.:62:. Der Jahrestag naht


Es war ein herrlicher Tag. Die Sonne schien und der Wind kündete von Abenteuern jenseits dieser Insel. Paradiesischer könnte der Blick aus dem Fenster wirklich nicht sein. Doch so schön und verführerisch das Wetter auch war, ein Wesen konnte es nicht ermuntern.

Obwohl es schon zum Ende der Stunde geläutet hatte, saß Eilean unverändert auf ihrem Platz und starrte durchs große Fenster nach draußen.

„Hey, kommst du heute mit nach unten? Wir wollen ein wenig schwimmen und uns dann auf den morgigen Tag vorbereiten."

Mit einem schweren Seufzen wandte sie sich ihren Freundinnen zu. Jaeda und Nina sahen sie erwartungsvoll an. „Du kannst heute nicht schon wieder etwas vorhaben", warf Nina ein und erinnerte sie daran, dass sie schon die ganze Woche über Einladungen ausgeschlagen hatte.

„Ich kann halt nicht immer. Ich habe familiäre Verpflichtungen", entgegnete sie ausweichend. In Wahrheit hatte sie heute gar keine Verpflichtung. Ihr war nur nicht nach Feiern zumute.

Dein Elend ist ja fast nicht mehr mit anzusehen, meldete sich Ceres besorgt zu Wort. Ihre eigensinnige Gefährtin hatte es sich zur Aufgabe gemacht, jedes Jahr um diese Zeit ein besonderes Auge auf sie zu haben.

Es geht vorüber. Nur noch eine Woche.

Das weiß ich, entgegnete sie barsch. Weißt du, was der Wind flüstert?

Es war ihr herzlich egal, was der Wind angeblich flüsterte. Ebenso egal, wie viel Spaß die anderen bei diesem Wetter hatten. Niemals wieder würde sie den morgigen Tag mit etwas anderem als diesen schrecklichen Verlust in Verbindung bringen. Zu dieser Zeit war sie damals schon tausend Tode gestorben. Ihr Vertrauen in ihre Eltern hatte ihr die Kraft gegeben durchzustehen und sie war nicht enttäuscht worden. Ihre Eltern... der verhärtete Teil in ihr krampfte sich noch weiter in sich zusammen.

Du tust ja geradezu so, als wär jemand gestorben.

Ist dem nicht so?

Eilean!

Verstimmt stopfte sie ihre Bücher in ihre Tasche und quetschte sich an ihren Freundinnen vorbei. Nur weg hier. „Vielleicht ein anderes Mal."

Kurz vor der Tür lief sie gegen eine Wand. Nicht wirklich, aber es fühlte sich so an. „Na hoppla, Schönheit. Wohin des Weges? Ein Vogel zwitscherte mir, wir gehen heute Schwimmen." Klasse. Wände mit Wahnvorstellungen - das hatte ihr gerade noch gefehlt.

„Such dir wen anders."

„Warum denn so schlecht gelaunt?" Der selbsternannte Schulschwarm Linus beugte sich vor, um ihr einen Kuss auf die Wange zu hauchen.

Schneller, als er sie festhalten konnte, war sie außerhalb seiner Reichweite gesprungen. „Noch einmal und du bist einen Kopf kürzer", knurrte sie drohend. Sie hatte wirklich andere Probleme.

„Hey, Kleine. Warum auf einmal so schüchtern? Hast du gestern nicht noch mit mir geflirtet?" Mit übertrieben viel zur Show gestelltem Selbstbewusstsein fuhr er sich durch die schulterlangen rotblonden Haare. Er sollte dringend zum Friseur gehen. Seine Haare waren wieder mal zu lang geraten, um als das durchzugehen, was heutzutage als lässig-cool galt. An den Spitzen zeigte sich außerdem der erste Spliss.

„Geflirtet?" Fassungslos schüttelte sie ihren Kopf. „Ich habe dir eine Morddrohung an den Kopf geworfen, du Holzkopf. Es ist nicht meine Schuld, wenn dein Verstand eine Etage tiefer rutscht, sobald dir ein weibliches Wesen zu nahe kommt." Wenn ihr der Kerl nicht gleich aus dem Weg ging, konnte sie für nichts garantieren. Ihrem Vater hatte sie versprechen müssen, sich nur in Notsituationen ihrer Kampfkunst zu bedienen. Nun, dies stellte definitiv eine dar. Er würde es verstehen, sollte man sich bei ihm über sie beschweren. Vermutlich würde er Linus dann eigenhändig eine Kopflänge kürzer machen. Immerhin war sie Papas Prinzessin.

„Autsch." Die Bemerkung kam von einer Person, die draußen vor dem Raum stand und von Linus' schlaksiger Gestalt verdeckt wurde. Sie brauchte den jungen Mann nicht erst zu sehen, um zu wissen, wer zu da ihrer Ehrenrettung erschienen war. „Vergiss es, Mann. Bei der hast du keine Chance", fuhr ihr Ritter in strahlender Rüstung recht amüsiert fort. Sie konnte ihm die Belustigung nicht verübeln. Wäre er umgekehrt in einer solchen Situation... Nun, sie hätte definitiv ihren Spaß an der Sache. Aber nicht heute.

„Verzieh dich." Linus verhielt sich wie ein Tier auf Balz. Mit geschwellter Brust und angespannten Muskeln drehte er sich zum Neuankömmling um. „Das hier ist nicht dein Auftritt, Freundchen."

„Du hast die königliche Erlaubnis, ihm eine reinzuhauen", brummte Eilean leise. „Und bitte dahin, wo es wehtut." Von Linus' albernem Gebaren hatte sie mittlerweile mehr als genug.

„Lin!" Ihre Mitschülerin Leana hatte sie gehört und schüttelte entrüstet ihren Kopf. „Wie kannst du so etwas nur sagen?" Ein solches Verhalten passte in ihren Augen gar nicht zu ihrer hübschen Freundin.

„Er geht mir auf die Nerven", entgegnete diese genervt. Seit Wochen bemühte er sich um ihre Gunst. Nein, dachte sie, das war falsch formuliert. Eigentlich scharwenzelte er um sie herum und versuchte, sie zu einem Date zu überreden. Sexuelle Belästigung nannte man das doch - oder etwa nicht?

Von der Tür her kam ein unterdrückter Schmerzenslaut. „Entschuldige, Linchen, aber dein Freund hat leider nicht verstanden, dass ich hier bin, um dich abzuholen." Blonde, durcheinander geratene kurze Haare, grüne Augen und das schönste Gesicht, das sie jemals gesehen hatte tauchten vor ihr auf. Die Haut hätte zwar etwas mehr Farbe verdient, doch es störte sie nicht. Es konnte ja nicht jeder makellos sein. Worüber sich aber keine Frau beschweren konnte, war sein durchtrainierter Körper. Er war schon ein Leckerbissen, wenn man seine Vorliebe für eigenartige Nahrung einmal außen vor ließ.

Erleichtert lächelnd fiel sie Cian um den Hals. „Mein Retter. Wo ist dein weißes Ross, mit dem wir in den Sonnenuntergang davon reiten können?"

Milde lächelnd legte er seine Arme um sie. „Mein Ross parkt im Stall deines Großvaters. Meine Mutter meinte, du könntest dieser Tage eine Eskorte gebrauchen."

Die gute Tante Adele. Sie war zu Seele ihrer kleinen eigenwilligen Familie geworden. „Da hat deine Mutter wieder einmal recht. Du glaubst gar nicht, wie unglaublich froh ich bin, mich nicht mehr mit diesem Blödmann abgeben zu müssen." Bei ihren letzten Worten lugte sie über Cians Schulter zu Linus, der sich einen gebrochenen Zeigefinger hielt.

„Hm, ich glaube, du hältst den nächsten Blödmann gerade in deinen Armen. Ich habe Order erhalten, dich den ganzen Tag über durch die Gegend zu scheuchen und sicherzustellen, dass du nicht in Trübsal gerätst." Er ließ sie los, um ihr prüfend ins Gesicht zu sehen. Noch hielt sie sich gut. Keine Tränen, keine geröteten Augen.

„Denkst du, ich habe es nötig?" Ihre Stimme war erschreckend leise geworden und sie rang sichtlich um Fassung.

„Wenn meine Mutter mit den Männern fertig ist, dann haben die genug..." er ließ den Rest des Satzes verklingen und räusperte sich verlegen. „Okay, lass es mich so ausdrücken. Meine Mutter hat jetzt das Kommando im Schloss übernommen."

Sein Versprecher brachte sie wieder zum Lachen. Wie gut es tat, ihn bei sich zu haben. „Ich glaube, ich bitte Papa dich zu adoptieren."

Cian lachte leise. „Ich werde immer dein großer Bruder sein, Küken."

„Küken?" Fing er etwa schon wieder damit an? Er war doch bloß ein Jahr älter als sie. „Ich zeig dir gleich, wer hier das Küken ist."

„Das ist meine Eilean. Okay, was schwebt dir denn für heute vor?"

Dafür, dass er die offensichtliche Antwort schon kannte, bekam er einen bösen Blick. „Du hast recht, du darfst dich in die Reihe der Blödmänner stellen. Am besten an die Spitze."

„Du brichst mir das Herz." Theatralisch schlug er seine Hände über besagtem Organ zusammen.

„Was hältst du von einem Ausflug in die Wälder?"

„Der Palastpark?"

Genervt verdrehte sie die Augen. „Nein du Gehirnschnecke. Ich meine die echten Wälder."

Um Worte ringend kratzte er sich am Hinterkopf. „Ich will dich ja nicht enttäuschen Prinzessin, aber hier gibt es keine Wälder. Die Dinger, in denen die Leute wohnen, das sind Häuser. Du weißt schon, die mit Fenstern und Türen."

Die Augen verdrehend boxte sie ihm gegen die Schulter. „Du bist bescheuert. Ich meine die Wälder bei Opa. Da, wo die Bäume keine Türen und Fenster besitzen." Demonstrativ hielt sie ihre Portalschlüssel hoch. „Papa sagt, ich soll üben."

Cian konnte ein Lächeln nur schwerlich unterdrücken. Wann immer es um Portalreisen ging, wurde Eilean furchtbar schlecht. „Wenn du bereit bist, dann nimm mich mit. Solltest du dich verletzen, wird aber niemand Wichtiges im Schloss sein."

Er fing sich einen Ellenbogenstoß in die Rippen ein. „Um meine Wehwehchen kümmere ich mich schon. Pass du lieber auf, dass dich unser Ausflug nicht in Stücke reißt."

„Siehst du das?" Er deutete auf seine ausgefahrenen Eckzähne. „Ich muss dich nur lange genug anzapfen, dann bin ich wieder ganz." Sie wussten beide, dass er übertrieb. Vampire konnten zwar unheimlich schnell heilen, Körperteile wuchsen ihnen jedoch nicht nach. Was einmal verloren war, blieb fort.

„Und was ist mit unserem Schwimmen heute?", meldete Leana sich wieder zu Wort. „Du kannst das Schnuckelchen doch nicht für dich alleine behalten."

„Schnuckelchen?" Hatte sie jemanden gesehen, der ihr entgangen war? Auch wenn ihr Vater ihr deutlich zu verstehen gegeben hatte was er mit demjenigen tun würde, der ihr das Herz brach, hielt es sie nicht davon ab, gutaussehenden Kerlen hinterher zu schmachten. Da kein Schnuckelchen in Sichtweite war, kam Eilean zu dem Schluss, dass ihre Mitschülerin an Geschmacksverirrung leiden musste. Sie konnte doch unmöglich diesen Idioten von Adernuckler meinen.

„Gibt es einen Anlass, deine Ehre verteidigen zu müssen?" Auf einmal wirkte Cian todernst.

Wieder fing er sich eine. „Du hast hier gar nichts zu verteidigen, Blutsauger."

„Ach ja, Miss Ich-kann-mit-Unsichtbaren-sprechen?" Herausfordernd sah er auf sie herab. Warum musste er noch gleich einen halben Kopf größer sein, als sie?

„Du kennst das Motto, wenn wir im Wald sind? Lauf, Vampirchen, lauf. Und schau nicht zurück."

Seine angespannte Haltung ließ nach und er griff nach den Schlüsseln. „Dann ist ja alles im Voraus geklärt. Gehen wir." Sie spürte die Reise nahen, als er den Schlüssel aktivierte.

Natürlich dachte sie nicht daran, ihre Augen zu schließen. So kam es, dass sie erst einmal eine Ewigkeit damit verbrachte, auf dem Boden liegend um Orientierung zu ringen. Ihre Lieblingsreiseart würde es nie werden.

Als sie sich wieder gefangen hatte und ihr Magen sich nicht mehr umdrehte, verschwand Cian vor ihren Augen. Vampire waren schnell und hatten gute Sinne. Aber wenn es eine Art gab, die mit ihnen mithalten konnte, dann ihre.

Ceres. Sie ließ sich von ihrem Geist unterstützen und jagte mit voller Geschwindigkeit Cians Spur hinterher. Es war herrlich, wieder einmal das Denken ab und ihre Sinne an zu schalten. Leider bot sich in der Hauptstadt viel zu selten die Möglichkeit dazu. Nicht einmal beim Sport durfte sie sich ausleben, weil sie sonst den Lehrer in Verlegenheit bringen würde. Irgendwann hatte ihre Tante vorgeschlagen, sie solle in ihrer Freizeit ihren Großvater besuchen und sich dort austoben. Seitdem war es für sie und Cian zu einem regelmäßigen Ritual geworden, einander durch die Wälder zu jagen.

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