.:44:. Kemals Sorge
Menschenwelt.
Suzi wusste nicht recht, was sie tun sollte. Kemal stand in ihrem Wohnzimmer und lief aufgeregt auf und ab. Andreas, ihr anderer Stellvertreter, sah sie hilflos an.
„Kemal, was ist los?"
Der schwarzhaarige Araber sah sie mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Zorn an. „Ria hat eine Tochter!"
Resignierend vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen. Schon wieder. Seit ihre Schwester aufgetaucht war, um für sie am Kampf um die Clanführung teilzunehmen, sprach er von fast nichts anderem mehr.
„Und ihr Mann ist garantiert ein ganz schlimmer! Ungefährlich ist er nicht."
Seufzend stand sie auf, um sich einen Kaffee zu machen. Für das Folgende würde sie etwas Starkes brauchen. „Eleasar ist keineswegs ungefährlich." Sie war davon überzeugt, dass dieser Mann zu den gefährlichsten Wesen überhaupt gehörte, sofern man ihn aus der Reserve zwang. „Ria und der Kleinen würde er nie etwas antun." Dazu wäre er gar nicht in der Lage. Selbst ohne das Band, das ihre Schwester und ihren Schwager miteinander verband, wäre er ihr ebenso treu ergeben. So, wie sie ihn kennengelernt hatte, war er eine ruhige, besonnene und vor allem aufrichtige Persönlichkeit. Und ein Mann, der seine Frau aufrichtig liebte. In Rias Gegenwart wirkte der sonst so ruhige und abweisend wirkende Prinz zugänglich und lächelte sogar das eine ums andere Mal. Aleix hatte zwar seine eigene Meinung über den Prinzen, aber das hatte andere Gründe.
Sie war gerade wieder zurück auf den Weg ins Wohnzimmer, da wurde die Haustür aufgeschlossen und Aleix trat ein. Er wirkte ein wenig müde. Kein Wunder, war er seit zwei Tagen nur noch kurz zum Schlafen da. Seine Arbeit forderte mal wieder eine Menge Überstunden.
„Endlich haben wir die Täter geschnappt", verkündete er und zog sie an sich. „Ist noch Kaffee für mich da?"
Belustigt drückte sie ihm ihre Tasse in die Hand. „Hier. Setz dich doch ins Wohnzimmer. Kemal und Andreas sind da."
Auf einmal sah er sie prüfend an. „Irgendwelche Probleme?"
Lachend stupste sie ihm an die Nasenspitze. „Nein. Kemal kann noch immer nicht glauben, dass wir Onkel und Tante sind."
„Herrje." Müde fuhr er sich mit der freien Hand übers Gesicht. Kleine Bartstoppeln zeugen davon, wie sehr er in den vergangenen Tagen von seiner Arbeit beansprucht worden war. Eine Gruppe brutaler Jugendlicher hatte einen Außenbezirk der Stadt unsicher gemacht. Kein Wunder, dass er der Sache nachgehen und Einhalt gebieten musste.
Solidarisch klopfte sie ihm auf die Schulter. „Du kannst auch sofort ins Bett gehen. Du siehst aus, als würdest du im Stehen einschlafen."
Demonstrativ trank er einen großen Schluck Kaffee, nur um ihr dann den Becher wieder in die Hand zu drücken und im Bad zu verschwinden. Kurz darauf kam er wieder zurück. „Gott, ist der heiß." Theatralisch fächelte er sich Luft in den Mund.
Kichernd gab sie ihm die Tasse zurück. „Ist ja auch gerade frisch gekocht." Liebevoll schob sie ihn in Richtung Wohnraum. „Ich mache mir schnell noch einen und dann müssen wir versuchen, Kemal davon zu überzeugen, dass es nichts bringt, durchzudrehen."
„Es ist schon schwer, wenn die Kinder groß werden", brummte er erschöpft. Wobei... wenn er sich recht erinnerte, war Ria für Kemal mehr als nur eine Ziehtochter. Zumindest wenn er Rias Schilderungen Glauben schenkte.
Im Wohnzimmer lächelte Andreas ihn entschuldigend an. „Ich denke, Kemal sollte sich einmal mit Ria unterhalten."
Skeptisch zog er eine Augenbraue hoch. „Für den unwahrscheinlichen Fall, dass er sie noch einmal zu Gesicht bekommt, wird er wohl eher um sein Leben fürchten müssen."
„Ihr glaubt doch nicht immer noch den Schwachsinn mit dieser anderen Welt. Ria hat das schon einmal erzählt." Mürrisch baute Kemal sich vor ihm auf. „Ich will mit ihr sprechen."
„Kemal." Suzi trat in den Türrahmen und funkelte ihn wütend an. „Mein Mann kann sie auch nicht einfach her zaubern." Sie tat einen Schritt auf ihn zu und schob ihn von ihrem Mann fort. „Denkst du nicht, dass ich gerne mehr Zeit mit meiner kleinen Schwester und meiner Nichte verbringen würde? Wenn du nicht mehr zu sagen hast, kannst du gehen. Wie du siehst, ist mein Mann müde."
Überrascht blinzelt der Araber. Eine solche Ansage von Suzi war sehr selten. Da sie seine Clanmeisterin war, musste er sich ihrer Aufforderung beugen, so wenig sie ihm auch gefiel. Er war davon überzeugt, dass die beiden wussten, wo Ria jetzt lebte. Er hatte sie suchen lassen, aber es war, als wäre sie vom Erdboden verschluckt.
„Komm, Kemal." Andreas überredete ihn dazu, es vorerst auf sich beruhen zu lassen.
Zähneknirschend verabschiedete er sich. Er würde schon noch herausfinden, wo sie Ria und ihre Tochter versteckten. Es war offensichtlich, dass ihr sogenannter Mann Dreck am Stecken hatte und sie unter Verschluss hielt.
Erleichtert atmete Suzi aus, nachdem die Tür endlich ins Schloss gefallen war. „Seit Tagen liegt er mir damit in den Ohren." Jetzt, wo die beiden weg waren, merkte auch sie die Auswirkungen des langen Tages.
Seufzend zog Aleix sie an sich. „Er sollte endlich verstehen, dass Ria nichts mehr mit ihm zu tun haben will." Er nahm einen Schluck des mittlerweile trinkbaren Kaffees und wechselte das Thema. „Wie war dein Tag?"
Sie streckte sich und kuschelte sich anschließend an ihn. „Anstrengend. Und deiner?"
Er lachte leise. „Anstrengend."
Suzi angelte nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Es war ein allabendliches Ritual gemeinsam auf dem Sofa zu sitzen und ein wenig fernzusehen. Nach einer Weile meldeten sich ihre knurrenden Mägen. Da sie beide zu bequem waren, etwas zu kochen, entschlossen sie sich dazu, etwas zu bestellen. Trotz des anstrengenden Besuches zuvor wurde es noch ein entspannter Abend.
Auch in den darauffolgenden Tagen geschah nichts Außergewöhnliches. Kemal versuchte sie immer wieder davon zu überzeugen, ihn doch zu Ria zu führen, was das einzig nervige war. Die Sturheit dieses Mannes ging ihr gehörig auf die Nerven. Mehrfach hatte man ihm bereits erklärt, dass sie nicht mehr in dieser Welt lebte - es war alles umsonst. Ihr Vertreter wollte einfach nicht lernen. Sah man von diesen Zwischenfällen ab, kehrte so langsam die ruhige Idylle zurück, die geherrscht hatte, bevor Sem Wesen auf Aleix gehetzt hatte.
Schweren Herzens betrachtete Suzi ein Foto von Ria. Sie hatte es nicht über sich gebracht, dieses Bild vom Schreibtisch zu räumen. Da ihre Schwester dieses Büro nie genutzt hatte, musste es ein Foto sein, das ihr Vorgänger aufgestellt hatte. Es zeigte ihre kleine Schwester beim Schlafen im Garten. Ein für Ria untypisches Bild. Vielleicht mochte sie es deshalb so sehr. Von ihrer Schwester wanderten ihre Gedanken zum Wegziehen und dann unweigerlich dazu, dass langsam auffiel, dass ihr Mann nicht alterte. Aber wohin? Sie wollte ihre gewohnte Umgebung nicht verlassen müssen. Aleix hatte vorgeschlagen in die nächste Stadt oder einen anderen Stadtteil zu ziehen. Dank ihrer Clans gab es örtliche Beschränkungen. So konnten sie Europa beispielsweise nicht verlassen. Zu Reisezwecken schon, aber beim Umziehen mussten sie sich auf ihren Heimatkontinent beschränken. Wenn sie ehrlich war, fand sie die Idee mit dem Umzug in die Nachbarstadt gar nicht so schlecht. Der Gedanke, alle zehn bis fünfzehn Jahre umzuziehen, gefiel ihr nicht sonderlich gut. Allerdings war es immer noch besser mit diesem Problem hier zu leben als drüben. Was hatte Anderswelt ihr gebracht? Nein, hier war ihre Welt. Ihr Mann war ihr Leben und ihr Clan ihre Familie.
Es klopfte im Rahmen und als sie aufsah, begegnete sie dem liebevollen Blick ihres Mannes. Seine grauen Augen musterten sie aufmerksam, während sie aufstand und auf ihn zu ging. In seinem schwarzen Hemd und der dunkelblauen Jeans sah er einfach nur atemberaubend aus. „Wie machst du das nur?", fragte sie verwundert und strich über den weichen Stoff seines Hemdes.
„Wie mache ich was?" Seine Stimme klang belustigt und veranlasste sie dazu, zu ihm aufzusehen.
Sie begegnete seinem klaren und sehr neugierigen Blick mit einem schüchternen Lächeln. „Dass ich mich nie an deinen Anblick gewöhnen kann."
Lächelnd zog er sie in seine Arme. „Eine Frage, die ich nur zurückgeben kann. Hallo mein Schatz." Er beugte sich zu ihr und stahl sich einen kleinen Kuss. „Bist du fertig für heute?"
Sie nickte knapp. „Ja. Ich habe mir nur gerade darüber Gedanken gemacht, wo wir hinziehen sollen."
Liebevoll strich er ihr über die Wange. „Das ist alles halb so wild, du wirst schon sehen. In fünfzig Jahren können wir wieder her ziehen. Wir sollten nur vermeiden mit den Menschen unseres jetzigen Umfelds in Kontakt zu treten. Sie würden bemerken, dass wir nicht altern."
Sie verstand es ja und doch gefiel es ihr nicht. Was zählte war, dass sie zusammen waren. Mit ihm würde sie bis ans Ende der Welt gehen.
Entfernt war die Türklingel zu hören. Nichts Ungewöhnliches, gingen ihre Clanmitglieder ja rund um die Uhr ein und aus. Ungewöhnlich war, dass Andreas sie aufsuchte und sie aufgeregt darum bat, ins Wohnzimmer zu kommen.
Suzi und Aleix tauschten kurz irritierte Blicke, ehe sie sich auf den Weg machten. Schon im Flur hörten sie Kemal, der nicht gerade leise auf jemanden einredete. „Wo steckst du bloß die ganze Zeit? Brauchst du Hilfe? Wie konntest du diesem Typen entkommen? Misshandelt er dich?"
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