.:31:. Altlasten
Eleasar hingegen schien diese Hemmung nicht zu haben. Kaum hatte die Kutsche das Tor passiert, zog er sie auf seinen Schoß und zwang sie, ihn anzusehen. „Was ist passiert?", verlangte er forsch zu wissen.
Was passiert war? Das wüsste sie auch gerne. „Warum blockierst du meine Fähigkeiten?"
Eine Weile starrten sie sich gegenseitig fordernd an, jeder auf die Antwort des anderen wartend. Schließlich seufzte Ria und lehnte sich an die Rückenlehne. „Ich weiß beim besten Willen nicht, was du meinst. Nichts ist passiert."
Ungläubig zog er eine Augenbraue hoch. „Du hast vorhin gedacht, dass wir ohne dich besser dran wären, weil du nicht gut genug für uns bist." Zuerst klang seine Stimme noch ganz normal, verfinsterte sich dann aber mit jedem weiteren Wort, sodass er sie zum Schluss böse anknurrte. „Ich werde dich nicht gehen lassen."
Jetzt lag es an ihr, ihn verständnislos anzustarren. „Sag mal, hast du sie nicht mehr alle?" Entrüstet verschränkte sie ihre Arme vor der Brust. „Nur weil ich realistisch bin, bedeutet das noch lange nicht, dass ich euch verlasse. Ich glaub, ich bin im falschen Film. Wenn das alles ist, kann ich ja gehen." Demonstrativ wandte sie sich von ihm ab. Ihre Hände lagen schon auf der Tür, als er sie zurück zog.
Eine Hand hatte er um ihre Taille geschlungen, die andere ruhte in ihrem Nacken. Sein warmer Atem strich sacht über ihre Haut, als er ihr mit rauer Stimme zuraunte: „Ich sagte doch bereits, dass ich dich nicht gehen lasse."
Am liebsten hätte sie ihn jetzt zusammengefaltet, doch über ihre offene Verbindung spürte sie, dass mehr dahinter steckte. Ihm ging es zwar auch darum, dass sie wieder positiv dachte, doch war das nur ein Teilaspekt. Sie staunte nicht schlecht, als sie erkannte, dass er mit Verlustängsten zu kämpfen hatte. Kein Wunder, dass er so empfindlich reagierte. Woher kamen diese Bedenken nur so plötzlich? Niemals würde sie ihn verlassen. Er war ihr Leben. Ohne ihn war sie aufgeschmissen.
Seine Anspannung ließ kaum merklich nach. Ganz zaghaft streiften seine Lippen ihre Stirn. „Ich möchte, dass du dir etwas ansiehst." Das mit deinem Frühstück tut mir leid. Ich werde dir nachher welches bringen lassen.
An seine Schulter geschmiegt verdrehte sie ihre Augen. Manchmal reagierst du doch irrational. Für sie war es gut zu wissen, dass er nicht alles durchplante. Obwohl, eigentlich wusste sie es schon lange. Es gelegentlich vor Augen geführt zu bekommen, war beruhigend. Du bist halt auch nicht perfekt. Sie konnte sich ihren halb schadenfrohen, halb gönnerischen Tonfall nicht verkneifen. Jetzt, wo die drohende Auseinandersetzung an ihnen vorbeigezogen war, konnte sie es sich erlauben, ihn ein wenig zu neckenden. Das konnte er verkraften.
Seine Mundwinkel zuckten amüsiert. „Weib, wirst du etwa aufmüpfig?" erleichtert stellte sie fest, dass er auf ihren neckenden Tonfall einging.
Einer spontanen Idee folgend riss sie ihre Arme hoch, nahm ihn in den Schwitzkasten und rief: „Nieder mit euch... Kerlen!" Wo blieb noch gleich der wütende Mob mit Fackeln und Mistgabeln?
Mit einem müden Lächeln befreite er sich aus ihrem Klammergriff. Wie immer war sie ihm hoffnungslos unterlegen, wenn es um physische Stärke ging.
Plötzlich erklangen draußen Stimmen. Neugierig beugte sie sich vor, um aus dem Fenster zu sehen. Sie passierten gerade eine kleine Ansammlung von Häusern, dann noch eine. Wie es aussah, waren sie in einem kleinen Dorf angekommen. Fragend wandte sie sich an ihren Mann. Der schüttelte lediglich stumm seinen Kopf. Keine Fragen. War ja klar.
„Du sollst dir etwas ansehen. Ich will wissen, ob etwas Ungewöhnliches vorgefallen ist", erklang es von hinter ihr.
Erschrocken zuckte sie zusammen. Sie hatte Marjans Anwesenheit gänzlich ausgeblendet gehabt. Fragend dreinblickend wandte sie sich an ihn.
„Meine Leute haben vorhin von ... eigenartigen Dingen berichtet."
Mehr war auch aus dem König nicht heraus zu bekommen. Frustriert kletterte sie vom Schoß ihres Mannes und brachte Ordnung in ihre Kleider. Wenn sie schon vors gemeine Fußvolk treten musste, dann wenigstens mit halbwegs ansehnlicher Kleidung.
Die Kutsche hielt und Eleasar stieg aus. Auf dem Weg nach draußen zischte sie Marjan ein ungehaltenes „Danke für die Warnung" zu. Sie hatte zwar nichts dagegen, behilflich zu sein, doch hätte sie schon gerne im Vorfeld davon gewusst. Mit Sicherheit wusste der Vampir ganz genau, was auf sie zukam. Es passte zu ihm, die Leute ohne Vorwarnung mit irgendwelchen Tatsachen und Grausamkeiten zu konfrontieren. Gekonnt ignorierte sie die Hand, die ihr Mann ihr anbot und stieg ebenfalls aus. Marjan war ihr auf den Fersen. Im hellen Tageslicht angekommen, ließ sie ihren Blick durch die Umgebung schweifen. Es war ein kleiner, beschaulicher Ort. Hie und da wiesen Straßen und Gebäude kleinere Mängel auf. Reich war dieses Dorf wohl nicht. Ein paar Leute hatten sich auf dem Platz eingefunden, auf dem sie standen, weitere kamen hinzu. Vielen stand Staunen und Unglaube ins Gesicht geschrieben. Vereinzelt konnte sie auch Furcht entdecken. Bei einem Herrscher wie Marjan konnte sie es den Leuten nur nachvollziehen. Der Vampir war nicht gerade für seine Schmuseeigenschaft bekannt. Ihr Mann war der einzige, den sie kannte, den der König hin und wieder ein bisschen weniger abweisend behandelte. Lag vermutlich daran, dass sein Sohn eine Menge Einfluss hatte.
Gespenstisch weiß, wie er war, glitt Marjan an Sohn und Schwiegertochter vorbei, bis er vor der kleinen Ansammlung Dorfbewohner stand. „Ich verlange euer Oberhaupt zu sehen." Seine ansonsten eher kalte Stimme klang seltsam mild.
Ria schauderte. So hatte sie ihn noch nie sprechen gehört. Als eine alte, gebrechlich wirkende Frau vortrat, sog sie scharf die Luft ein. Das sind alles Menschen.
Eleasars Blick streifte sie für einen kurzen Augenblick, dann wandte er sich wieder dem Geschehen zu.
Die Menschenfrau begann leise mit Marjan zu sprechen. Zu leise für Rias Ohren. Aber wollte sie auch wissen, um was es ging? Sie würde es eh schnell genug erfahren. Und jetzt mit anderen in Kontakt zu treten... Danach stand ihr nun nicht gerade der Sinn. Nicht, wenn sie gleich etwas wenig Erfreuliches zu sehen bekam. Und davon ging sie aus - schließlich verließ Marjan seine Burg nicht umsonst. Nein, er war einer der größten Stubenhocker, die sie kannte. Berufsbedingt. Übertroffen wurde er wohl nur noch von Raphael. Obwohl... Der Kaiser liebte es, in seiner Freizeit den Palast zu verlassen. Oft genug stand er unangemeldet vor ihrer Tür.
„Ria?"
Beim Klang ihres Namens sah sie auf. Der Ausdruck auf Marjans Gesicht besagte deutlich, dass er sie nicht zum ersten Mal ansprach. War sie so sehr in Gedanken versunken gewesen? Innerlich aufseufzend schüttelte sie ihren Kopf. Wenn sie mit ihrem Mann unterwegs war, neigte sie zur Unachtsamkeit. Das musste sie dringend abstellen. Nicht, dass es ihnen irgendwann einmal zum Verhängnis wurde.
Ich weiß dein Vertrauen zu würdigen, Liebste. Eleasars mentale Stimme hatte einen leicht amüsierten und zugleich zutiefst berührten Unterton angenommen. Er war gerührt. Wie niedlich. Jedes Mal, wenn er ihr durch kleine, oftmals unbedachte Gesten zu verstehen gab, wie sehr er sie liebte, ging ihr das Herz auf. Dieser Mann mochte zwar oftmals ein gefühlskalter Schuft sein, aber er war ihr gefühlskalter Schuft.
Schuft? Jetzt klang er eindeutig spöttisch. Deine Lieblingsbezeichnung für mein derartiges Verhalten war bislang eher „Mistkerl".
Oh, das denke ich immer noch, wenn du den mal wieder raushängen lässt. Aber momentan denke ich viel zu wohlwollend von dir. Auf Dauer kann das wohl nicht gesund sein. Ich meine, dein Ego ist ja schließlich schon groß genug.
Mein Ego ist nicht ansatzweise so groß, wie deines es zuweilen ist, meine Liebe.
Sie öffnete gerade ihren Mund, um ihm gebührend zu antworten, da funkte Marjan dazwischen. „Hey ihr beiden, ich finde es ja nett, dass ihr euch noch immer so gut versteht, aber hier wartet Arbeit auf euch."
Ihr Kopf ruckte herum und sie funkelte den Vampir böse an. „Es gibt Dinge, die müssen einfach geklärt werden."
Belustigt schüttelte ihr Schwiegervater seinen Kopf. „Wenn ich dann bitten darf." Seine Worte mochten vielleicht eine höfliche Aufforderung sein, sein Tonfall war es definitiv nicht.
Okay, ich korrigiere mich. Dein Vater ist der größte Mistkerl, den ich kenne. Er übertrifft sogar Blake. Und das will schon was heißen.
Plötzlich schloss sich Eleasars Hand fest um ihren Oberarm. Übertreib es nicht. Nur weil du genervt bist, musst du ihm kein Unrecht tun. Er würde niemals ein junges Mädchen, fast noch Kind, dazu zwingen, sein Bett zu wärmen.
Eingeschnappt riss sie sich los und stürmte in die Richtung davon, in die einige der Dorfbewohner beunruhigt blickten. Was auch immer dort zwischen den dichten Bäumen war, sie würde es damit aufnehmen. Das war allemal besser, als sich mit ihrem Mann zu streiten. Zumal er sie schon wieder als jemanden bezeichnet hatte, den man herum schubsen konnte. Und das war sie nicht. Nicht sie.
„Ria!" Eleasar rief ihr hinterher, doch sie ignorierte ihn geflissentlich. Sollte er doch verrecken.
Noch einmal rief er nach ihr. In seiner Stimme schwang ein warnender Unterton mit. Sie ignorierte ihn erneut. Was konnte er ihr schon antun? Nichts, was sie nicht schon erlebt hatte.
Der Weg wurde schmaler und ging in eine Biegung über. Sie war gerade an der Kurve angelangt, da brach die Welt auseinander. Auf einmal wirkte alles so seltsam langsam. Als würde sich die Welt um sie herum in Zeitlupe bewegen. Und dann war da ihr Mann, der sie an seine Brust drückte und fest in seine Arme schloss. „Das ist nichts, was du dir alleine ansehen solltest", flüsterte er ihr überraschend sanft ins Ohr. „Und was das andere betrifft, du warst damals einfach hilflos. Niemand außer dir verurteilt dich dafür. Du konntest nichts dafür."
Irgendetwas in ihr ging zu Bruch. Alles war wieder da. Das ganze Chaos von damals. Von vor sieben Jahren. Tränen traten unwillkürlich in ihre Augen und ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. „Ich war dabei, mich in ihn zu verlieben", entgegnete sie heiser. „Ich bin so erbärmlich."
„Nein", widersprach er scharf. „Dass du versucht hast, dich mit der Situation zu arrangieren, nachdem du gemerkt hattest, dass du dein Schicksal nicht ändern konntest, kann man dir wirklich nicht zum Vorwurf machen. Da hat dein Umfeld versagt."
Ja, sie wusste, wie er dazu stand. Das stellte er jedes Mal klar, wenn die Sprache auf dieses Thema fiel. Und dennoch. Solange sie es anders sah, waren seine Worte bedeutungslos.
Seine Arme schlossen sich eine Spur fester um sie. „Das mindert deinen Wert nicht im Geringsten." Er warf ihr das zentrale Wort geradezu verächtlich vor die Füße.
Der hatte vielleicht gut reden. Er musste ja nicht mit diesem Schandmal leben.
Tief in seiner Brust grummelte es. Oh, er war wütend. Nicht auf sie, das konnte sie deutlich spüren. Nein, für ihn stand außer Frage, dass sie das Opfer war. Aber das wollte sie nicht sein. Sie wollte sich nicht eingestehen, machtlos und verloren gewesen zu sein. „Du kannst nicht immer besser und stärker sein als alle anderen." Dieses Mal klang seine Stimme erschreckend weich. „Du verlierst doch auch gegen mich, ohne dich schlecht zu fühlen."
Das, dachte sie bitter, war etwas gänzlich anderes. Elea nutzte seine Stärke ihr gegenüber nicht aus. Er behandelte sie als Gleichberechtigte. Als Kostbarkeit. Niemals würde er auf die Idee kommen, anderen seine Macht und ihre Macht- und Wehrlosigkeit unter die Nase zu reiben. Nein, er war niemand, der seine Überlegenheit ausnutzte.
Behutsam strich er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. „Niemals", bestätigte er ihre Gedanken.
Hier, so sicher in seinen Armen, umgeben von seinem Duft und in Gedanken so innig miteinander verbunden, konnte sie ihm glauben. Sie war nicht schwach, nur weil sie sich nicht hatte wehren können. Allerdings fühlte es sich in diesem Punkt an, als würde sie auf einer dünnen Glasplatte über einem bodenlosen Abgrund stehen.
„Ich werde da sein und dich auffangen", versicherte er ihr flüsternd.
Ihr war, als führe er sie äußerst bedacht fort. Fort von diesem trübsinnigen Ort und hinein in freundlichere, sichere Gefilde.
„Schließ bitte einen Augenblick deine Augen und atme tief durch."
Vertrauensvoll folgte sie seiner Aufforderung. Als sie ihre Augen wieder öffnete, erschien die Welt gleich viel freundlicher. Sie wiederholte diese Prozedur noch ein weiteres Mal. Dann war sie sich sicher, sich wieder im Griff zu haben. Mit einem dankbaren Lächeln an ihren Mann griff sie nach seiner Hand und drückte sie. Worte waren überflüssig.
Seine Finger verwoben sich mit ihren. Mit einem knappen Nicken signalisierte er ihr, dass sie jetzt weiter gehen konnte.
Dieser schlichten und doch so bedeutungsschweren Geste verdankte sie einen weiteren Kloß im Hals. Unfähig, ihn weg zu räuspern, schenkte sie dem Weg ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Es dauerte nicht lang -nur ein paar Schritte -, da blieb sie wie angewurzelt stehen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top