ihr ganzes Kunstwerk vernichtet. Ragnarök. Dieser ungestüme, viel zu verspielte Schattendrache.

Starke Arme legten sich von hinten um sie. Ihr Vater zog sie an sich und legte sein Kinn auf ihrer Schulter ab. „Eure Sandburgen waren einzigartig." Offenbar hatte er eben einen ähnlichen Gedankengang gehabt.

„Ich bin froh, dass du da bist, Papa." Vertraulich schmiegte sie sich an ihn.

„Engel, ich denke, ich schulde dir eine Geschichte." Sie spürte, dass etwas nahte, was sie nicht sonderlich mochte. „Schließ die Augen."

Ihre Sinne wurden ausgeschaltet, bevor sie sich plötzlich mit ganz anderen Eindrücken füllten. Mit ihrem Vater zu reisen, war wesentlich angenehmer und weniger nervenaufreibend als es alleine zu versuchen.

Zu ihrer Überraschung fanden sie sich im Wald wieder. Dem Wald, in dem sie vor weniger als vierundzwanzig Stunden mit Cian Fangen gespielt hatte. Verwirrt drehte sie sich zu ihrem Vater um, der ihr aufmunternd zunickte. „Die Geschichte, nach der du mich gefragt hast." Er deutete auf eine unscheinbare, mit Moos überwucherte Stelle. „Hier hat sie begonnen. Dein Großvater hat sie damals aus der Menschenwelt herholen lassen. Sie haben sich gestritten und das Ende vom Lied war, dass deine Mutter zu wenig Energie hatte und auftanken musste." Sie erkannte das Problem. Dasselbe suchte sie auch oft genug heim, wenn sie bei ihrem Großvater war. Vampire lieferten nicht die nötigen Energien, die sie neben Nahrung noch zusätzlich zu sich nehmen mussten.

„Sie war mit Aram und Adele im Dorf einkaufen, als Sem hier einfiel." Sem war ein ehemaliger König, das hatten sie gerade erst in der Schule durchgenommen. Angeblich hatten ihre Eltern etwas mit seinem Tod zu tun. Vielleicht sollte sie ihren Vater bei Gelegenheit einmal darüber ausfragen. Es war allemal angenehmer, ihn zu gewissen Ereignissen zu befragen als die Lehrer oder die Bücher. Oftmals erfuhr sie auf diese Weise wesentlich mehr über die eigentlichen Umstände.

Ihr Vater wartete, bis er wieder ihre volle Aufmerksamkeit hatte, ehe er fortfuhr. „Sie mussten fliehen und auf dem Weg ist sie zusammengebrochen. Sie war so trotzig und hat es von Anfang an darauf angelegt, sich mit mir zu streiten." Auf seinem Gesicht zeigte sich seit Jahrzehnten das erste Mal wieder echte Freude. Die Erinnerung an ihre Mutter, brachte ihr ihren Vater zurück! Entzückt versank sie im Anblick seines Lächelns.

„Auf ihrer Flucht haben sie hier angehalten." Beinahe sehnsüchtig betrachtete er das Moos auf dem Boden. „Hier ist sie zusammengebrochen. Ich hatte Aram gespürt und war hergekommen, um ihm zu helfen." Seine Stimme brach. Eilean wagte es nicht, zu sprechen. Nicht, wenn er endlich einmal Gefühle zeigte. Nach so langer Zeit.

Ein unnatürlich starker Wind zog auf und es war, als würden tausende von Stimmen mit ihm wehen. Eine unendlich vertraute Note wehte darin mit. Augenblicklich fühlte sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt. „Du hast gesagt, ich würde mein Zimmer nicht wieder kriegen", flüsterte ihr Vater mit erstickter Stimme. Ihr rutschte das Herz in die Hose. Begann ihr Vater jetzt plötzlich mit nicht vorhandenen Personen zu sprechen? Das war gar nicht gut. Hier lief etwas gewaltig schief.

„Wie es aussieht, habe ich recht behalten", ertönte es plötzlich hinter ihnen. Erschrocken fuhr sie zu dieser unendlich weichen, vertraut klingenden Stimme um.

Eine Gestalt trat aus dem Schatten der Bäume. Sie trug schwarze Kleidung, die im Wind wehte und sich kaum von dem langen schwarzen Haar abhob, das fast die gesamte Gestalt umspielte. Ihr blieb das Herz stehen. Diese Frau war in den letzten zwanzig Jahren um keinen Tag gealtert. Ihre wunderschönen, einzigartigen orangenen Augen sprachen von Kummer, Liebe und Schatten, die besser unentdeckt blieben.

„Mama?" Fassungslos stürzte sie nach vorne. „Mama, bist du es wirklich?" Direkt vor der Frau blieb sie stehen. War das wirklich die Frau, die sie in den letzten Jahren so unendlich doll vermisst hatte? Waren ihre Gebete endlich erhört worden?

Ein Lächeln erhellte die schönen Züge der Frau und ließ sie nur noch hübscher aussehen. „Mein Engel."

Als die warmen Fingerspitzen ihrer Mutter sacht über Eileans Wange strichen, rannen ihr die ersten Freudentränen die Wangen hinab. Sie war es wirklich, das war kein Traum. Schluchzend fiel sie ihr um den Hals. Nie wieder würde sie sie gehen lassen. Sie durfte nicht wieder verschwinden!

Willst du deinem Vater nicht die Möglichkeit geben, sich zu vergewissern, dass deine Mutter wirklich wieder da ist? Auf Ceres mürrischen Anstoß hin, löste sie sich von ihrer Mutter.

„Es ist so schön, dass du wieder da bist, Mama."

Eleasar sah, wie seine Tochter sich von ihr löste. Mit ihren orangenen Augen sahen ihn an und flehte wortlos um Vergebung. Er hatte gespürt, dass sie nahe war. Näher, als in den letzten Jahren. Aber das hier hatte er nicht erwartet. War sie tot und als Geist zu ihnen zurückgekehrt? Das konnte nicht sein, denn er spürte ihre Verbindung, sowie ihre Verunsicherung und abwartende Anspannung.

„Mir ist zu Ohren gekommen, dass du Kaiser bist." Herausfordernd stemmte sie ihre Hände in die Hüften. „Ich wüsste zu gerne, wie man dazu kommt, jemanden wie dich auf den Thron zu setzen."

Jetzt war er restlos überzeugt, dass sie wieder da war. „Ria." Er öffnete seine Arme und keine Sekunde später hielt er sie endlich wieder darin. Nach all den Jahren war seine zweite Hälfte zu ihm zurückgekehrt. „Dir ist hoffentlich klar, dass ich dich nie wieder gehen lasse."

Ihr erleichtertes Lachen war Musik in seinen Ohren. „Du weißt, dass du mich nie wieder los wirst. Ich muss doch weiterhin dein Zimmer belagern."

Tief atmete er ihren unverwechselbaren Duft ein, bevor er sich entspannte und die überwältigende Wahrheit zuließ. Sie war wieder da.

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Eigentlich ist die Geschichte hier zu Ende. Wer wissen möchte, wie Ria sich einlebt, darf gerne weiterlesen ;)

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