.:63:. Eine große Ehre

Als es dämmerte, kehrten sie erschöpft in die kaiserliche Hauptstadt zurück. Um nicht gleich mitten im Trubel zu erscheinen, wählte sie einen Punkt auf der Straße vor dem Palast. Zu dieser Stunde war dort nicht viel los, lediglich patrouillierende Soldaten waren hin und wieder auf dem Pflaster anzutreffen. Beim Anblick des hell erleuchteten Palastes lief es ihr kalt den Rücken herunter. So schön die Räume auch eingerichtet sein mochten, es fehlte etwas Substantielles, um es zu einem Zuhause zu machen.

Cian bemerkte ihr Zögern und blieb stehen. „Was ist?"

Unsicher wich sie einen Schritt zurück. „Ich will da noch nicht rein. Gehen wir zur Ahnenhalle."

Nachdenklich runzelte der junge Vampir seine makellose Stirn. „Du weißt, dass du dort nichts finden wirst." Es hatte eine Zeit gegeben, zu der Eilean tagelang an diesem Ort verweilt hatte, ohne Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Er wollte nicht, dass sie sich wieder völlig grundlos Hoffnung machte. Es war schon zu lange her, als dass sich etwas ändern würde.

„Ich will trotzdem. Dort habe ich das Gefühl, ihr nahe zu sein." Eileans Stimme war nur ein schwaches Flüstern. Sie konnte jetzt nicht einfach in dieses Gebäude gehen und den Heucheleien der anderen lauschen. Dafür fehlte ihr die Fassung.

Cian konnte es nicht ganz nachvollziehen, war jedoch bereit, ihr diesen Gefallen zu tun. Er kannte die Fakten der Ereignisse, aber wann immer sich der Jahrestag näherte wurde ihm klar, dass er rein gar nichts wusste. Die Ahnenhalle war leer. Seitdem der Kaiser zu dieser Zeit im Jahr keine Audienzen mehr empfing, war es im Volk zur Sitte geworden, den Ausgang an diesem besonderen Abend einzustellen. Zu Ehren der verschwundenen Prinzessin. Es tat ihm in der Seele weh, seiner kleinen Cousine dabei zuzusehen, wie sie dem Verzweifeln nahe in dem von einzelnen Lichtern durchzogenen Nebel niederkniete und mit leiser Stimme zu singen begann. „In Dublin's fair city, where the girls are so pretty, I first set my eyes on sweet Molly Malone..." Jedes neue Wort drückte ihren Schmerz aufs Neue aus, jede Zeile ihre Verzweiflung. Beim letzten „alive" brach ihre Stimme und sie begann fürchterlich zu schluchzen. Er kannte dieses Lied ebenso gut, wie sie. Mit diesem an sich so traurigen Lied verband er sehr schöne Erinnerungen.

Betroffen kniete er sich neben sie und zog sie in seine Arme.

„Warum ist sie verschwunden? Warum nur?"

Wort- und hilflos wiegte er sich mit ihr vor und zurück. Es war schwer, sie so leiden zu sehen.

Cian spürte seine Anwesenheit, bevor er ihn sah. Eine so eindrucksvolle und mächtige Person wie ihn konnte man nur schwerlich übersehen. Wortlos übergab er Eilean an ihren Vater, der sie fest in seine Arme schloss und ihr beruhigend durchs Haar strich. „Um uns zu retten, mein Engel."

Eleasars Stimme klang fest, aber leer von jedweder Emotion. Es war die Stimme eines Mannes, der so gut wie gebrochen war. Cian erinnerte sich daran, ein Gespräch seiner Eltern belauscht zu haben, in dem sein Vater meinte, Eleasar würde nur noch für Eilean lächeln, damit sie trotz des Verlustes eine gute Kindheit hätte. Vage erinnerte er sich daran, wie das echte Lächeln seines Onkels ausgesehen hatte. Wann immer seine Frau sich Zeit genommen und mit ihnen gespielt hatte, hatte Eleasar sie nachsichtig lächelnd angesehen. Gelacht hatte er schon immer selten, jetzt aber tat er es so gut wie nie. Und wenn, dann wirkte es merkwürdig leer. Wenn er ehrlich war, erinnerte er sich nicht mehr an seine Tante. Er wusste nicht, wie sie ausgesehen oder wie ihre Stimme geklungen hatte. Die wenigen Bilder von ihr hatte seine Mutter weggeschlossen, weil auch sie es nicht ertragen konnte, an ihre verschwundene beste Freundin erinnert zu werden. Und doch war sie es, die unermüdlich versuchte Eleasar und Eilean im Sinne der Verschwundenen zu beeinflussen.

„Warum schickt sie uns keine Nachricht? Warum ist sie einfach weg?" Ihre Stimme zitterte so stark, dass es beinahe unmöglich war, sie zu verstehen.

„Ich weiß es nicht", hauchte ihr Vater tonlos. Er erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen, als Ria ihm mit so viel Liebe in den Augen angesehen und geflüstert hatte: „Ich liebe dich." Dann war sie fort gewesen. Weder von Ragnarök noch von ihr war eine Spur geblieben. Einzig und allein die Tatsache, dass das Zeichen ihres Bundes nicht verschwunden war, ließ ihn hoffen, dass sie eines Tages zu ihnen zurückkehren würde. Manchmal bildete er sich sogar ein, Dinge zu spüren. Nur um im nächsten Moment wieder ihre ruhende Verbindung anzustarren und vergebens auf ein Zeichen zu warten.

„Eilean, Eleasar." Aus dem Nebel bildete sich ein Schatten. Es war der von Mei Shaw, Rias Mutter. Es tat den beiden weh, die Ähnlichkeit zu der Verschwundenen zu sehen. Die Verstorbene lächelte die beiden mitfühlend an. „Der Frühling steht für den Neubeginn. Erfreut euch an dem Frieden, den meine Tochter euch gebracht hat."

„Was bringt es uns?", schluchzte Eilean bitterlich. Sie vermisste ihre Mutter so schrecklich. All die Jahre, die nun schon vergangen waren, machten es nicht leichter. Lediglich die Erinnerungen waren verblasst und der reißende Schmerz war zu einem dumpfen geworden, der sie tagein tagaus begleitete.

„Ria hätte gewollt, dass ihr weiter lebt und das Leben genießt. Wer weiß, vielleicht spaziert ihr eines Tages am Strand entlang und sie steht einfach da und wartet auf euch."

Meis Worte gaben ihr Hoffnung. Sie bedeuteten, dass ihre Mutter noch lebte. Anders konnte es nicht sein.

„Warum erscheinst du erst jetzt", erkundigte sie sich zaghaft. Viele Male war sie schon alleine hier gewesen und hatte getrauert, doch nie war jemand erschienen.

Ein leises Lächeln umspielte die Lippen der Toten. „Es ist nichts mehr, wie es war. Dieser Nebel zeigt oft nur noch Erinnerungen an geliebte, von uns gegangene Personen, nicht wahr?"

So war es ihnen zugetragen worden. Mit kaum hörbarer Stimme sprach Eleasar: „Du sagst, Ria lebt."

„Sie ist euch näher als ihr denkt. Vergesst das nicht." Der Geist verschwand und ließ sie ohne Antworten zurück.

„Ich will sie wieder haben." Von ihrer Trauer zutiefst erschöpft, lehnte Eilean sich an ihren Vater. Er war der einzige, der wirklich verstand, was in ihr vorging. „Bringst du mich nach Hause?"

Sanft strich Eleasar ihr das Haar aus der Stirn. „Natürlich, mein Engel." Mit einer kleinen Handbewegung forderte er Cian dazu auf, sich zu ihnen zu gesellen. Er wollte nicht, dass irgendjemand von ihnen über die Straße laufen und eventuelle Begegnungen mit dem Volk durchstehen musste.

In Eileans Zimmer angekommen, wandte er sich an den Sohn seines engsten Freundes. „Pass gut auf meine Kleine auf."

„Das werde ich", versprach dieser feierlich und setzte sich in einen alten Schaukelstuhl.

Mit einem tonlosen, schweren Seufzen kehrte Eleasar dorthin zurück, wo er erwartet wurde.

.

Am nächsten Morgen wurde er von seiner kreidebleichen Tochter an der Haustür erwartet.

„Leg dich hin, du musst dir das nicht antun." Sanft strich er ihr über die kalte Wange. „Du siehst aus, als hättest du heute Nacht nicht geschlafen."

„Papa." Vorwurfsvoll schlug sie seine Hand beiseite, ging an ihm vorbei und stieg in die Kutsche. „Lass uns gehen."

Schweren Herzens setzte er sich zu ihr. Abgesehen von ihnen befand sich niemand auf den Straßen. Alle anderen schienen schon auf dem Platz versammelt zu sein oder in ihren Häusern zu sitzen. Wie Eilean später feststellen musste, hatte sich die ganze Stadt unten am Hafen versammelt.

„Warum willst du heute dieses Fest besuchen?" Sie verstand nicht recht, warum ihr Vater sich das antat. Es war offensichtlich, dass er unter dem Verschwinden ihrer Mutter litt.

„Es ist zu ihren Ehren und wir sollten es würdigen."

Ihr gefiel gar nicht, dass er wieder so emotionslos wirkte. Leider war das ein Zustand, den er nicht abzustellen vermochte. Sie hatte versucht, ihn dazu zu bringen, neue Freude am Leben zu entdecken. Erfolglos. Ihr Großvater Marjan hatte ihr kurz nach dem Verschwinden ihrer Mutter eröffnet, dass es für ihren Vater unmöglich war, ohne ihre Mutter zu leben. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie es in ihm aussehen musste. Ihre Großmutter hatte ihr einmal erzählt, dass wenn man eine solche Verbindung teilte wie ihre Eltern, das eigene Herz vom Moment des Aufeinandertreffens außerhalb des eigenen Körpers herumliefe und das eigene Wohl von dem des anderen abhängig war. Wieder einmal fragte sie sich, wie ihr Vater es nur schaffte, eine solche Qual zu überleben. Ihr schauderte. Das lag weniger an dem wunderbar sonnigen Wetter und dem warmen Lüftchen, das gerade dank der offenen Fenster durch die Kutsche zog, sondern eher daran, dass ihre die Vorstellung derartiger Qualen zu schaffen machte.

„Papa? Wie war es, als du Mama getroffen hast?" Jedes Jahr zum Jahrestag ihres Verschwindens hatte er ihr eine Geschichte über seine Erlebnisse mit ihrer Mutter erzählt. Sie hoffte, dass er ihr dieses Jahr ihre Frage beantworten würde. Obwohl sie auch die anderen Geschichten liebte, war die des Kennenlernens ihrer Eltern eine, die sie unbedingt hören wollte. Ihre Familie schwieg sich darüber leider aus.

Es war das erste Mal, dass sie aufrichtige Trauer in seinen Augen aufblitzen sah. Normalerweise wirkte er nur lethargisch. „Ich erzähle es dir später." Die Kutsche hatte hinter der Ansammlung gehalten, sodass sie unbemerkt aussteigen konnten. Ganz Gentleman half er ihr beim Aussteigen und legte ihr schützend eine Hand in den Rücken. Sie befanden sich am Rande des großen Piers am Südhafen, der oft als Versammlungsort genutzt wurde, wenn dort nicht gerade der große Markt war. Dementsprechend groß war die Fläche, auf der sich nun die ganze Stadt versammelt zu haben schien. Überrascht besah Eilean sich die bunten Bänder, die an den zahlreichen Häusern, Absperrungen und Pfosten befestigt waren. Sie alle waren in frohen Farben gehalten. Ihr blieb vor Rührung fast das Herz stehen, als sie erkannte, dass das Volk in Eigeninitiative den Hafen für einen Staatsbesuch hergerichtet hat. Das war eine große Ehre, die vor den großen Unruhen nur den obersten Herrschern der anderen Reiche vorbehalten war. Und das alles, um ihrer Mutter zu gedenken? Den Tränen nahe ergriff sie die Hand ihres Vaters. Eleasar erging es nicht viel anders als seiner Tochter. Auch ihn machte die Hingabe, die das Volk für seine Frau zeigte sprachlos.

Vorne auf dem Platz, kurz vor Beginn der Wohnhäuser, stand jemand, den sie von ihrer Position ganz hinten nicht richtig erkennen konnten, und deutete auf eine kleine Tafel. Klar vernehmlich wehte eine Männerstimme über die Köpfe der Anwesenden hinweg.

„Heute vor zwanzig Jahren wurde der Frieden unserer Welt erneuert. Ewigen Dank schulden wir unserer Herrin, die sich zu unserem Wohl dem Schicksal überlassen hat."

Zustimmendes Gemurmel erhob sich, vereinzelt begannen einige Leute zu weinen. Verwundert nahm Eilean die sich ihr bietende Szene in sich auf. Sie hatte keine Ahnung, dass ihre Mutter so beliebt gewesen war.

„Ria hat uns dem Volk näher gebracht", erklärte ihr Vater leise. „Sie hat sich nicht von dem Gerede und dem Starren der Leute einschüchtern lassen." Die Andeutung eines leisen, sehr traurigen Lächelns war in seinen Mundwinkeln zu erkennen. „Ihr eigenwilliger Sinn für Mode hat einige Akzente gesetzt."

Das war ihre Mutter, wie sie sie in Erinnerung hatte. Eine wunderschöne Frau, die voller Leben steckte und sich nicht in irgendwelche Schranken weisen ließ.

Aufmunternd klopfte sie ihm auf die Schulter. „Na, dann suchen wir hier nach Mamas Spuren."

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