.:25:. Manchmal ein Schatz

Fünf Minuten später hielten sie am Rande eines Sees. Hinter ein paar Büschen verborgen konnten sie ein kleines Häuschen ausmachen, in dem Licht brannte.

Mit einem geflüsterten „Sie ist hier" wollte Ria das Haus stürmen, wurde jedoch von ihrem Mann zurückgehalten, der einen Arm um ihre Taille schlang, sie an sich zog und mahnend den Kopf schüttelte.

Wieder erschien es Kemal und Andreas, als sei Ria ein kleines Kind, das lernen musste, wie man sich richtig anschlich. Dabei wussten sie beide nur zu gut, dass sie diese Kunst beherrschte. Auf einmal war sie verschwunden. Erschrocken rannten die beiden zu ihrem Mann, der lediglich tief seufzte. Lag ihm etwa nicht an Ria oder weshalb nahm er ihr plötzliches Verschwinden so gelassen hin? „Sie sollten hier draußen warten", erklärte er kurz angebunden und folgte lautlos er seiner Frau.

Wieder einmal tauschten Kemal und Andreas verwunderte Blicke. „Ich bin mir nicht sicher, was ich von ihm halten soll."

„Ria hat ein Kind", warf Kemal ein und starrte finster auf das Haus. „Warum hat sie denn nichts gesagt?" Ihn hatte der Schlag getroffen, als sie es ihm einfach so in einem Nebensatz offenbart hatte. Sie waren doch Familie. In seinen Augen hatte er ein Anrecht darauf, von solchen Dingen zu erfahren.

Mitleidig legte sein Kollege ihm eine Hand auf die Schulter. „Sie führt ihr eigenes Leben."

„Mit unheimlichen Personen." Finster dreinblickend starrte er Löcher auf die Stelle, an der zuvor Rias Mann gestanden hatte.

„Kemal. Ich weiß, dass sie für dich wie deine Tochter ist, aber du musst sie ihr Leben selbst leben lassen. Sie ist alt genug."

„Sie war noch ein Kind, als sie in all das verwickelt wurde."

„Ein Kind?"

Erschrocken fuhren beide herum. Rias Mann lehnte an einem Baum und schien ihr Gespräch mit Interesse verfolgt zu haben.

„Ich dachte, Sie sind im Haus", stammelte Andreas verlegen.

Der Mann zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Sie schafft das. Ich habe eher Mitleid mit dem armen Kerl, der gerade ihren ganzen Unmut abbekommt." Er machte einen Schritt auf die beiden Jäger zu. „Und jetzt wüsste ich gerne, was sie angedeutet haben. Ich habe in den letzten Jahren viele Seiten an ihr kennengelernt, aber sie war nie eine kaltblütige Killerin."

Offenes Erstaunen zeigte sich auf dem Gesicht der beiden anderen. „Wir haben sie nur so kennengelernt." Augenblicklich waren sie von einer tödlichen Stimmung umgeben.

Eindringlich blickte Eleasar den beiden in die Augen. Sein Blick blieb an Kemal hängen. „Sie haben für den Tod des Verantwortlichen gesorgt?"

Schwer schluckend nickte der Jäger. „Sagen Sie das bitte nicht zu laut. Mein Leben liegt in ihren Händen."

„Sie wird Ihnen nichts antun", entgegnete er mit belustigter Miene. Von seiner Grabesstimmung war nun keine Spur mehr zu spüren.

Zögerlich nickte Kemal. „Ja."

„Man sollte Ihnen einen Orden verleihen."

Bevor der verdatterte Araber etwas erwidern konnte, flog die Haustür auf und ein in Mitleidenschaft gezogener Mann mit feuerroten Haaren stolperte hinaus. „Mein Prinz, bitte. Eure Frau."

Eiskalt blickte Eleasar den Mann an. „Sem. Ich brauche dir nicht erst zu erklären, dass du festgenommen bist. Denkst du wirklich, ich würde meiner Frau in den Rücken fallen?"

Schockiert starrte der König zu ihm hinauf. „Ihr habt gelogen!"

Belustigt hob er eine Augenbraue. „Tatsächlich?"

„Warum habt Ihr Euch mir angeschlossen?"

Verwundert blinzelte Eleasar. Wo war denn der irre König auf einmal hin? Was hatte Ria ihm in dieser kurzen Zeit angetan? Ob er das wirklich wissen wollte? Dessen war er sich angesichts einiger interessant wirkender Wunden nicht ganz so sicher. „Zeitvertreib." Mit einer Hand malte er ein kleines Zeichen in die Luft, woraufhin sich Sems Arme und Beine so verdrehten, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Mit einem unterdrückten Aufschrei stürzte er zu Boden. „Du hast meine Frau dazu verleitet, alte Verhaltensweisen wieder anzunehmen." Mit einem kalten Blick beschwor er ein Portal herauf. „Denk im Kerker über deine Verfehlungen nach." Mit einem Gedanken schickte er Sem ins Reich der Bewusstlosigkeit. Ein weiterer und die restlichen überlebenden Schergen taten ihren letzten Atemzug. Mit einem Dritten verschwanden Sem und sein Anhang aus dieser Welt.

„Was war das?" Fassungslos starrte Andreas auf die Stelle, an der Sem nur Augenblicke zuvor noch gelegen hatte.

Unter Eleasars abweisenden Blick schrumpfte er ein wenig in sich zusammen. „Es gibt Dinge, die müssen Sie nicht wissen."

„Sem!" Rias aufgebrachter Schrei hallte durch die Nacht und ließ alle drei Männer herumfahren. Wie ein dunkler Racheengel stand sie in der Tür und suchte die Umgebung nach dem König ab. „Elea, wo ist er?"

Ihre Wut war deutlich zu spüren. Wenn seine Laune sank, beeinflusste es das gedachte Empfinden anderer. Bei Ria war es etwas anderes. Wenn sie wütend war und ihre Kräfte nicht im Griff hatte, fühlte man, was sie fühlte. Mit eiskalter Miene wanderten ihre Augen wild umher, immer wieder auf der Suche nach Sem. Irgendetwas musste vorgefallen sein. Etwas Schreckliches, denn normalerweise hatte sie sich im Griff. Besorgt ging er zu ihr, blieb jedoch wenige Schritte von ihr entfern stehen. Sie war außer sich - ihre Augen funkelten voll Mordlust, die Wangen leicht gerötet. Nichts war mehr von der lebensfrohen, waghalsigen jungen Frau zu sehen, in die er sich verliebt hatte. Der Frau, die sie war, wenn sie daheim waren.

„Ria." Er legte alle Ruhe, die er angesichts ihres erschreckenden Zustandes aufbringen konnte in seine Stimme. Gleichzeitig bot er ihr seine Hände an. „Sem ist nicht mehr hier."

Sie zeigte keinerlei Reaktion, starrte ihn nur außer sich vor Zorn an. Nahm sie ihn überhaupt richtig wahr? Dass sie ihn nicht angriff bedeutete, dass sie ihn zumindest nicht als Feind ansah. Die Handflächen auf sie gerichtet, trat er einen kleinen Schritt auf sie zu. „Sem ist weg, Liebes. Er kann keinem mehr etwas antun."

Die Wildheit in ihren Augen begann zu schwinden und die unerträgliche Anspannung wich ein wenig aus ihrem Körper. Seine Worte zeigten Wirkung. Erleichterung durchströmte ihn. Über ihre Verbindung griff er nach ihr. Nun, da sie sich nicht mehr von allem abschottete, konnte er sie erreichen. Sobald er ihre Seele berührte, stürzte sie sich in seine Arme.

„Er hat sich an ihr vergreifen wollen", schluchzte sie und klammerte sich verkrampft an ihn. „Er wollte..." Ihre Stimme brach, doch sie musste auch nicht zu Ende sprechen. Er hatte die Bilder in ihren Gedanken gesehen.

Aus sicherer Entfernung beobachteten Kemal und Andreas verblüfft, wie Rias Mann sie erreichte. Niemals hätten sie sich in ihre Nähe gewagt. Doch kaum war ihr Mann ihr nahe gekommen, brach sie aus ihrer Stimmung aus und warf sich an dessen Brust. In diesem Moment erkannten sie, dass dieses Gezanke von zuvor nichts mit der eigentlichen Beziehung der beiden zu tun hatte. Der ihnen unbekannte Mann, den der Verbrecher Prinz genannt hatte, wirkte nun gar nicht mehr wie der überhebliche Kerl von vorhin. Stattdessen wurde er zu einem sicheren Hafen, der ihrer ehemaligen Clanführerin die dringend benötigte Geborgenheit und Ruhe schenkte. Die Atmosphäre um sie herum normalisierte sich, die sirrende Wut verschwand. Als sie sich sicher waren, dass Ria ihnen nichts tun würde, traten sie zu den beiden.

„Sie ist drinnen", erklärte der Fremde ruhig. Ria stand dich bei ihm, schmiegte sich in seine Schulter und klammerte sich geradezu an ihn.

Kaum waren Kemal und Andreas im Haus verschwunden, brach Ria in bitterliche Tränen aus. Sanft hob Eleasar sie auf seine Arme und trug sie zum See. Dort setzte er sich hin und ließ zu, dass sie sich auf seinem Schoß zusammenrollte. Wortlos strich er ihr durchs Haar und wartete, bis sie sich ihren Kummer von der Seele geweint hatte. Wieder hier zu sein, hatte einiges in ihr aufgewühlt und Erinnerungen hochgebracht, die sie lieber vergessen hätte.

„Es ist gut", flüsterte er ihr beruhigend ins Ohr. „Er ist fort."

Wie ein Mantra wiederholte er diese Worte für sie, bis sie zu ihr durchzudringen schienen. Kummer stand in ihren orangenen, glitzernden Augen. Um Verzeihung bittend sah sie ihn an. „Es tut mir so leid." Unaufhörlich strömten Tränen ihre Wangen hinab. „Ich kann einfach nicht aufhören", erklärte sie entschuldigend mit den Schultern zuckend.

Liebevoll zog er sie an sich. „Ich kann spüren, wie durcheinander du bist." Das, was sie in dem kleinen Haus gesehen hatte, war dafür verantwortlich, dass sie kurzzeitig Gegenwart und Vergangenheit nicht mehr hatte auseinanderhalten können. Später würde sie ihm alles erzählen müssen. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Erklärungen.

„Komm", flüsterte er ihr ins Ohr und stand auf. „Tob dich aus." Ohne auf ihre Antwort zu warten, griff er sie an. Ria reagierte zuerst nur instinktiv und wich ihm lediglich aus. Dann auf einmal schien es, als hätte sich ein Schalter umgelegt und sie übernahm den angreifenden Part. Schonungslos zog sie sämtliche Register, um ihren Mann in die Bredouille zu bringen. Das gelang ihr auch das eine oder andere Mal.

Sie kämpften, bis sie das Gefühl hatte, dass ihre Welt wieder in Ordnung war. Anstatt ihrem Mann einen weiteren Kinnhaken zu verpassen, schloss sie ihn in ihre Arme. „Manchmal bist du kein Blödmann, sondern ein Schatz."


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