.:26:. Sems Wahnsinn

Lichter rauschten am Fenster vorbei. Einige Leuchtreklametafeln waren ebenfalls dabei, doch es war zu spät, um sie noch erkennen zu können. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Mit vor Verängstigung wild pochendem Herzen schielte sie zu ihrem Entführer hinüber. Unordentliche rote Haare, ein Ziegenbärtchen und fanatisch funkelnde Augen fielen ihr als erstes auf. Sem hatte sich verändert.

„Siehst du, Schatz? Ich finde dich überall." Seine Stimme klang bedrohlich leise. Sie wollte ihm gerade widersprechen, da legte er ihr warnend eine Hand in den Nacken. Der Druck seiner Finger schmerzte. Sie wimmerte, doch er drückte nur noch fester zu. „Du warst ungehorsam." Er beugte sich zu ihr vor, bis sein Mund nur noch wenige Millimeter von ihrer Wange entfernt war. „Ich habe dich gewarnt. Du gehörst mir."

Ängstlich schloss sie ihre Augen. Damals war sie ihm nur knapp entkommen. Wäre der Prinz nicht aufgetaucht, um sie auf Rias Bitte hin in die Menschenwelt zu ihrem Aleix zu schicken, hätte es böse geendet. Jetzt, Jahre nachdem sie geflohen war, musste er eine Mordswut auf sie haben. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Zuerst verweigerte sie ihm, sie zu haben und dann floh sie auch noch. Aber sie hatte es einfach nicht mehr ausgehalten. Alles in ihr hatte nach dem Mann verlangt, dem sie in Rias Haus das erste Mal begegnet war, jedoch nicht in ihrer Welt lebte. An guten Tagen hatte sie ihn vermisst, an schlechten war sie fast verrückt geworden vor Sehnsucht. An die Nächte wagte sie gar nicht erst zu denken.

Seine Hand verweilte noch ein wenig in ihrem Nacken - eine mehr als eindeutige Warnung, dass sie sich von nun an zu fügen hatte. Und genau das würde sie tun. Wäre sie mutig und erfahren wie ihre Schwester, würde sie sich zur Wehr setzen. Wäre sie ebenfalls erfahren und so veranlagt, wie ihr Mann, dann würde sie vorgaukeln zu gehorchen, sich einen Plan zurechtlegen, auf ihre Umgebung achten und den rechten Fluchtmoment abpassen. Doch das einzige, was sie vorzuweisen hatte, war ihre Loyalität. Nur leider half ihr die in einer solchen Situation nicht weiter. Es blieb ihr also gar nichts anderes übrig, als sie selbst zu sein und auf Rettung zu warten. Dass sie sie retten würden, stand außer Frage. Ihre Aufgabe war es von nun an am Leben zu bleiben. Dafür war es am besten, ihrem Entführer fürs erste zu gehorchen.

Als sie ergeben ihren Kopf senkte und leicht ins ich zusammensank, löste er triumphierend seine Hand von ihrem Nacken. „Braves Mädchen." Sie hatte genug Zeit gehabt, ihre rebellische Phase auszuleben. Jetzt war sie wieder sein und als solche hatte sie ihm zu gehorchen. Ohne Wenn und Aber. Nachdem sie ihm versichert hatte, dass sie ihm wirklich voll und ganz ergeben war, würde er sie zurück nehmen. In sein zukünftiges Reich. Mit einer Schattenseele an seiner Seite war er unschlagbar. Sie war das letzte Teil in dem Puzzle, das ihn zum Herrscher über alle Königreiche machen würde.

Stillschweigend hockte sie in ihrem Sitz und starrte auf das helle Leder des Sitzbezuges. Sie fürchtete sich vor dem was kam. Doch wenn sie jetzt aufgab, war alles vorbei. Sie durfte ihrer Angst nicht nachgeben. Auch wenn ihre Hände zitterten und kleine Perlen klammheimlich ihren Rücken hinunterliefen. Wenn das hier ausgestanden war, würde sie ihrem Mann nie wieder von der Seite weichen. Es war nur ein kurzer Augenblick der Unachtsamkeit gewesen, doch der hatte Sem ausgereicht, um sie zu überraschen und sie ins Auto zu zerren. Der Moment, in dem Aleix sich kurz mit ihrer Schwester unterhalten hatte, die vom Kaiser zurückgehalten wurde. Doch weshalb? Und was hatte seine Majestät hier zu suchen? Hatte das etwas mit Sem zu tun? So musste es sein. Weshalb sollte er sich sonst her begeben? Andererseits hatte er dafür seine eigenen Leute. Die Grübeleien über derartige Fragen erlaubte es ihr, der Bedeutungsschwere ihrer Situation für einen Moment zu entfliehen.

Plötzlich meldete sich Rub. Ich kann den kleinen Schattendrachen spüren.

Ragnarök. Wenn Rias Geistgefährte ihnen auf den Fersen war, dann würde ihre Schwester auch gleich bei ihnen sein. Ihr Vertrauen in ihre Familie wurde nicht enttäuscht. Vor Erleichterung hätte sie fast losgelacht. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich nicht durch eine unbedachte Reaktion zu verraten. Sem beachtete sie im Moment nicht, dennoch würde er jede unerwartete Reaktion ihrerseits zur Kenntnis nehmen. Dieser Mann war gefährlich. Kaum zu glauben, dass sie einst mit ihm das Bett geteilt hatte. Ein Schauer überkam sie bei der Erinnerung daran. Niemals wieder.

Halte durch, Suzi. Rub schickte eine Welle von Aufmunterung und Vertrauen durch ihren Geist, bevor er sich zurückzog. Hoffentlich sprach er sich mit Storm und Ragnarök ab.

Nach einer schier unendlichen Weile hielt der Wagen an. Ängstlich sah sie zu ihrem Entführer, der sie seinerseits scharf ansah. „Steig aus."

Es war ein Test. Ein offensichtlicher Test. Gehorsam schlug sie ihre Augen nieder und stieg aus. Hier draußen war es frisch, sodass es sie leicht fröstelte. Verstohlen sah sie sich an diesem Ort um. Sie mussten sich in einem Wald befinden, denn überall um sie herum standen Bäume. Rechts von ihr befand sich ein See, auf dessen Oberfläche sich der halb hinter Wolken verhangene Mond spiegelte. Wenige Sterne waren zu sehen, was bei den vielen Wolken auch kein Wunder war. Sie ließ ihren Blick über den See und eine Reihe von Bäumen gleiten, bis ihre Augen an einem Haus zu ihrer Linken hängen blieben. Ein Haus? Nun, kleine Hütte beschrieb das Gebäude treffender. Es konnte nur aus sehr wenigen Zimmern bestehen. Vermutlich eine Ferienhütte. Aber was wollte Sem hier? Wollte er sie nicht wieder mit nach Anderswelt nehmen?

„Rein mit dir ins Haus." Sem deutete auf die Tür und sie gehorchte wortlos. Wegrennen war zwecklos, solange sie nicht wusste, wie weit Ria entfernt war. Rub konnte zwar ihre Geschwindigkeit erhöhen, doch zurzeit war diese Fähigkeit nutzlos. War ihr Mann auch auf der Suche nach ihr und wurde er aufgehalten? In der Ferne waren vereinzelt leise Autogeräusche zu vernehmen. Sie waren also nicht allzu weit aus der Stadt heraus gefahren. Diese Geräusche konnten nur von der Autobahn stammen. Wenn sie sich recht erinnerte, waren sie nicht darauf abgebogen. Im Kopf überschlug sie die Möglichkeiten, wo genau sie sich befinden konnte. Wenn sie das schaffte... vielleicht konnte Rub Ria oder Aleix erreichen und ihnen ihren Aufenthaltsort mitteilen.

Drinnen war die Hütte gemütlich eingerichtet. Holzmöbel mit vielen bequem wirkenden Kissen begrüßten sie, als sie durch die Haustür direkt in die Wohnküche trat. Sem ließ ihr keine große Zeit, sich umzusehen. Rücksichtslos schob er sie weiter ins Bad. Ein kleiner weiß gekachelter Raum, der nur Dusche, Waschbecken und WC beinhaltete. Mit wild pochendem Herzen flüchtete sie sich auf die geschlossene Toilette. Was um alles in der Welt wollte er hier? Dass er hier ein Portal beschwören wollte, hielt sie für ausgeschlossen. Dafür hätte er auch jede andere Stelle wählen können und sich den Aufwand des Betretens des Hauses erspart. Sem führte etwas im Schilde - und dieses Etwas jagte dir eisige Schauer durch den Körper.

Ein genüssliches Lächeln malte sich auf seinen Zügen ab, als er sie gehorsam auf dem WC-Deckel sitzen sah. So gehörte es sich. Offensichtlich hatte ihr die kleine Auszeit nicht geschadet. „Du weißt, dass ich dich nicht so mitnehmen kann, Schatz." Unbarmherzig griff er nach ihren Haaren und bog ihren Kopf nach hinten. „Du kleine Hure hast einen anderen an dich heran gelassen." Wütend spuckte er ihr ins Gesicht. Ihr leises schmerzerfülltes Wimmern gefiel ihm. Langsam löste er seine Hand aus ihrem Haar und ließ sie zu ihrem Kinn wandern, dass er fest umschloss. Ihre Haut war noch weicher als früher. „Du wirst mir jetzt zeigen, wo das Zeichen deines Verrates zu finden ist."

Zitternd entzog sie sich seinem festen Griff. Jetzt wurde es wirklich unheimlich. Sie hoffte inständig, dass die anderen bald hier sein würden. Das, was der König vorhatte, konnte nur Schmerzen bedeuten. In seinen Augen stand ein Versprechen, dass sie unweigerlich kommen würden. Es gelang ihr nur mit Mühe, ihre bebenden Hände so weit unter Kontrolle zu bringen, sodass sie ihre linke Fußfessel freilegen konnte.

Plötzlich brannte ihre Wange. Kurz darauf nahm sie ein Klatschen wahr. Sem hatte ihr eine ordentliche Ohrfeige verpasst. „Du kleines Miststück. Ich hatte dir gesagt, du gehörst mir."

Tränen brannten in ihren Augen. Eine solche Demütigung hatte sie schon lange nicht mehr erfahren müssen. Hoffentlich kamen sie zu ihrer Rettung, bevor er Schlimmeres mit ihr anstellte.

Doch leider kamen sie nicht. Sie fing sich noch zwei weitere Ohrfeigen und ziemlich heftige Beleidigungen ein. Anschließend riss er ihre Hose auf und verdrehte ihren Knöchel so sehr, dass es schmerzte. Auf ihren Schmerzensschrei hin lächelte er nur kalt. „Du hättest mich eben nicht hintergehen dürfen." Ihr Puls donnerte so stark in ihren Ohren, dass seine Worte nur ganz schwach zu ihr durchdrangen. Dabei schrie er sie fast an.

Plötzlich zückte er sein Messer. „Ich werde dir diesen Schandfleck vom Körper schneiden und dir zeigen, wem du gehörst."

Vor Angst erstarrt blickte sie auf das Messer ins seiner Hand. Langsam und mit perverser Freude in den Augen aufblitzend ließ er es über ihren verdrehten Knöchel streichen. „So schön zarte Haut." Er erhörte den Druck. Mühelos durchschnitt die Klinge Suzis Haut. Ein paar Tropfen Blut quollen hervor. Jetzt begann sie sich zu wehren. Sie wollte auf keinen Fall seine Folter ertragen.

Rub, hol Ria und Aleix. Bitte. Verzweifelt schrie sie in Gedanken immer wieder nach ihrem Mann und ihrer Schwester.

Halte noch ein wenig durch, winselte ihr treuer Gefährte.

„Du sollst stillhalten", fauchte Sem und schlug rücksichtslos und brutal zu.

Wimmernd versuchte sie sich kleiner zu machen, doch er ließ es nicht zu. Kompromisslos riss er wieder an ihrem Knöchel und setzte die Schneide an. „Halt still oder ich entferne deinen Fuß gleich komplett."

Krampfhaft biss sie ihre Zähne zusammen, sodass sie knirschten. Sie durfte kein Zeichen von Schwäche zeigen, auch wenn ihr das verdammt schwer fiel. Mit einem Krachen flog die Badezimmertür auf. Nur Sekunden später verhing ein schwarzer Vorhang ihr die Sicht. Ria. Vor Erleichterung tanzten Sterne vor ihren Augen. Sie war gerettet. Der König hatte keine Chance gegen ihre Schwester. „Ich bin ja so froh", flüsterte sie benommen. Die Sterne verschwammen und wurden zu einem Meer, das zuerst gräulich wirkte, dann aber schnell in ein tiefes Schwarz überging.

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