.:30:. Auf und Ab

Anderswelt.

Dunkelheit umfing sie in dem Augenblick, in dem sie ihre Augen schloss. Wie sie es hasste, zwischen den Welten zu reisen. Mit Ragna war es ein ganz eigenartiges Gefühl gewesen. Als müsse sie sich durch die Ebene der Geister kämpfen. Oder besser gesagt, als sei diese Ebene wie ein Fluss voll von zähflüssigem Honig. So hatte es sich jedenfalls angefühlt. Um nichts auf der Welt würde sie freiwillig noch einmal einen solchen Trip unternehmen. Einzig und allein das dringende Bedürfnis, ihrer Schwester beizustehen, hatte sie dazu veranlasst Ragnas Theorie auszutesten. Es hatte sie eine Menge Kraft gekostet und sie wunderte sich noch immer, dass sie es geschafft hatte so lange durchzuhalten, bevor der psychische Druck und ihre Erschöpfung sie hatten zusammenbrechen lassen. Dass sie jetzt einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte sie ihrem Mann zu verdanken. Sie machte sich keinerlei Illusionen darüber. Er wollte, dass sie klar denken konnte. Zwar würde sie es um nichts in der Welt zugeben, doch sie war ihm dafür unendlich dankbar.

Als erstes hörte sie das unverwechselbare Rauschen von Blättern. Danach spürte sie eine Brise ihre Haare erfassen und sanft über ihre Haut streichen. Es war, als würde der Wind sie willkommen heißen, ja, sie liebkosen. Das war albern. Warum sollte der Wind so etwas tun? Es war doch nur Wind. Energisch schob sie diesen Gedanken beiseite. Vielleicht sollte sie sich noch ein wenig ausruhen.

Eleasar hatte einen Arm um ihre Taille geschlungen und hielt sie eng an sich gedrückt. Mit der anderen Hand strich er ihr sacht über die Wange. „Du kannst deine Augen ruhig öffnen."

Stumm schüttelte sie ihren Kopf. Sie wollte lieber noch eine Weile die Ruhe und Harmonie dieses Ortes genießen. Ein wenig in dieser imaginären Freiheit verweilen, die sie hier erlebten. Denn wenn ihr eines in den letzten Jahren schmerzlich bewusst geworden war, dann war es die Tatsache, dass ihr Geliebter alles andere als frei war. Er war an das Land und die Leute gebunden, durfte sich keine Fehltritte erlauben und wurde auf Schritt und Tritt bewacht, sobald er das Haus verließ. Auch wenn es ein großes und prächtiges Gefängnis war, so war sein Status dennoch ein Gefängnis. Und sie hatte sich zu ihm gesellt. Trauer überkam sie, als sie daran dachte, dass die Chancen so standen, dass er niemals frei sein würde. Nicht, wenn er Kaiser würde. Schmerzhaft krampfte sich ihr Herz zusammen. Niemals würde sie ihn alleine lassen. Aber es waren nicht nur sie beide. Es gab auch noch Eilean. Ihre Tochter hatte etwas Besseres verdient, als ein Leben in Gefangenschaft. Für Eilean wünschte sie sich Freiheit. Nicht grenzenlose Freiheit, das wäre utopisch. Doch Freiheit, für sich selbst zu entscheiden und nur für sich sorgen zu müssen. Vielleicht hatte auch sie das Glück, eines Tages ihren Seelengefährten zu finden. Doch bis dahin hatte sie ihren Geistgefährten, ihre Familie und Freunde, die ihr das Leben versüßten.

„Sie wird frei sein", flüsterte ihr Mann an ihrem Ohr. Offenbar hatte er ihren Gedanken gelauscht. Sie musste wirklich müde sein, wenn er sie schon unbemerkt belauschen konnte. Normalerweise schottete sie sich davor ab.

„Es waren anstrengende Stunden." Behutsam wanderte seine Hand zu ihrem Kinn, sein Daumen fuhr sanft über ihre Unterlippe. Ein wohliger Schauer rann ihr Rückgrat hinab. Wie lange war es her, seit sie Zeit für sich als Paar gehabt hatten?

„Viel zu lange", beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. Seine Stimme hatte einen rauen Unterton angenommen. „Ich kann dich vergessen lassen."

Ein verlockendes Angebot. „Wir haben einiges zu besprechen." Ihre Stimme klang dünn, als sie versuchte, sich seiner unheimlich starken Anziehungskraft zu entziehen. Vage erinnerte sie sich daran, dass sie sauer auf ihn war. Doch je länger sie an ihn gepresst dastand, seine Hand schwer auf ihrem Hüftknochen ruhend und er mit ihrer Unterlippe spielte, desto schwieriger wurde es, einen klaren Gedanken zu fassen. Woran hatte sie soeben noch gedacht?

Ein tonloses Lachen vibrierte tief in seiner Brust und jagte ihr wohliger Schauer durch den Körper. Es war wie verhext. Kaum kam ein Gedanke in greifbare Nähe, verschwand er auch schon wieder. „Manipulation ist Schummeln", murmelte sie gegen seinen Finger.

„Wenn es darum geht, dich von deinen Sorgen abzulenken, schummle ich gern", antwortete er heiser. Beim Sprechen berührten seine Lippen ihr Ohr. „Wir brauchen beide eine Auszeit. Unsere Kleine ist in Sicherheit. Warum entspannst du dich nicht ein wenig und lässt mich dich verführen? Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht."

Wie recht er hatte. Angesichts seiner Wortwahl musste sie jedoch schmunzeln. Er hatte seine Entscheidung schon längst getroffen. Selbst wenn sie jetzt ablehnte, würde er alles daran setzen, seinen Willen letzten Endes doch noch zu bekommen. So war er nun mal. Würden ihr nicht ständig die Kontras ausgehen, würde sie ihn noch eine Weile hinhalten und sehen, was er sich einfallen ließ. So blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren wackeligen Knien nachzugeben und sich an ihn zu lehnen. Ein stummes Zeichen der Einwilligung. Im gleichen Augenblick spürte sie, wie ihr Drachenfreund sich aus ihrem Geist verabschiedete. Offenbar wollte er keinen Voyeur spielen. Ihr war es nur allzu recht.

.

Die Holztür vor ihr erschien ihr auf einmal erschreckend massiv. Nie im Leben würde sie sie öffnen können. Unruhig blickte sie den Gang entlang. Ob es auffallen würde, wenn sie diese Mahlzeit ausließ? Natürlich. Er würde es herausfinden, wenn sie aufs Essen verzichtete.

Geh da rein, erklang seine forsche Stimme in ihren Gedanken.

Natürlich. Er beobachtete sie. Hast du nicht etwas mit deinem Vater zu besprechen? Wie angekündigt, hatte er sie zu Marjans Schloss gebracht. Aus einem unerfindlichen Grund wollte er sie nicht in der Hauptstadt haben. Ihr sollte es nur recht sein. Sie liebte die Umgebung um das Schloss herum und unternahm gerne ausgiebige Streifzüge durch den Wald. Es war der ideale Ort, um abzuschalten und auf andere Gedanken zu kommen. Wenngleich der Herrscher dieses Gebietes nicht unbedingt ihr Lieblingsdespot war. Mit Marjan stand sie auf dem Kriegsfuß, seit sie sich kennengelernt hatten. Immerhin hatte er sie selbstsüchtig aus ihrem alten Leben gerissen. Sie hatte es ihrem Mann zu verdanken, dass sie diesen Ort hatte verlassen können. Dummerweise war die Zeit danach noch bescheidener gewesen.

Ria. Eine deutliche Warnung schwang jetzt in seinen Worten mit. Ich kann das Essen auch auftragen lassen. Es ist mir egal, wo du isst, solange du nur isst.

Da war er. Ihr Mann, der Tyrann. Warum konnte er bei solchen Dingen nicht so feinfühlig sein wie sonst auch? Weil er sich sorgte. Das war irgendwie die Standardantwort, wenn er sich aufregte.

Aufregen? Jetzt klang er gefährlich ruhig. Das war gar nicht gut. Um nichts auf der Welt wollte sie ihn wütend machen. Nicht, nachdem sie einen so wundervollen und erfüllenden Tag hinter sich hatten. Was auch immer heute Morgen in ihn gefahren war, es war nicht gut für seine Laune.

Halte dich aus meinen Gedanken raus, fauchte sie zurück und stieß wütend die Tür auf. Auf seine Gesellschaft konnte sie getrost verzichten. Da nahm sie lieber Adeles Zorn in Kauf, weil sie sich monatelang nicht gemeldet hatte. Adele war ihre beste Freundin. Sie würde sie verstehen und ihr die Gesellschaft bieten, die ihr Mann nicht zu geben bereit war. In Gedanken streckte sie ihm mürrisch die Zunge heraus, bevor sie ihm metaphorisch die Tür vor der Nase zuknallte und sich ihrer Umgebung widmete.

Die Küche war noch genauso wie zu ihrem letzten Besuch, der Jahre zurück lag. Ein großer steinerner Raum mit modernen und altmodischen Akzenten. An einem großen Holztisch in der Mitte saßen einige Bedienstete und aßen. Nun, aßen traf es nicht wirklich. Denn kaum hatte sie die Tür aufgestoßen, blickten alle verwundert in diese Richtung und starrten sie mit weit aufgerissenen Augen an. Das Essen auf dem Tisch schienen sie vergessen zu haben. Einzig und allein eine Person war nicht zur Salzsäule erstarrt. Große grünbraune Augen trafen auf ihren Blick und erhellten sich augenblicklich, das bleiche Gesicht begann zu strahlen und kurz darauf sprang die junge Frau auf und rannte mit einem Freudenschrei auf Ria zu. Dabei flogen ihre blonden Locken wild umher.

„Ria!" Vergnügt quiekend warf Adele sich in ihre Arme.

Unendlich erleichtert erwiderte Ria die herzliche Willkommensgeste. „Ich bin so froh, dich zu sehen."

Begeistert ergriff die blonde Frau ihre Hände und führte sie zum Tisch, wobei sie munter drauflos plapperte. „Isst du mit? Du kannst meins haben, ich bin satt."

Mit einem dankbaren Lächeln nahm sie ihrer Freundin den Teller ab. Es war, als hätte es die letzten drei Monate keine Funkstille zwischen ihnen gegeben. Das war immer so. Egal, wie lange sie sich nicht gesehen hatten, die Zeit schien keine Rolle zu spielen. Und dennoch hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie keinen Kontakt gehalten hatte. Etwas, das sie sich geschworen hatte, niemals zu vergessen. Gut, dass ich das nie laut geschworen habe, dachte sie seufzend. Manchmal war sie eine schreckliche Freundin. Nicht nur das. Von Zeit zu Zeit war sie eine schlechte Gemahlin und eine noch schlechtere Mutter. Zu solchen Zeiten hatte sie ihre Familie nicht verdient.

Sie wollte gerade den Mund aufmachen, da flog die Tür auf. Keine Sekunde später stand Eleasar hinter ihr und nahm ihr den Teller aus der Hand. Wortlos bedeutete er ihr, nach draußen zu gehen. Mit einem entschuldigenden Blick auf ihre Freundin, folgte sie seiner stummen Aufforderung.

Draußen im Flur wartete Marjan auf sie. Er hatte seine Stirn in Falten gelegt und betrachtete sie nachdenklich. Sie konnte spüren, wie Zorn in ihr hochkochte. Dieser Mann hatte sie nicht so anzusehen. Überhaupt wollte sie von niemandem angesehen werden.

Eine Hand schloss sich eisern um ihren Oberarm. Komm. Offenkundig war Eleasar nicht dazu in der Lage, vernünftig mit ihr zu reden. Sein Befehl war ein zorniges Fauchen gewesen. Kein Wunder, dass er da die Klappe hielt. Sonst würden alle noch denken, er wäre zu echten Emotionen fähig.

Sein Griff verstärkte sich kurz - eine klare Warnung, dass er ihre Gedanken gehört hatte. Warum konnte er das? Sie hatte doch eine Mauer... Als sie sie überprüfte, fand sie keine. Eleasar war die ganze Zeit in ihrem Geist geblieben - seit sie wieder hier waren. Daher hatte er noch immer Zugang zu ihr. Sie konnte ihn nicht rauswerfen, weil sie ihn achtlos mit eingeschlossen hatte. Verärgert löste sie ihre Barriere auf. Doch als sie sie wieder schließen wollte, geschah nichts. Wütend starrte sie ihren Mann an. „Was soll das?" Was war aus ihrem paradiesischen Eierkuchenfrieden von heute Morgen geworden?

Wortlos bugsierte er sie in den Innenhof, wo eine Kutsche bereitstand. Äußerst irritiert ließ sie sich von ihm hinein heben. Was hatte das denn zu bedeuten? Er folgte ihr auf den Fersen. Was ihre Laune noch weiter in den Keller beförderte war, dass Marjan sie ebenfalls zu begleiten gedachte. Finster starrte sie ihren Schwiegervater an. Wie sollte sie denn mit ihrem Mann streiten, wenn sein Vater direkt daneben saß?

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top