.:46:. Der Fluch einer Schattenseele


Anderswelt.

Eleasar brachte sie in ihre Palastwohnung. Kaum waren sie dort angekommen, brach Ria schluchzend in seinen Armen zusammen. Es hatte sie unendlich viel Kraft gekostet, sich von ihrer Kleinen zu verabschieden. Hätte er zuvor geahnt, wie sehr es sie mitnehmen würde, hätte er sicherlich eine andere Lösung gefunden. Vielleicht hätte man sich mit den Schattendrachen einigen können. Leider war ihm der Gedanke erst gerade eben gekommen. Jetzt konnten sie nur inständig hoffen, dass die Menschenwelt für ihre Feinde weniger leicht zu erreichen war.

Abgrundtief verzweifelt weinte seine Frau sich an seiner Schulter aus. Sie schien sich gar nicht mehr einkriegen zu können. Was hatte ihr nur das Herz gebrochen? Natürlich war es nicht leicht gewesen, Eilean bei seinem Schwager und seiner Schwägerin zu lassen, aber die beiden Schattenseelen waren durchaus in der Lage auf sie Acht zu geben und ihr ein wenig dessen zu lehren, was sie waren. Er verstand beim besten Willen nicht, weshalb seine Frau weinte, als hätten sie sie verloren.

Ihre Trauer schnürte ihm das Herz zu und er überlegte ernsthaft, ob es nicht besser wäre, sie in einen traumlosen Schlaf zu schicken, damit sie nicht mehr so litt. Schweren Herzens entschied er sich dagegen. Sie sollte die Ruhe, die sie vorerst hatten dazu nutzen, sich mit ihren Gefühlen zu arrangieren. Fürsorglich hob er sie hoch und bettete sie sacht auf ihrem Bett. Sehr zu seinem Bedauern konnte er ihr ihre Trauer nicht abnehmen, obwohl er genau das liebend gern getan hätte. So blieb ihm nur, bei ihr zu bleiben und sie im Arm zu halten.

Daher stand er auch nicht auf, als es an der Tür klopfte. Er schickte seinen Geist aus, um zu erfahren, wer sie zu solch einer Stunde noch sprechen wollte und öffnete die Tür per Gedankenkraft. Kurz darauf erschien Raphael im Türrahmen - in Begleitung eines Wesens, das er nie erwartet hätte.

Haru reichte ein Blick auf seine Nachfahrin um zu erkennen, was ihr so sehr zusetzte, dass sein Nachfolger nach ihm geschickt hatte.

Ernst sah er dem Bewahrer ihres Herzens in die Augen. „Sie spürt Dinge, die sie nicht in Worte fassen kann." Vorsichtig berührte er Rias weiches Haar. Bald würde sich das erfüllen, was er so lange herbeigesehnt hatte. Gerade rechtzeitig, denn seine Kraft war beinahe aufgebraucht.

Sie musste seine Gegenwart gespürt haben, denn auf einmal löste sie sich von ihrem Gemahl und warf sich in seine Arme. Beruhigend strich er ihr über den Rücken. Es war lange her, dass er eine Frau so gehalten hatte. Es brach ihm das Herz, seine eigene Urenkelin schon verzweifeln zu sehen, ehe sie ihre Bestimmung überhaupt erkannt hatte. So gern er auch darauf verzichtet hätte, es an sie weiterzugeben, es musste sein. Es war der Fluch seiner Familie. Er konnte nur hoffen, dass dieser Fluch sich nicht vollends gegen sie wandte. Sollte das der Fall sein, so war die Welt dem Untergang geweiht. „Ich weiß, Liebes. Es ist eine schwere Last, die einem das Herz zerreißt." Nur zu gut erinnerte er sich an seine Zeit. Er fand es interessant zu sehen, dass Ria genau die gleiche Entscheidung getroffen hatte, wie er damals. Beide hatten sie ihren kostbarsten Schatz in eine andere Welt gebracht, um ihn zu schützen.

„Was ist mit ihr?", fragte Raphael, dem bei Rias Anblick ziemlich unwohl zumute wurde.

Der Altkaiser sah ihn aus seinen Quecksilberaugen an, als übersähe er das Natürlichste auf der Welt. „Sie weint. Lasst sie ausweinen, andernfalls wird es sie umbringen." Sein Blick wanderte zum Prinzen. „Wenn alles zu zerbrechen scheint, wird euer Band bestehen bleiben. Es ist das einzig Beständige in einer Welt voller Veränderungen und Schmerz." Vorsichtig legte er seine Enkelin wieder in die Arme ihres Gemahls. Er hatte gesagt, was zu sagen war. Jetzt hieß es abwarten. „Wenn die Zeit reif ist, schulde ich euch eine Erklärung."

Sprachlos starrte Raphael auf die plötzlich leere Stelle. Haru hatte sich einfach in Luft aufgelöst. „Also dieser Kerl ist mir unheimlich."

Eleasar antwortete nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich nicht vom Leid seiner Geliebten mitreißen zu lassen. Harus Worte hatten ihn an seine Angst erinnert, sie zu verlieren.

Raphael sah ein, dass die beiden ihre Ruhe brauchten und verschwand ebenfalls. Hoffentlich waren sie zur Hinrichtung wieder soweit auf den Beinen, dass sie diesem Ereignis beiwohnen konnten. In diesem Fall war es leider nicht möglich, Ausnahmen zu machen. Sie mussten anwesend sein.

Ria weinte die ganze Nacht durch. Erst in den Morgenstunden erlag sie ihrer Erschöpfung und schlief ein. Elea nutzte die Zeit, all die Dinge zu regeln, die anfielen. Er wollte ihr so viel Schlaf wie möglich bieten.

Kurz vor Beginn des offiziellen Teils vor der Hinrichtung musste er sie dann doch aufwecken. Blass wie ein Laken haderte sie erst ein wenig mit der Orientierung. Dann erkannte sie ihren Mann und ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf ihren Zügen aus. „Ich habe schrecklich geträumt", flüsterte sie mit rauer Stimme. Da half selbst Räuspern nicht.

Ganz umsorgender Gemahl reichte Eleasar ihr ein Glas Wasser und wartete geduldig, bis sie wieder soweit hergestellt war, dass sie aufstehen und sich anziehen konnte. Kleider hatte er ihr bereits raus legen lassen. Besorgt beobachtete er sie dabei, wie sie sich mit fahrigen, leicht zittrigen Bewegungen ankleidete. Nachdem sie den Stoff das dritte Mal hatte fallen lassen, kam er ihr zur Hilfe. Dieser Zusammenbruch war noch nicht vorüber. Aber was konnte er tun? Es machte ihn wahnsinnig an ihrer Seite zu sein und ihr nicht helfen zu können.

„Hey." Ihre kühle Hand umfasste seine. „Ich brauche nur Emotionen, Elea."

Die konnte sie haben.

Kichernd löste sie sich von ihm. Dieses kleine unscheinbare Geräusch erfüllte ihn mit unbändiger Erleichterung. Sie konnte wieder lachen.

„Diese Emotionen meinte ich nicht. Müssen wir nicht langsam los?"

Missmutig brummte er etwas vor sich hin, dass sie mit viel Wohlwollen als Zustimmung interpretierte. Sie neigte sich noch einmal zu ihm vor, um ihn kurz zu küssen, dann zog sie ihn hinter sich her. Im Flur vor der Wohnung blieb sie ratlos stehen. „Wo lang?"

.....


Raphael und Isla standen bei einigen wichtigen Vertretern, als sich die Saaltüren wieder einmal öffneten und Ria und Eleasar eintraten. Die junge Frau war noch immer ungewöhnlich blass, schien aber entschlossen zu sein, sich ansonsten nichts anmerken zu lassen.

Sprachlos beobachtete Isla, wie ihr Mann den beiden entgegen lief und Ria umarmte. Zwar war es nicht das erste Mal, dass er das tat, doch hatten solche Begebenheiten bislang immer im privaten Rahmen stattgefunden. Es musste etwas mit dem Zustand der jungen Frau auf sich haben. Auch ihr war vergangene Nacht nicht verborgen geblieben, wie sehr Ria litt. Der ganze Palast schien mit ihr gelitten zu haben. Nur jene, die sich von diesen eigenartigen Schwingungen hatten abschirmen können, waren von eigenen Zusammenbrüchen verschont geblieben. Sie selbst erinnerte sich nur allzu gut an den überwältigenden Schmerz, der sie auf einmal überkommen hatte. Als hätte man ihr das Herz aus der Brust gerissen.

Rias verlegenes Verhalten deutete eindeutig darauf hin, dass ihr diese offen zur Schau gestellte Sorge um ihre Person unangenehm war. Hilfesuchend sah sie sich im Saal um und entdeckte Isla, die sich ein Herz nahm und ihr zur Hilfe eilte. Lächelnd hakte die Kaiserin sich bei ihrem Mann unter. „Schön, euch zu sehen."

Dankbar, diesem eigenartigen Moment entkommen zu sein begrüßte Ria die beiden nach Protokoll. Wer hätte gedacht, dass sie sich jemals über solche Dinge wie Etikette freuen würde? Normalerweise verabscheute sie vorgeschriebene Verhaltensweisen, weshalb sie sich vor jeder Veranstaltung drückte, wenn sie nur konnte. Ihr Blick blieb an Marjan hängen, der sie verhalten musterte. Hastig hakte sie sich bei ihrem Mann unter. Wenn der Kerl schon so eigenartig guckte, fehlte sicher nicht mehr viel und er fiel ihr ebenfalls um den Hals. Darauf konnte sie dankend verzichten.

In Wahrheit hing ihr Schwiegervater ganz anderen Gedanken nach. Sein alter Freund hatte ihn in der Nacht aufgesucht und ihn dazu beschworen, für seine Nachkommen zu sorgen und ihnen seinen Schutz zu bieten, sollte es soweit sein. Bis eben hatte er sich keinen Reim darauf machen können, was er wohl gemeint haben mochte, doch der Anblick seines Sohnes und seiner Tochter war Erklärung genug. Rias Haltung erinnerte ihn sehr stark an einen jungen Haru. Damals war die Welt beinahe zusammengebrochen. Wiederholte sich dieses Ereignis etwa? Er hatte gewusst, dass sein alter Freund Pläne mit der jungen Schattenseele hatte und bislang hatte er ihn dabei unterstützt, doch so langsam begann er an dessen Vorhaben zu zweifeln. Jahrtausende währende Freundschaft kollidierte mit jahrhundertealten Vatergefühlen. Haru hatte sich damals zutiefst ins Unglück gestürzt und sich nie wirklich davon erholt. Angesichts von Rias vorangegangenem Zusammenbruch war es wohl schon zu spät. Sie hatte ihr Schicksal akzeptiert, auch wenn er daran zweifelte, dass sie schon wusste, was es für sie bereithielt. Sara hatte ihm heute Morgen eröffnet, sie fürchte sich um ihren Sohn. Er konnte es ihr nicht verübeln. Und dazu brauchte er nicht einmal die intuitive Gabe seiner Geliebten.

Die Stimme des Kaisers wehte durch den Saal und riss ihn aus seinen Gedanken.

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