.:42:. Widerliche Feiglinge

Da die Suche im Schloss in einer Sackgasse geendet war, wandten Ria und Eleasar sich nun den anderen Orten zu, an denen Sem von ihren Feinden aufgesucht worden war. Bis kurz vor Sems Hinrichtung hatten sie fast alle Orte abgearbeitet. Wie auch die Fährte im Schloss, wurden die vorhandenen Spuren irgendwann wertlos oder endeten abrupt.

Erschöpft lehnte Ria sich an ihren Mann. „Ich bin fix und fertig." Sie hatten gerade ihren Ausflug durch ein Moor beendet und gönnten sich nun auf einem umgestürzten Baumstamm eine kleine Pause. Besonders appetitlich sah es hier nicht unbedingt aus. Konnte man von einem Land auf den König schließen? Dann hätte schon früh erkannt werden müssen, wie kaputt Sem wirklich war.

Bereitwillig zog Eleasar sie in seine Arme. „Das hast du großartig gemacht, Liebling." Es war definitiv nicht leicht, unter all diesen verschiedenen Eindrücken eine Spur zu finden. Vor allem eine so alte Spur. Früher hatte er Schattenseelen für ihr Wesen verachtet, jetzt wusste er sie sehr zu schätzen - dass seine beiden Frauen einige der letzten Vertreterinnen ihrer Art waren, trug einen gewaltigen Anteil dazu bei. Je mehr Zeit er mit seiner Gemahlin verbrachte, desto deutlicher wurden ihm die Vorzüge ihrer Art. Sie konnte alte Spuren finden und mühelos verfolgen. Ein Bluthund hätte keine bessere Arbeit leisten können. Bei der Verfolgung legte sie eine Geschwindigkeit an den Tag, bei der er sich anstrengen musste, um mitzuhalten. Was aus ihr werden würde, wenn ihre Fähigkeiten voll entwickelt waren, war nur zu erahnen. Glaubte er den Schilderungen seines Vaters, so gehörte Rias Familie zu den mächtigsten und ältesten aller Schattenseelenlinien. Bislang hatte in dieser Familie noch jede Bindung ein Kind der gleichen Art hervorgebracht. Ob Ria davon wusste, war fraglich. Dennoch stellte sich da die Frage, weshalb ihre Schwester so schwach war. In Sems Erinnerungen hatte er einiges gefunden. Unter anderem auch die Versuche des wahnsinnigen Königs, Suzi zu seinem Bluthund abzurichten. Sämtliche Versuche scheiterten kläglich an Suzis Charakter und ihren sehr gering ausgebildeten Fähigkeiten.

Während Eleasar derartigen Gedanken nachhing, folgte Ria ihren ganz eigenen. Sie machte sich Sorgen um die geplante Hinrichtung und die Sicherheit ihrer Tochter. Sollten die Feinde herausgefunden haben, wann Sem hingerichtet wird und die Könige anwesend zu sein hatten, war diese Veranstaltung geradezu eine Einladung zum Attentat. Obendrein fehlte den Ländern dann der Oberbefehlshaber. „Was machen wir mit Linchen? Wir können sie schlecht schutzlos in Marjans Schloss zurücklassen."

Nur langsam tauchte er aus seinen Überlegungen auf. „Du hast recht." Er seufzte schwer. „Wir müssen sie mitnehmen."

„Nein!" Entsetzt sprang sie auf. „Elea, das ist Wahnsinn. Sie ist fünf! In ihrem Leben ist noch kein Platz für gewaltsame Tode."

Verständnislos krauste er die Stirn. „Ich hatte nicht vor, sie mit zur Hinrichtung zu nehmen. Wir überlassen sie dem Kindermädchen."

Entschieden schüttelte sie ihren Kopf. „Nein. Die haben schon Rahel auf dem Gewissen, da will ich nicht riskieren, dass die noch mehr Leute manipulieren, infiltrieren oder liquidieren, die mit unserer Tochter in Kontakt stehen könnten. Das Risiko ist zu groß." Ria hatte Rahel nie kennengelernt. Als Eleasar sie als seine Gemahlin der Gesellschaft Sídhes vorgestellt hatte, war ihr aufgefallen, dass sich im Körper der Königin ein Lich verbarg. Sem hatte davon gewusst und sogar eine nicht unerhebliche Rolle in dem Plan gespielt, die Königin zu töten und ihren Körper als Marionette zu gebrauchen.

Er ahnte, dass sie bereits eine Lösung für ihr Problem hatte. Eine, die ihm ganz sicher nicht gefallen würde. „Was hast du vor?"

Versöhnlich ließ sie sich wieder in seine Arme sinken. „Bringen wir sie zu Suzi."

Augenblicklich verkrampfte er sich. „Die Menschenwelt ist tabu", grollte er. Keine Sekunde lang würde er der männlichen Schattenseele das Leben seiner Tochter anvertrauen.

„Du weißt genau, dass unsere Feinde sie dort nicht vermuten werden."

„Das kommt nicht infrage", stellte er klar. Niemals. Eilean gehörte in diese Welt.

Seufzend löste seine Gemahlin sich von ihm. Zu diskutieren hatte keinen Sinn, das spürte sie deutlich. „Dann komm, gehen wir zu deinem Vater und verbringen das Bisschen Zeit mit unserer Kleinen, das uns momentan vergönnt ist."

Überrascht, dass sie so schnell klein beigab, brachte er sie fort. Sie landeten am Fuße des Berges, an dem die Burg seines Vaters lag. Nachdem Ria sich gefangen hatte, verkrampfte sie sich. Sie gab ein böses Knurren von sich, das an ein heftiges Gewitter erinnerte und rannte los. Nur mit Mühe konnte er Schritt halten. Er fragte gar nicht erst, was los war. Er konnte es sich denken.

Ungebremst rannten sie in den Innenhof, in dem Adele und seine Mutter mit Cian und Eilean spielten. Sara reichte ein einziger Blick, um zu verstehen, dass die Kinder in Gefahr waren und wies die junge Frau an, die Kleinen in ihre gemeinsame Mitte zu nehmen. Angespannt beobachteten sie, wie Ria sich auf einmal auf die Luft stürzte ... und verschwand.

Augenblicklich hielt Eleasar an. Wo war seine Frau? Kurz davor, seine schlimmsten Ängste erfüllt zu sehen, entsann er sich ihres Bandes. Erleichtert stellte er fest, dass es noch da war. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass es seiner Tochter gut ging, teilte er die Wahrnehmung seiner Frau - und erschrak. Das hier musste eine Zwischenebene von Geister- und Anderswelt sein. Die Konturen zweier Landschaften trafen aufeinander und verschwammen zur Undeutlichkeit. Man konnte nur erahnen, was sie jeweils darstellen sollten. Seine Aufmerksamkeit wurde von der Landschaft auf seine Frau gezogen, die sich gerade mit zwei schattenhaften Gestalten anlegte, die deutlich erkennbar Waffen bei sich trugen.

Außer sich vor Zorn hatte Ria sich auf denjenigen geworfen, der es gewagt hatte, ihrer Tochter am nächsten zu sein. Es galt zu verhindern, dass sie ihrem kleinen Engel Schaden zufügten. Diese miesen, feigen Wesen. Bedrohlich schwang sie das federleichte Schwert durch die Luft, in das Ragnarök sich verwandelt hatte. Dabei behielt sie auch den anderen im Auge. Es war derjenige, gegen den sie ihre ersten Kampferfahrungen in dieser Emotionssuppe gemacht hatte. Jetzt, da sie wusste, auf was sie sich zu konzentrieren hatte, würden ihr die gleichen Fehler nicht noch einmal unterlaufen.

Der fremde Unbekannte machte einen Schritt zur Seite, als wollte er sie umrunden. Kompromisslos warf sie das Schwert nach ihm. Ragna benötigte quasi keine Zeit, um wieder zu ihr zurückzukehren. Ansonsten hätte sie es sich auch nicht erlaubt, ihre Waffe aus der Hand zu geben. Sie traf ihr Ziel und ihr Gegner ging zu Boden. Gerne hätte sie dessen Leben jetzt ein Ende gesetzt, doch blieb ihr dazu keine Zeit. Der andere war dabei, sie ebenfalls anzugreifen. Geschickt wich sie den zugegebenermaßen sehr geschickten Angriffen aus und beförderte ihn zu Boden. Sie wollte sich gerade wieder ihrem ursprünglichen Opfer zuwenden, da spürte sie, wie Eleasar ihre Wahrnehmung teilte und es irgendwie schaffte, den Gegner, gegen den sie zuletzt gekämpft hatte, aus dieser Suppe zu ziehen. Das gab ihr die Gelegenheit, sich nun mit ungeteilter Konzentration um den anderen Gegner zu kümmern. Schließlich hatte sie mit ihm noch die eine oder andere Rechnung offen. Zum einen, weil er sich an der hilflosen Ceres vergangen hatte und zum anderen, weil er es geschafft hatte, ihr zuzusetzen. Und - das war sein größtes Vergehen - weil er ihre Familie bedrohte. Die Person vor ihr war ein verräterischer Feigling, der sich selbst an kleine Kinder anschleichen musste.

Sie spürte eine plötzliche Welle aus ihrem Inneren herannahen, so gewaltig, wie noch nie zuvor. Ihr Instinkt riet ihr, diesen eigenartigen Impulsen nachzugeben - also ließ sie sie zu. Ihr wurde ganz heiß zumute und ihre Sicht schärfte sich augenblicklich. Jetzt konnte sie erkennen, dass es sich bei ihrem Gegner um einen Mann handelte. Er sah seltsam vernarbt aus, als hätte er jahrelange Folter hinter sich. Schade, dass sie ihn schnell um die Ecke bringen musste. Der miese Hund hatte weitaus Schlimmeres verdient. Wenn sie mit ihm fertig gewesen wäre, wäre der Tod eine Gnade, die ihm verwehrt bleiben würde. Aber leider ging es in diesem Punkt nicht nach ihr. Jetzt musste sie dafür sorgen, dass der Kerl den Löffel abgab. Anschließend würde sie die Gegend sichern und Elea davon überzeugen, Eilean doch in die Menschenwelt zu schicken.

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