.:32:. Wüstenland

Vor ihnen, auf einer kleinen unscheinbaren Waldkreuzung, befand sich ein Schlachtfeld. Aber kein gewöhnliches. Nein. Überall lagen einzelne Gliedmaßen herum. Es dauerte einen Augenblick bis auffiel, dass es sich hierbei vorwiegend um Extremitäten handelte. Arme, Beine. Hier mal ein halber Torso, da ein Fragment eines menschlichen Gesichts. Es war grauenvoll. Und nicht nur das. Emotionsfragmente hingen wie Scherben in der Luft und nahmen ihr die Luft zum Atmen. Das war mit Abstand der grauenhafteste Ort, den sie in den letzten Jahren zu sehen bekommen hatte. Hier war einfach alles entstellt.

Ria. Ragnaröks Ausruf erreichte sie fast gleichzeitig mit der Eingebung, dass es hier etwas gab, das eine vollständige nahezu Spur vermittelte. Niemand konnte spurlos verschwinden, vor allem nicht nach so einem Verbrechen. Widerwillig löste sie sich von Eleasar. Das hier hatte Vorrang. Tief durchatmend ließ sie ihren Blick über die Leichenteile wandern. Vielleicht, ja, vielleicht gab es hier mehr als nur Fragmente. Eine irrsinnige Hoffnung. Was, wenn die Täter eine Spur hinter lassen hatten? Zweifelnd sah sie sich um. Nein, dann hätte sie sie vorher schon spüren müssen. Zwar drängten sich die scharfen Fragmente geradezu schmerzhaft in ihr Bewusstsein und behinderten somit ihre Wahrnehmung, doch war das nur vordergründig. Eine intakte Spur hätte sie garantiert wahrgenommen.

Rauch bildete sich um ihre Hand und als sie sie darum schloss, hatte Ragna sich in einen Stab verwandelt. Mit diesem bewaffnet hielt sie auf einen der größeren Extremitätenhaufen zu. Zaghaft schob sie Arme, Beine und diverse Gelenke beiseite - und zuckte entsetzt zusammen. Augenblicklich stand ihr Mann neben ihr. Wortlos betrachtete nun auch Eleasar diese Gräueltat. Über ihre Verbindung spürte sie seine Emotionen hochkochen. Abscheu und Wut waren wohl die prominentesten seiner Gefühle. Sie konnte es ihm nur nachvollziehen. Wer war so krank, etwas derartiges zu fabrizieren? Das hier war nicht nur grausam, das war pervers.

Plötzlich spannte sich Eleasar an. Auch Ria spürte, dass sich etwas an diesem Ort veränderte. Jemand anders betrat diesen Ort. Wer auch immer es wagte, sich von hinten an sie heranzuschleichen, während sie sich mit dem Grauen vor ihnen auseinandersetzten, würde sie kennenlernen. Und wenn es der Täter war, dann war es umso besser. Sie intensivierte ihren Griff um den Stab und fuhr herum. Ihre Instinkte übernahmen und schützten sie vor was auch immer da auf sie zukam.

Ein Fauchen drang auf einmal an ihr Ohr. Ein Fauchen? Woher kam das denn?

Hör auf. Das war Elea. Irritiert hielt sie inne. Warum sollte sie diesen Verbrecher nicht festsetzen?

Eiskalte Finger schlossen sich um ihre Handgelenke. Ein Ruck, dann wurde sie gegen etwas Hartes gepresst. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, sich über die Worte ihres Mannes zu wundern, als auf ihren Gegner zu achten. Dementsprechend wehrlos war sie.

Ihre Waffe löste sich in Rauch auf. Mit einem entschiedenen Kopfschütteln brachte sie sich zurück in die Realität. Und erschrak. Eine weiße Hand umklammerte ihre Schwerhand. Mit dem anderen Arm hielt der Ankömmling sie an sich gedrückt. Seltsame Farbkleckse verliehen seiner Haut ein merkwürdig krankes Aussehen. Als ob er dunkelblaue Flecken hätte.

„Lass mich los."

Eleasar tauchte in ihrem Blickfeld auf. Er war merkwürdig blass. „Ria?" Warum klang seine Stimme so tonlos. „Vertrau mir."

Warum sagte er so etwas? Warum sollte sie ihm nicht vertrauen? Und warum machte er ein Gesicht, als wäre ihm unendlich elendig zumute? Irritiert sah sie zu ihm auf.

Nach einem tiefen Atemzug seinerseits bekam sie ihre Antwort. „Mein Vater kann dich nicht loslassen."

Vater? Erschrocken wollte sie herumfahren, doch die Arme waren härter als Stahlseile. Ein warnendes Knurren durchfuhr die Wand hinter ihr. Augenblicklich erstarrte sie. Wie eine Maus im Angesicht einer Schlange. Wenn er sie so hielt, konnte das nur eines bedeuten. Immerhin war der Kerl ein Blutsauger. Ruhig, ermahnte sie sich streng. Es half nichts, wenn sie durchdrehte. Bislang hielt der Vampir sie nur fest.

Elea stand jetzt ganz dicht vor ihr. Aufrichtiges Bedauern spiegelte sich in seinen klarblauen Augen. „Er kann dich nicht gehen lassen. Dann würde er dich jagen." Ein schmerzhafter Schatten huschte durch seinen Blick. „Du hast ihn schwer verletzt." Er machte eine Pause, um seine Worte auf sie einwirken zu lassen. Dann setzte er erneut an. „Er braucht Blut."

Besagte Körperflüssigkeit wich schlagartig aus ihrem Kopf. Ihr wurde ein wenig schwarz vor Augen. Tja, dachte sie zynisch, jetzt muss er es sich aus meinen Füßen holen.

Über Eleas wunderschönes Gesicht legte sich kurz ein leicht amüsierter Ausdruck. Der war jedoch genauso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war. „Lass ihn von dir trinken."

War er wahnsinnig? Andererseits... Welche Wahl hatte sie schon? Um tiefe und vor allem ruhige Atemzüge bemüht, nickte sie.

Kaum hatte sie ihre Einwilligung gegeben, änderte sich Marjans Griff. Jetzt hielt er mit nur einer Hand ihre Arme fest, die andere strich ihren Nacken frei. Eleasars Miene verdunkelte sich in dem Moment, in dem sich spitze Fänge durch ihre Haut gruben. Halt suchend klammerte Ria sich an den Blick ihres Mannes. Sie versuchte in seinen Augen zu ertrinken und auszublenden, was gerade geschah. Während Marjan ihr Blut trank, tobte in ihr ein Orkan an Emotionen und Energien. Es war, als suchten die Kräfte in ihr ein Ventil. Plötzlich änderte sich alles. Vor ihr verschwamm die Welt. Zwar spürte sie sie noch immer, doch vor ihren Augen entfaltete sich eine gänzlich andere. Karges Felsland, soweit das Auge reichte. Nur hie und da durchbrach ein Büschel trockenes Gras die Erdkruste. Weiter hinten waren riesige Felsen auszumachen. Verwirrt sah sie sich um. Wo war sie hier? Marjan trank doch gerade von ihr auf dieser schrecklichen Waldlichtung. Was war das hier?! Als wäre sie ein Magnet, kamen plötzlich von überall her Schatten auf sie zu geschlichen. Nein, keine Schatten. Wesen. Groteske Wesen. In einem Umkreis von fünfzehn bis zwanzig Metern Entfernung blieben sie stehen. Schaudernd erkannte sie eine Banshee und mehrere von den eigenartigen Skelettwesen, mit denen sie es schon einmal zu tun gehabt hatte. Keine besonders nette Erinnerung. Aber es waren nicht nur diese gruseligen Wesen anwesend. Sie erkannte auch einige, die Kaninchen ähnelten. Da waren sogar Schlangen mit kleinen Flügeln an ihren Köpfen. Oder schöne, menschenähnliche Wesen. Jedoch zu schön, um einfach nur menschenähnlich zu sein.

Auf einmal wurde der Himmel in Feuer getaucht. Ein großes Wesen hielt auf sie zu, größer als alle anderen. Es ging aufrecht, hatte lange Arme und einen breiten Schädel, aus dem zwei Hörner ragten. Sein Körper war von Feuer umhüllt, nur hie und da konnte man einen Fetzen dunkler, lederartiger Haut erkennen. Unter den Flammen im Schädel meinte sie leuchtende schwarze Knopfaugen ausmachen zu können. Über der Flammengestalt ragten skelettierte, lederähnliche Flügel auf. Kurz vor ihr kam er zum Stehen. Die Hitze seiner Flammen leckte an ihrer Haut, griff sie jedoch nicht an.

In ihrem Kopf begann Ragnarök zu zischen. Ifrit.

Irritiert runzelte sie ihre Stirn. Ifrit?

Der derzeitige Herrscher unserer Ebene, schenkt man einigen Gerüchten Glauben. Angesichts ihrer Ratlosigkeit fügte er erklärend hinzu: Wir befinden uns in der Geisterebene. Oder Astralebene. Die, durch die wir die Welt gewechselt haben.

Endlich verstand sie. Ich wusste nicht, dass es hier solch reizende Gegenden gibt.

Wir haben diese Ebene auch nur als Sprungbrett genutzt, ohne wirklich anzukommen, erklärte ihr Drache ruhig. Ich bezweifle, aber, dass unser Gast hier wirklich der Herrscher ist. Wie wir Götterwesen, so sind auch die Ifrit beinahe ausgestorben. Es gibt fast keine Wesen mehr, die diese Welt zusammenhalten.

Das Feuerwesen stieß ein tiefes Grollen aus. Als er sprach, schien alles um sie herum zu vibrieren. „Schattenblut. Einmal mehr beginnst du deine Reise in dieses Reich."

Völlig verblüfft starrte sie das riesige Wesen vor sich an. Reise? Wieso sollte sie herkommen?

Als hätte ihr Gegenüber ihre Irritation gemerkt, lachte er grollend. Es klang, als würde ein Vulkan ausbrechen. „Du entdeckst uns langsam. Wir freuen uns auf deinen nächsten Besuch."

Endlich fand sie ihre Sprache wieder. „Warum habe ich noch nie von dir gehört? Ich meine, du bist nicht gerade unauffällig." Raphael hatte darauf geachtet, dass sie alle Geisterwesen kennenlernte. Er hatte sie beinahe tagelang in den kaiserlichen Archiven eingeschlossen, damit sie mit jedem bekannten Wesen vertraut war.

Das Lachen des Ifrit stoppte. Die Flammen zogen sich auf ein Minimum zurück, als er sich vorbeugte. Sein Atem brachte einen Haufen Ruß mit sich, sodass sie husten musste, um ihre Atemwege frei zu bekommen. Halt. Nein, sie musste nicht husten. Verwundert fasste sie sich an den Hals. Wieder grollte das Vulkanlachen durch den Boden. „Du bist feuerfest, Madame." Dann öffnete er in einer ausschweifenden Geste seine Arme. „Hier leben wir, die wir bei den edlen Wesen nicht geduldet sind. Zu obszön, zu abstoßend, zu beängstigend. Wir waren es leid, gejagt zu werden."

Die Geisterebene war ein Asyl für Dualwesen? Das waren ja ganz neue Töne. In ihren Gedanken murrte ihr Schattendrache. Kein Asyl. Ursprünglich unsere Welt. Jeder lebt in der Ebene, die einem am lukrativsten erscheint.

Das ergab wesentlich mehr Sinn. In der Ferne begann es plötzlich zu poltern. Wieder grollte die Erde, doch dieses Mal hatte es etwas Bedrohliches an sich. All die Wesen um sie herum verschwanden schlagartig. Als hätten sie Angst.

Das Feuer um den Ifrit intensivierte sich. „Geh, junges Blut, solange du noch nicht bereit bist, das Versprechen deiner Art einzulösen." Ohne Vorwarnung schleuderte er ihr eine Feuerkugel entgegen.

In Erwartung eines heftigen Schmerzes duckte sie sich. Doch nichts geschah. Abgesehen davon, dass ein Ruck durch ihren Geist ging und die Welt vor ihr sich in ihre einzelnen Bestandteile zerlegte.

Alles vor ihr verschwamm, bis sich ein neues Bild zusammensetzte. Eleasar, der sie in seinen Armen hielt. Leise unterhielt er sich mit jemandem. Es dauerte einen Moment, bis ihr Gehör wieder dazu imstande war, die Worte aufzufangen.

„...dürfen."

„Nicht sichtbar", brummte eine andere Stimme. Marjan.

So gut es ging, richtete sie sich in den Armen ihres Mannes auf und musterte den Vampir. Er wirkte verändert. Irgendwie jünger. War das möglich? Mit seinen Augen musterte er sie. Waren sie zuvor so hellgrau gewesen, dass sie farblos wirkten, schimmerten sie jetzt in einem eigenartigen sehr hellen Himmelblau. Auch seine Haare waren weniger farblos. Beinahe braun. Jetzt sah er fast ein wenig aus wie Eleasar. Nur fehlte dem Vampir die Farbtiefe.

„Was ist denn mit dir passiert?"

Eleasar zuckte erschrocken zusammen. Anscheinend war er dermaßen in Gedanken versunken gewesen, dass er ihre Bewegungen nicht bemerkt hatte.

Marjan schenkte ihr die Andeutung eines Lächelns. „Dein Blut hat's in sich." Während er sprach, bleckte er seine Fänge. Gruselig. Das war das erste Mal, dass er es in ihrer Gegenwart tat. „Allerdings sollte hier eher die Frage sein, was mit dir passiert ist." Mit den Augen deutete er auf ihren Arm.

Verwundert folgte sie seinem Blick. Er war schwarz. Erschrocken sprang sie auf. Das konnte doch nicht wahr sein! Hatte dieses Flammendings sie etwa angefackelt? Doch warum verspürte sie dann keine Schmerzen? Warum fühlte sie sich wie immer? Nun ja, wie man sich nach den letzten Erlebnissen halt so fühlte.

Nachdem sie den ersten Schrecken überwunden hatte, begutachtete sie ihren schwarzen Arm neugierig. „Als hätte ich einen Handschuh an." Alles fühlte sich so an wie immer. Selbst die Konsistenz ihrer Haut hatte sich nicht verändert. „Faszinierend."

Hinter ihr schnaubte ihr Mann fassungslos. „Du veränderst dich und nennst das faszinierend?" Er klang, als habe sie ihren Verstand verloren.

„Nun, was soll es denn sonst sein? Mir geht es gut. Du bist in meinem Kopf. Du müsstest das doch wissen."

Auf seinen finsteren Blick hin überprüfte sie ihre Verbindung. Wann hatte sie eine Mauer erbaut? Und wann war es ihr gelungen, ihn auszuschließen? Irritiert öffnete sie sich ihm. Sie konnte spüren, wie er genauestens ihren Zustand überprüfte. Nach einer ganzen Weile - er hatte sich mehrfach vergewissern müssen - schien er sich allmählich zu beruhigen. Mit einer kurzen, abgehackt wirkenden Bewegung fuhr er sich durchs Haar. Mit der anderen Hand griff er nach ihr und zog sie an sich. Als hätte er Angst, sie könnte sich jeden Augenblick auflösen. „Was ist passiert?"

Ja, was war eigentlich passiert? „Ich... ehm." Wie sollte sie ihm das bloß erklären? „Ich hab die Ebene gewechselt." So, Klippen wunderbar umschifft. Doch was das wirklich bedeutete, wurde ihr erst bewusst, nachdem sie es ausgesprochen hatte. Bislang hatte sie nur sporadisch sehen können, ob welche Wesen auf der Geisterebene in der Nähe waren. Dass sie die Ebene ganz bewusst sehen konnte, war etwas völlig Neues. Bislang war es mehr eine Art Wahrnehmung über ihren sechsten Sinn gewesen. Angestrengt grübelnd rief sie sich die Definition von Schattenseelen in Erinnerung. Halb Mensch, halb Geisterwesen. So genau stimmte das mit dem Menschen ja nicht ganz, aber das war egal. Es kam auf das halb an. Sie wusste, dass ihre Kräfte sich weiterentwickelten und sie auch erst langsam an das Maß heran kam, das sie hätte, wären ihre Kräfte nicht jahrelang verschlossen gewesen. So war es ihr zumindest erklärt worden. Dann war sie jetzt wohl irgendwie mit ihren beiden Seiten im Einklang. Oder? Liefen echte Schattenseelen wie Leinwände durch die Gegend und färbten sich immer mal wieder? Warum war ihr das an Suzi und Aleix noch nicht aufgefallen? Das musste sie überprüfen. Ob sie ihre Schwester und ihren Schwager dazu überreden konnte, für sie zu strippen?

„RIA!"

Sie erschrak so stark, dass sie mit donnerndem Puls in die Luft sprang. Irritiert sah sie ihren Mann an, der sie ihrerseits beinahe fassungslos musterte. Da fiel es ihr ein. Ihre Verbindung. Wenn er nur ihren letzten Gedanken gehört hatte...

„Na hör mal!" Entrüstet stemmte sie ihre Hände in die Seiten. „Was denkst du denn bitte von mir?"

„An was denkst du denn bitte?", lautete die nicht minder empörte Gegenfrage.

„Jedenfalls nicht an Orgien. Die beiden sind mit uns verwandt!"

„Jetzt wüsste ich gerne, worum es geht", meldete sich Marjan mit diebischem Vergnügen in der Stimme zu Wort.

„Vergiss es", knurrten sie beide gleichzeitig. „Ich war den Rätseln meiner Art auf der Spur", fügte Ria erklärend hinzu. Ratlos fuhr sie sich durchs Haar und ließ den Blick über den Wald streifen. An Marjan blieb sie hängen. Der auf seltsame Weise verjüngte Vampir hatte seine zuvor adrette Kleidung gegen irgendetwas Punkiges ausgetauscht. Dunkelblau und weiß. Und irgendwie konnte sie sich nicht des Eindruckes erwehren, dass es kaputt aussah. „Schickes Outfit."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top