.:29:. Rias böse Geister

Er hatte genug gesehen. Mit ungerührter Miene legte er die Bilder zurück. Dann fiel sein Blick auf eines, das keinen Mord zeigte, sondern Ria in den Armen eines ihm unbekannten Mannes. Und sie wirkten glücklich. Sie lächelte schüchtern in seine Schulter, während er sie locker in den Armen hielt und liebevoll anlächelte. Der unbekannte hatte braune Haare, ein markantes Kinn und ansonsten weiche Züge. Besonders durchtrainiert war der Mann nicht, aber seine Muskeln zeichneten sich unverkennbar unter der leicht gebräunten Haut ab. Nein, den hatte er definitiv noch nicht gesehen.

Ein erstickter Schrei lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Eingang.

Wie angewurzelt stand Ria im Türrahmen und starrte das Bild an. „Pack das weg", hauchte sie tonlos. Sie schwankte leicht, dann fiel ihr Blick auf Kemal, der sie traurig ansah. „Du hast die Bilder hergebracht, oder?" Ihre Stimme schwankte zuerst, wurde gegen Ende aber fester, von Zorn durchtränkt. „Zuerst lässt du zu, dass er das mit mir anstellt, dann lässt du ihn umbringen und jetzt tauchst du damit wieder auf?" Jetzt zitterte ihre Stimme.

„Ria", begann Aleix und streckte die Hand nach ihr aus. „Bitte..." Er kam nicht dazu, seine Aussage zu beenden. Er landete schneller auf dem Boden, als er registrieren konnte, dass sie nach ihm griff.

„Erzähl mir nicht, dass du dahinter steckst", fauchte sie verletzt.

Er konnte nicht reden, da sie ihm die Kehle zudrückte. Eleasar stand auf und legte seiner Frau sanft eine Hand auf die Schulter. Mit der anderen löste er ihren Klammergriff von Aleixs Kehle. „Das bringt nichts. Ich bin nicht ganz unschuldig."

Finster starrte sie ihn an. Plötzlich sah er es in ihren Augen glitzern. „Ich habe ihn nie geliebt. Das Bild war so ein Schock."

Bestimmt zog er sie von Aleix runter und in seine Arme. „Ria, er ist tot. Er kann dir nichts mehr antun. Glaubst du wirklich, ich würde zulassen, dass dir so etwas noch einmal widerfährt?" Sie begann zu zittern. Der Schatten ihrer Erinnerungen drückte zu schwer auf sie herab. Dass Suzi gerade eben noch einer ganz ähnlichen Sache entkommen war, machte die Sache nicht unbedingt besser.

„Du hast die ganzen Bilder gesehen", flüsterte sie schwach.

Er spürte, wie sie drohte, sich an den Erinnerungen ihres alten Selbst zu verlieren. Du hast nur versucht zu überleben. Schützend drückte er sie an sich und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Das ist Vergangenheit, mein Herz.

Das war nur wenige Monate, bevor ich dich kennengelernt habe. Selbst ihre Gedanken klangen kraftlos.

Du bist aber nicht mehr das verängstigte junge Mädchen von damals, das all ihre Emotionen abgestellt hat.

Ihre Augen weiteten sich, als sie ihn schockiert ansah. Woher wusste er das?

Ein schwaches Lächeln erhellte sein Gesicht. „Ich kenne dich mittlerweile gut genug. Selbstschutz nennt sich das."

Es dauerte eine Weile bis sie sich gefasst hatte. Mit noch immer weichen Knien ließ sie sich von ihm auf helfen und zum Sessel führen, wo sie sich auf seinen Schoß setzte und die Jäger der Reihe nach ansah. „Kemal." Einen Moment lang hatte es den Anschein, dass er die nächsten fünf Minuten nicht überleben würde. Dann nickte Ria ihrem arabischen Ziehvater kurz zu. „Glück gehabt, dass mein Mann dich leiden kann. Liegt wohl daran, dass du Blake den Garaus gemacht hast."

Kemal zuckte zusammen, während Eleasar leise in sich hinein lachte. Sanft fuhr er seiner Frau über den verspannten Rücken. Das brachte sie hoffentlich auf andere Gedanken und hielt sie davon ab, auf die anderen loszugehen. Nach außen hin mochte sie zwar gefasst wirken, aber innerlich war sie noch immer mehr als aufgewühlt. In solchen Fällen reagierte sie immer sehr gereizt.

Aleix hatte sich wieder aufgerappelt und sah seine Schwägerin prüfend an. „Für Sem ist das noch nicht vorbei, oder?"

Ria lachte hohl. „Nein, keineswegs. Sobald Elea und Raphi mit ihm fertig sind..."

„Vergiss es", fuhr Eleasar ihr dazwischen. Unter keinen Umständen würde er sie in die Nähe der Kerker lassen. In diesem Falle wohl zu Sems Schutz. Er wird öffentlich hingerichtet, wie es das Gesetz verlangt.

Ihr Schnauben bedeutete, dass diese Diskussion noch nicht beendet war. Lautlos seufzte er auf. Das konnte heiter werden. Vermutlich sollte er Eilean zu seinem Vater schicken. Seine Eltern würden sich freuen, ihre Enkelin wiederzusehen. Dann hatten sie genug Zeit, die Differenzen, die sich in den letzten Tagen angehäuft hatten, aus der Welt zu räumen. Wenn er ihre Stimmung richtig deutete, würde das einige Tage, wenn nicht sogar Wochen in Anspruch nehmen. Ein scharfer Schmerz zwischen seinen Rippen ließ ihn die Augenbrauen hochziehen.

„Das ist keine Einbahnstraße", raunte seine Frau ihm drohend zu. Offenbar war sie in seinem Kopf gewesen. Dabei hatte er erwartet, sie würde die leise Unterhaltung zwischen Kemal und Andreas verfolgen. Die beiden Jäger hatten begonnen miteinander zu reden, als Ria diese unnötige Bemerkung getätigt hatte. Von wegen er würde ihren Ziehvater mögen. Der Mann hatte zugelassen, dass sie verletzt wurde. Wissentlich.

„Manchmal wäre es besser für dich."

Wütend sprang sie auf. „Du und ich, wir beide. Draußen."

Ungerührt blieb er sitzen. „Das willst du nicht."

Zornig funkelte sie ihn aus ihren hellen Augen an. „Oh doch. Manchmal kann ich dich absolut nicht ausstehen, weißt du?" Demonstrativ krempelte sie den Ärmel ihres Schlafanzugs hoch. Jetzt war ihr nicht nach reden zumute.

„Warte, bis wir zuhause sind. Im Garten ist mehr Platz."

„Wir können hier auch in den Wald gehen. Aram besitzt hier doch ein Haus. Oder warte, gehört das nicht sogar deinem Vater?"

Er überging ihren bissigen Tonfall und betrachtete sie ruhig. Er wusste, dass es sie nur noch fuchsiger machte. Das war zwar eigentlich nicht sein Ziel, aber er wusste nicht anders zu reagieren. Wie sollte er das sonst angehen? Sich jetzt mit ihr zu streiten stand absolut nicht in seinem Sinn. Aber wie die Sache aussah, brauchte sie einen Streit. „Du hast recht." Andächtig legte er seine Fingerkuppen aneinander. „Das Haus gehört meinem Vater. Es ist allerdings in einem fraglichen Zustand."

Sie schnaubte. „Es sieht nicht wie frisch gebaut aus, so wie all deine Häuser. Meinst du das?"

Seufzend erhob er sich. „Nein. Es ist ausgebrannt." Aram hatte einmal erwähnt, dass sie das Haus nicht mehr nutzen konnten. Daher hatten sie es vor wenigen Jahren in Brand gesteckt.

Einen kurzen Augenblick stand sie nur sprachlos da. Dann schien sie sich daran zu erinnern, dass sie auf ihn sauer war und verschränkte mit missmutig verzogenem Mund die Arme vor der Brust. „Bringt mich trotzdem nicht davon ab, dir den Hintern aufzureißen."

„Du weißt, dass du keine Chance hast." Schließlich war es nicht das erste Mal, dass sie dieses Spielchen spielten. Bislang hatte sie kein einziges Mal gewonnen.

Herausfordernd funkelte sie ihn an. „Ach, ziert das Prinzchen sich etwa?"

Nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, die Augen zu verdrehen und zu seufzen. In manchen Belangen schien sie nie erwachsen zu werden. „Einer muss doch den vernünftigen Part übernehmen."

Die Augen verdrehend streckte sie ihm die Zunge raus. „Ich werde Eilean erzählen, dass du ein Spielverderber bist."

Eilean? Belustigt hob er eine Augenbraue. „Die Kleine wird dir einen Vortrag darüber halten, dass du dich zu benehmen hast."

Sie öffnete ihren Mund, als wollte sie widersprechen. Anscheinend fiel ihr nichts ein, denn sie schloss ihn wortlos wieder. „Das war mein Druckmittel", entgegnete sie schließlich eingeschnappt. Der Zorn war noch immer nicht aus ihren Zügen gewichen. Das bedeutete, er musste noch ein wenig ausharren. Hoffentlich verflüchtigte sich ihre Wut schnell wieder.

Seine Hoffnung wurde enttäuscht. Dank Kemal, der aufstand und Ria ansprach. „Süße, du brauchst dich nicht so aufzuregen. Dein Mann sollte wissen, was du durchgemacht hast."

Er sah, wie ihre Muskeln sich anspannten und stürzte los. Gerade noch rechtzeitig. Einen Augenblick später und sie hätte den Jäger auseinander genommen. „Beruhige dich." Entschieden verschränkte er ihre Arme auf dem Rücken und drückte sie eng an sich. „Reg. Dich. Ab."

Noch immer zerrte sie heftig an seinen Händen und versuchte sich zu befreien. „Lass mich los."

Er konnte die Verzweiflung und den Schmerz in ihrem Innern toben spüren. Sie war nicht sauer. Sie wollte einfach nur vergessen. Doch das gelang ihr nicht, wenn sie einfach wild drauflos schlug. Dieses Mal wechselte er die Sprache. Die Jäger mussten nicht alles mitbekommen. „Wenn wir zuhause sind, kannst du so lange mit mir kämpfen, wie du willst. Es wird jedoch nichts ändern, wenn du die hier Anwesenden in ihre Einzelteile zerlegst."

Seine Worte zeigten Wirkung. Der Sturm in ihr legte sich ein wenig und sie entspannte ihre Muskeln, sodass er sie ruhigen Gewissens loslassen konnte. Beruhigend legte er ihr eine Hand in den Nacken und strich sacht über ihre leicht erhitzte Haut. Jetzt war es wichtig, dass er Körperkontakt hielt. Das erinnerte sie daran, dass sie ihre Ängste kontrollieren konnte. Es war untypisch für Ria, sich so von ihren eigenen Gefühlen beherrschen zu lassen. Wenn er allerdings in Betracht zog, was sie alles erlebt hatte und wie tief sie das in ihrer Seele vergraben hatte, dann war es gar nicht so überraschend. „Du solltest dich jetzt verabschieden. Wir gehen meinen Vater besuchen. Wenn ich sicher bin, dass es dir gut geht, werde ich Eilean holen."

Panik rauschte durch ihren Körper. „Nein, nicht. Nicht meine Kleine. Sie sollen nicht wissen, wie es mir geht. Ich habe mich gleich wieder im Griff."

Er konnte förmlich sehen, wie sie sich vor ihren eigenen Emotionen verschloss. Absichtlich versagte er ihr, die Erinnerungen und Emotionen wieder in die gut verschlossene Ecke ihres Selbst zu verfrachten. Sie musste damit abschließen. „Niemand wird von deinen schlimmsten Erinnerungen erfahren, Liebling."

Wie besessen schüttelte sie ihren Kopf. „Nein." Plötzlich begann sie so stark zu zittern, dass ihre Zähne leise klapperten. „Bitte. Lieb mich oder kämpf gegen mich. Nur halt mich nicht teilnahmslos im Arm."

Völlig überrumpelt starrte er sie an. Teilnahmslos? Das Geschehen des gestrigen Abends hatte sie mehr als nur aus der Bahn geworfen. Nur wie brachte er es fertig, dass sie wieder in ihre Bahn geriet? Sie irrte meilenweit von der Strecke entfernt umher. Innerlich seufzend ließ er dann doch zu, dass sie ihre Erinnerungen und aufgewühlten Emotionen vergrub. Hier hatte es keinen Sinn. Sie brauchten eine ruhige Umgebung. Und die fanden sie seiner Ansicht nach nicht in der Hauptstadt. Nein, seine Frau musste raus aus ihrer gewohnten Umgebung. Er wusste auch schon genau, wo er sie hinbringen wollte. Nur musste sie sich dafür von der hiesigen Welt lösen.

Entschieden zog er sie in seine Arme, wobei sie ihr Gesicht an seiner Schulter barg und lautlos schluchzte. Mit seinem Körper schirmte er sie vor den Blicken der anderen ab. Sie mussten nicht wissen, wie schlecht es um sie bestellt war. Ragnarök übernahm gnädigerweise den Part, ihre Emotionen vor den anderen abzuschirmen. Zwar war nur Aleix in der Lage, ihre Emotionen zu lesen, doch selbst der musste es nicht, wenn er es verhindern konnte. Wie gut, dass der Gefährte seiner Frau das ebenso sah.

„Verabschiede dich von deiner Schwester, dann gehen wir. Du bist nicht in der Lage, dich mit anderen Komponenten deiner Vergangenheit auseinanderzusetzen", raunte er ihr besorgt ins Ohr.

Ihr Widerstreben war nur allzu deutlich spürbar, als sie mit einem stummen, kaum merklichen Nicken ihre Einwilligung gab.

Erleichtert streifte er mit seinen Lippen ihre Stirn. „Wir können noch einmal herkommen, wenn du wieder du selbst bist. In deinem derzeitigen Zustand machst du mir Angst."

Überraschung spiegelte sich in ihren faszinierenden orangenen Augen wieder. „Angst?", hauchte sie tonlos.

Seine Mundwinkel verzogen sich zur Andeutung eines Lächelns. „Das bist nicht du. Meine Frau ist stark, selbstbewusst und temperamentvoll. Jedem Problem stellt sie sich mit Begeisterung. Es gibt nichts, was sie wirklich in die Knie zwingen kann."

Seine gemurmelten Worte schienen sie zu berühren. Er konnte spüren, wie sich ihr Geist von dem Nebel ihrer früheren schlechten Emotionen reinigte und langsam aber sicher die junge Frau zum Vorschein kam, in die er sich unsterblich verliebt hatte. Sanft hob er ihr Kinn an und küsste sie zärtlich auf den Mundwinkel. „Liebling."

An seinen Lippen verzogen sich die ihren zu einem kleinen schüchternen Lächeln. „Es tut mir leid. Ich wollte dir keine Angst einjagen." Zögerlich hob sie ihre zwischen ihnen eingeengten Arme und nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. Liebevoll erwiderte sie seinen forschenden Blick. „Entschuldige."

Mit einem müden Lächeln löste er sich von ihr. „Wir sollten gehen."

Ihr Blick huschte bedauernd zu den Wesen aus ihrer Vergangenheit und ihrem Schwager. Einen Augenblick lang schien sie mit sich zu ringen, dann spürte er ihr Einlenken und sie fasste die andere Schattenseele ins Visier. „Sag Suzi, dass es mir leid tut. Wir müssen zurück. Bei Gelegenheit kommen wir nochmal vorbei und bringen Eilean mit. Dann kannst du deine Nichte einmal richtig kennenlernen."

Unendlich froh darüber, dass seine Frau endlich wieder Vernunft angenommen hatte, nahm Eleasar sie erneut in seine Arme. Er sah, dass sein Schwager etwas entgegnen wollte und beschwor schnell ein Portal herauf. Unter allen Umständen wollte er verhindern, dass er Ria zum Bleiben überredete.

Erstickte Aufschreie erklangen, dann verschwamm die Welt vor ihren Augen.

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