.:45:. Gebt gut auf sie acht
Verlor er jetzt völlig den Verstand? Um zu verhindern, dass der Araber einen ganz dummen Fehler beging, stürmte sie ins Wohnzimmer. Was sie da sah, ließ sie abrupt innehalten. Aleix, der ihr auf den Fersen war, rannte beinahe in sie hinein. Im letzten Augenblick konnte er sich noch davon abhalten. Auch er starrte auf den Küchenblock, wo Ria scheinbar entspannt saß und Kemal toben ließ.
„Was tust du denn hier?", fragte Suzi völlig überrumpelt und lief auf ihre kleine Schwester zu, um sie zu umarmen. „Ich dachte, wir würden uns so schnell nicht wiedersehen."
Eine gefühlte Ewigkeit musterte Ria sie wortlos. Ihre Augen waren so durchdringend orange, dass es schon fast unheimlich wirkte. Neben ihnen machte Kemal einen großen Schritt auf sie zu, wurde jedoch von einem großen Mann mit langen schwarzen Haaren zurückgehalten. Seine bleiche, makellose Haut deutete nur auf eines hin: Vampir. Als sie genauer hinsah, erkannte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit einer ihr bekannten Person. Das war Camilles Sohn. Seit der Prinz sie zu ihrem Mann gebracht hatte, hatte sie nichts mehr von ihrer alten Freundin gehört.
„Wie geht es Ihrer Mutter?", fragte sie ihn daher.
Er wandte sich ihr kurz zu und musterte er sie durchdringend mit seinen blassgrünen Augen. „Sie ist tot."
Sie wollte ihm grade sein Mitleid aussprechen, erinnerte sich dann jedoch der damaligen Situation. Camille hatte sich mit dem Prinzen angelegt. Zumindest war es das, was sie am Rande mitbekommen hatte.
„Aram." Ria sprang vom Küchenblock und legte dem Vampir eine Hand auf die Brust, ehe sie sich an Kemal wandte. „Kemal, das ist Aram, Adeles Mann." Adele war dem Clan bekannt, weil sie Rias beste Freundin war, schon bevor sie sich beide für die andere Welt entschieden hatten.
„Das ist mir egal", begann ihr Ziehvater und konfrontierte sie dann wieder mit einer Menge Vorwürfen. Auf einmal änderte sich die Atmosphäre im Raum schlagartig.
Suzi hatte das Gefühl, keine Luft mehr zum Atmen zu bekommen. Aleix schien es ähnlich zu gehen. Am heftigsten traf es jedoch die Jäger. Kemal und Andreas brach der Angstschweiß aus. Auch den beiden jungen Jägerinnen, die neugierig durch die Flurtür herein schauten schien es nicht anders zu ergehen.
„Meine Tochter muss sich nicht vor Untergeordneten äußern", schnitt eine eiskalte Stimme durch den Raum.
Suzi glaubte nicht recht zu sehen. König Marjan stand in der Terrassentür und fixierte den Araber mit kalten Augen.
„Himmel", brummte Ria und baute sich vor dem König auf. „Nur weil Elea gerade nicht kann, müsst ihr mir nicht auch Schritt und Tritt folgen."
Marjan wandte ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu. „Wer sagt denn, dass es hier um dich geht?"
Anscheinend hatte ihre Schwester beschlossen, diese Antwort zu überhören, denn Ria schlenderte jetzt auf sie zu. „Es tut mir leid, aber mir will einfach keine andere Lösung einfallen." Entschuldigend lächelte sie sie an. „Könnt ihr ein paar Tage auf Eilean aufpassen?"
Sprachlos starrte die große Schwester die Kleine an. „Deine Tochter?"
„Ja."
Sie war noch immer unfähig zu sprechen. Aleix nahm ihr diese Aufgabe ab. „Wie lange denn?"
Ria zuckte mit den Schultern. „So um die drei Tage? Adele ist mit ihrem Sohn auch hier, aber wir wollen sie nicht am gleichen Ort unterbringen. Ich fühle mich besser, wenn ich sie in eurer Obhut weiß."
„Natürlich. Magst du uns sagen, weshalb du sie her bringst? Was sagt dein Mann dazu? Ich bin mir sicher, er ist nicht sonderlich begeistert."
„Nicht sonderlich begeistert ist die Untertreibung des Jahrhunderts." Bedrückt vergrub Ria ihre Hände in den Taschen ihres dunkelblauen Mantels. „Drüben ist einiges im Argen. Wir alle müssen morgen einer Hinrichtung beiwohnen..." Es klang, als wollte sie noch etwas sagen. Ruhig wartete Aleix darauf, dass sie sich entschied. Seine Erwartung wurde nicht enttäuscht. Kaum hörbar flüsterte sie: „Sie wäre fast entführt worden. Wir konnten die betroffenen Leute noch rechtzeitig erledigen. Aber solange niemand in ihrer Nähe ist, der die Angreifer wahrnehmen kann, ist uns das Risiko zu groß. Wir werden sie abholen, sobald wir sichergestellt haben, dass niemand sich ihr noch einmal unbemerkt nähern kann." Ihr Blick wurde bittend. „Ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll."
Beruhigend schloss er seine Schwägerin in die Arme. „Wir passen gerne auf sie auf."
„Wo ist sie?", fragte Suzi, die sich wieder gefangen hatte und nun nach ihrer kleinen Nichte suchte.
Ria löste sich von Aleix und drehte sich zum König um. „Nun lass sie schon rein."
Marjan musterte die Anwesenden mahnend, ehe er sich umdrehte und seine Enkelin auf den Arm hob, die sich ein wenig ängstlich an ihn schmiegte. Als der Blick ihrer tiefblauen Augen auf ihre Mutter fiel, kletterte Eilean auf den Boden und rannte zu Ria, um sich an ihre Beine zu klammern.
Fließend hockte sie sich hin und nahm ihre Kleine in die Arme. „Engel, erinnerst du dich noch an meine Schwester, Tante Suzi? Sie war einmal kurz zu Besuch. Du hast sie bei Papa im Arbeitszimmer gesehen. Onkel Aleix auch."
Eilean sah auf und fand Suzi und Aleix. Eingeschüchtert nickte sie. „Warum sind wir hier? Wo ist Papa?"
Kurzzeitig trat Schmerz in Rias Augen. „Mein Engel, mein über alles geliebter Engel." Sie vergrub ihre Tochter in ihren Armen. „Papa kommt vorbei, wenn er deinem Opa nicht mehr helfen muss." Kurz vor ihrer Abreise war Eleasar zu Raphael gerufen worden, der angeblich irgendetwas Wichtiges mit ihm zu besprechen hatte. Sie umfasste das hübsche Gesicht ihrer Kleinen und sah sie eindringlich, aber auch unendlich liebevoll an. „Es gibt da ganz böse Wesen, die unserer Familie etwas sehr Böses antun wollen. Mama und Papa werden diese Wesen suchen und ihnen zeigen, dass sie das nicht tun dürfen."
Die Kleine nickte verstehend. Suzi hingegen wurde ganz mulmig zumute. Diejenigen, die es auf das Prinzenpaar abgesehen hatten, mussten sehr gefährlich sein, sonst würden Ria und der Prinz sich niemals von ihrer Tochter trennen. Sie liebten sie abgöttisch. Diese Szene ging ihr so nahe, dass ihr lautlos Tränen über die Wangen flossen.
Mit leiser und sehr sanfter Stimme sprach Ria weiter. „Wir haben große Angst um dich. Bei deinem Onkel und deiner Tante bist du sicher." Um Fassung ringend hauchte sie Eilean einen Kuss auf die Stirn. „Du bist großartig, mein Engel. Wir lieben dich."
Marjan trat an sie heran und legte Ria einen Arm auf die Schulter. „Eleasar ist hier."
Überrascht sah Suzi sich um. Sie hatte die Ankunft des Prinzen nicht gemerkt, der sich jetzt wortlos neben seine Familie kniete und Eilean in seine Arme schloss. Über den Kopf des Mädchens hinweg sah er seine Frau scheinbar unberührt an. Ria hingegen war mehr anzusehen. Sie schien sich nun leichter wieder fassen zu können, wischte ein paar Tränen aus ihren Augenwinkeln und stand auf.
Kurz darauf stand auch Eleasar wieder auf und strich seiner Tochter, die ihm etwa bis zur Mitte des Oberschenkels ging, durchs dunkelbraune Haar, das dem seinen so ähnlich war.
„Aram und ich gehen zurück", warf Marjan in die entstandene Stille ein und nickte seinem Berater zu. Dann verabschiedete er sich von seiner Enkelin. Fasziniert sahen die Jäger die beiden Vampire durch die Gartentür verschwinden.
Kaum waren sie fort, schüttelte Kemal sich und sah zu Ria, die ihn komplett ignorierte.
„Warum zeigst du deinem Onkel nicht, was Mama dir beigebracht hat?", schlug Eleasar für alle verständlich vor. Eilean sah mit großen Augen zu ihm auf.
„Mama und du habt immer gesagt, dass ich das nur tun darf, wenn jemand mir Böses will."
Lächelnd strich er ihr erneut durchs Haar. „Da hast du recht, Engel. Ich bin mir aber sicher, dass dein Onkel dir auch ein paar ganz tolle Dinge zeigen kann. Und ich bin mir sicher, dass du hier ganz viele leckere Sachen essen kannst. Vielleicht darfst du ja auch beim Kochen helfen."
Ein glückliches Strahlen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Dann zeige ich dir, was ich gut kochen kann!"
„Darauf freue ich mich jetzt schon", entgegnete er mit einem ungewohnt liebevollen Ausdruck in seinen Augen. „Und ich freue mich auf die Geschichten, die du mir erzählen wirst." Seine Augen richteten sich auf Suzi. In ihnen stand die stumme Bitte, sich jetzt der Kleinen anzunehmen.
Das ließ diese sich nicht zweimal sagen und streckte ihre Hand nach Eilean aus. „Hast du schon etwas gegessen?"
Unsicher schüttelte das Kind seinen Kopf.
„Hast du denn Hunger?"
Fragend sah sie zu ihrem Vater, der beruhigend nickte. „Es ist in Ordnung. Sag einfach, was du möchtest."
„Ich weiß, was du mit Sicherheit gerne hast", kam es von Ria, die sich in der Küche zu schaffen machte. Keine fünf Minuten später reichte sie ihrer Tochter eine Tasse warmen Kakaos. „Probier mal, Engel."
Zögerlich nippte Eilean an dem Getränkt. Mit leuchtenden Augen grinste sie ihre Mutter an.
„Das magst du?", fragte Suzi, die sehr wohl mitbekommen hatte, wie der Prinz ihre Schwester tadelnd angesehen hatte. Auf ein strahlendes und wirklich hinreißendes Lächeln ihrer Nichte hin, führte sie sie in die Küche, um nachzusehen, was sonst noch da war.
Unterdessen nutzte Aleix die Gelegenheit und scheuchte Andreas und Kemal nach draußen, Ria und Eleasar folgten ihm. Außerhalb der Sichtweite des Wohnzimmers blieb er stehen. Eleasar hatte Ria in den Arm genommen, die wirkte, als würde sie jeden Augenblick zusammenbrechen. Es fiel ihr offensichtlich sehr schwer, ihre Tochter hier zurückzulassen. Er konnte es ihr nicht verübeln. Für ihn wäre es undenkbar gewesen, Ellena zu Verwandten zu schicken, die diese nicht kannte. Dass sie es dennoch taten, war ein unglaublicher Vertrauensbeweis.
„Behandelt sie gut", begann der Prinz und sah ihn todernst an. Ria stieß ihm leicht in die Seite, was ihn dazu veranlasste, leise zu seufzen und eine Erklärung anzufügen. „Wir hoffen, dass sie hier sicherer ist, solange wir nicht an ihrer Seite sein können."
„Was ist passiert?", erkundigte er sich vorsichtig. Sein Schwager würde seine Tochter nicht einfach so herbringen.
Zu seiner Überraschung war es Ria, die antwortete. „Diese Dreckskerle haben versucht, sie zu entführen." Finster funkelte sie ihn aus ihren beeindruckenden orangefarbenen Augen an. Es war unübersehbar, dass sie fuchsteufelswild war. „Und als wäre das nicht auch noch alles, müssen die so feige sein, sich immer wieder zu verziehen. Ich könnte Sem noch einmal dafür den Hals umdrehen, dass wir seinetwegen die Suche unterbrechen müssen."
Sie hätte wohl noch mehr gesagt, wurde aber von ihrem Mann unterbrochen, der sie wortlos an sich drückte. „Wir nehmen an, dass sie das Ziel eines hinterhältigen Angriffs war."
„Wir können helfen", bot Kemal an und versuchte sich Ria zu nähern. Das hätte er besser nicht getan, denn augenblicklich stand Eleasar vor seiner Frau und Kemal ging ohne jeden Beweis eines Angriffs in die Knie.
„Elea." Sanft zog Ria ihn von ihrem Ziehvater fort. Mit entschuldigender Miene wandte sie sich wieder an Aleix. „Es ist eine ziemlich angespannte Situation. Eilean soll da nicht mit reingezogen werden. Bitte gebt gut Acht." Sie umarmte ihn kurz, ehe sie Kemal und Andreas zunickte.
Anschließend verschränkte sie ihre Finger mit denen ihres Mannes. Eleasar malte ein paar unsichtbare Zeichen in die Luft. Währenddessen wandte Ria sich noch einmal um, ihre Augen verräterisch glitzernd. Doch ehe Aleix etwas tun oder sagen konnte, waren die beiden verschwunden.
„Was...?", keuchte Andreas und sah sich suchend um.
„Sie sind wieder fort", erklärte er sachlich.
„Das muss sehr heftig sein, was da im Gange ist. So verängstigt habe ich Ria noch nie gesehen."
Kemal pflichtete ihm bei. Offenbar hatte er Kopfschmerzen, denn er rieb sich unablässig die Schläfen. „Dieser Kerl ist wirklich unheimlich. Ich wüsste gerne, was er getan hat."
Aleix schwieg sich darüber aus, denn er hatte schon Leute leblos umfallen sehen. Es war lange her, aber damals war jeder, der sich dem Prinzen in den Weg gestellt hatte an einer unbekannten Todesursache gestorben. Unwillkürlich schüttelte er sich. Das waren keine schönen Erinnerungen. „Ria hat keine Angst um sich selbst, sondern um ihre Tochter", erklärte er. Seine Schwägerin war einfach nicht der Typ, der sich um das eigene Leben sorgte. Sowohl Ria als auch ihr Mann waren erfahrene Kämpfer und sicherlich nicht so schnell klein zu kriegen. Nein, hier ging es einzig und allein um das kleine, wirklich niedliche Mädchen, das gerade an Suzis Hand aus dem Haus kam. Mit einer Hand hielt sie die ihrer Tante, in der anderen hatte sie einen Schokoriegel. Als sie sah, dass ihre Eltern fort waren, wurde ihre Miene traurig.
Sich einen Ruck gebend machte er sich auf den Weg zu den beiden. Jetzt galt es seine Nichte auf andere Gedanken zu bringen.
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So, wieder mal ein langes Kapitel. Was sagt ihr bisher zu diesem Teil? Irgendwelche Dinge, die im weiteren Verlauf geklärt werden sollen? Abgesehen von den offensichtlichen Dingen wie: die müssen gegen die Vierte Union kämpfen.
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