.:23:. Blutige Erkenntnis
Schon bei den ersten Worten dieser bekannten Stimme fiel Suzi ein Stein vom Herzen. „Ria."
Überrascht wandten sich alle anderen um. „Ria?" Aleix konnte seinen Augen nicht trauen. Wie war sie hierhergekommen? Automatisch scannte er den Hintergrund nach ihrem vermutlichen Begleiter, doch vom Prinzen war weit und breit keine Spur zu sehen.
„Ria." Kemal sank auf die Knie, als er seine Ziehtochter erblickte. Sie wirkte schlank und trainiert wie eh und je, mit hüftlangen schwarzen Haaren und atemberaubenden hellbraunen, fast orangenen Augen. Ein entschlossenes Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie einen Schritt vortrat. Dabei fiel auf, dass sie unter ihrem schwarzen Mantel eine weite Stoffhose trug und eine eng anliegende Bluse. Sie sah erwachsener aus. Reifer und gefestigter. Ihre kindliche Aura war verschwunden.
Ria bedachte ihn mit einem knappen Nicken. „Wie es aussieht, habe ich es gerade noch rechtzeitig geschafft." Gelassen zwinkerte sie ihrer Schwester zu und klopfte Aleix aufmunternd auf die lädierte Schulter. Dabei zuckte er kaum merklich zusammen. Suzi hatte recht, er war noch nicht wieder völlig auf dem Damm.
Bereit?, fragte sie Ragnarök vorfreudig. Sie hatte einen guten Kampf noch nie ausschlagen können. Wobei, verbesserte sie sich in Gedanken, dieser Kampf nicht gut werden würde. Der letzte war ja auch mehr eine Lachnummer gewesen. Dieses Mal würde sie ihn sofort ausschalten und ihm nicht die Möglichkeit gewähren, Unbeteiligte zu verletzen.
Im Gegensatz zu ihr war ihr Schattendrache nicht ganz so voller Elan. Die Reise in diese Welt schien ihn leicht benebelt zu haben. Wenn du es bist. In seiner dezent geschwächten Stimme schwang grimmige Entschlossenheit mit. Diese Männer bedrohen deine Familie. Legen wir sie um.
Darauf hatte sie gewartet. Mit wehendem Mantel schritt sie an den beiden aktuellen Clanführern vorbei auf die wartende Gruppe zu. Christian sah noch genauso aus wie vor Jahren. Kahlkopf, mehr Tattoos als gut für ihn war und übermäßig trainierte Muskeln. „Man sollte meinen, du hättest deine Lektion gelernt. Wähle deine Waffe."
Dem Moldawen fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er seine Gegnerin erblickte. „Was machst du denn hier?! Warst du nicht verschwunden?"
„Die Betonung liegt auf war." Ungeduldig deutete sie auf ihn. „Also. Die gleiche Waffe, wie letztes Mal? Dann hoffe ich für dich, dass du sie jetzt benutzen kannst."
Mit einem triumphierenden Grinsen auf den Lippen zog er ein Schwert. „Dieses Mal bin ich nicht so leicht zu besiegen."
Denk daran, dass ich mich in dieser Welt nicht als Waffe materialisieren kann, wanderte Ragnas Stimme durch ihre Gedanken. Es war eine Erinnerung an die Unterschiede der beiden Welten. In Sídhe, oder besser gesagt Anderswelt - denn genau genommen war Sídhe der Name des Reiches, das Raphael regierte -, konnte er ohne Probleme sein volles Potenzial entfalten. Hier, in der Menschenwelt hingegen nicht.
Ich weiß. Was glaubst du, warum wir vorhin in der Kampfschule waren und uns Waffen geborgt haben? Demonstrativ schlug sie ihren Mantel zurück und zog ein Schwert. „Waffe gewählt. Lass einen von deinen Leuten anzählen."
Suzi konnte es noch immer kaum glauben. Ria war da. Ihre kleine Schwester war tatsächlich vorbeigekommen, um ihr zu helfen! Sie konnte ihre Erleichterung nicht einmal ansatzweise in Worte fassen. Rias Anwesenheit war gleichbedeutend mit Aleixs Leben. Dafür stand sie ihr auf ewig in der Schuld. Sie wusste nicht, wie sie es hätte überleben sollen, wäre ihrem Mann etwas zugestoßen.
„Das ist auf deinen Mist gewachsen?", fragte Aleix, dem die offenkundige Erleichterung seiner Frau nicht entgangen war. Er war zugleich gespannt und erleichtert. Wenn Ria hier war, konnte eine gesunde und fähige Kämpferin das Duell entscheiden. Aus Erfahrung wusste er, dass sie ebenfalls in der Lage war, mit mehreren Angreifern gleichzeitig fertig zu werden. So gesehen war ihr Auftauchen ein kleines Stück weit ihre Rettung. Er fürchtete einzig und allein die Reaktion ihres Ehemannes. Gespannt beobachtete er das weitere Geschehen vor ihm. Mit einem lauten Kampfschrei stürzte Christian sich auf Ria. Das war ein Fehler, denn Sekunden später lag er schwer verletzt auf dem Boden. Sein Blut tränkte das Gras und verlieh der ganzen Szenerie den Anschein eines Opferrituals. Dem überraschten Gemurmel der Umstehenden zufolge hatten auch sie nicht mitbekommen, was genau die schwarzhaarige junge Frau da getan hatte. „Das ist eine der Techniken, die man dem Prinzen nachsagt. Er bewegt sich so gut wie war nicht. Sieht aus, als würde der Gegner sich selbst verletzen." Suzis Stimme drang gedämpft an seine Ohren. „Ich wusste nicht, dass meine Schwester das auch kann."
„Sie sind seit einigen Jahren aneinander gebunden", erinnerte er sie liebevoll. Zwar war Ria eben Ria, abenteuerlustig und immer für einen Kampf zu haben, doch wunderte es ihn, dass sein Schwager sie überhaupt kämpfen ließ. Immerhin war Ria drüben kein Niemand. War es da für sie überhaupt schicklich? Schnell schüttelte er diesen Gedanken ab. Ria scherte sich keinen Deut darum. Und momentan kam es ihnen zugute. Er konnte sich später noch genug über die Beziehung seiner neuen Familienmitglieder machen. Zunächst einmal galt es den Abend zu überleben.
Bewegungen im Schatten erregten seine Aufmerksamkeit. Ihre Linien waren umzingelt. Ihm gefror das Blut in den Adern, als er erkannte, dass kein Tropfen menschliches Blut durch deren Adern floss. So viele waren vorhin noch nicht da gewesen. Woher kamen sie bloß? Wenn Ria hier war, konnte sein Schwager unmöglich etwas damit zu tun haben. Oder etwa doch? Das würde sich wohl bald herausstellen. „Besuch aus der anderen Welt."
Seine Frau nickte. Sie hatte die Anwesenheit der anderen Wesen ebenfalls gespürt. Angespannt betrachtete sie den Mittelpunkt des Geschehens. Ria hockte sich neben den Geschlagenen und beugte sich leicht vor. Dabei fielen ihre Haare nach vorne und versperrten allen Zuschauern den Blick auf das, was sie sagte und tat. Erst der erstickte Aufschrei einer Frau in der Gruppe des Herausforderers brachte Aufschluss. Sie hatte Christian getötet. Bei genauerer Betrachtung hatte sich auch ihre Ausstrahlung geändert. Zuvor war sie einfach nur entschlossen gewesen, jetzt hingegen verströmte sie Kompromisslosigkeit und Kälte. Als sie aufstand und provozierend den anderen gegenüber trat, schien die Gruppe zu schrumpfen.
„Gibt es hier noch irgendjemanden, der es wagt, die Clanleitung anzuzweifeln?" Ihre Worte waren vielleicht neutral gewählt, doch ihre Stimme sprach eine ganz eigene Sprache. Ihr Tonfall besagte: „Wer von euch will ebenfalls ins Gras beißen?"
Als keiner antwortete, steckte sie ihr Schwert weg. Elende Feiglinge. Hoffentlich war das genug Abschreckung, sodass Suzi von nun an ihre Ruhe hatte.
Die anderen stehen kurz vor einem Angriff, warnte Ragnarök mit leisem Knurren.
Wie auch immer diese Wesen hergekommen waren, wenige waren es nicht. Und sie waren alle auf einen Kampf aus. Die Luft vibrierte nur so vor Anspannung. Vor lauter Vorfreude auf einen ordentlichen Kampf, ließ sie ihre Knöchel knacken. Das würde spaßig werden. Leider waren die Neuankömmlinge noch nicht bereit, sich zu offenbaren. Vermutlich musste sie erst so tun, als hätte sie nichts bemerkt. Na bitte, diese Show sollten sie haben. Für alle Anwesenden deutlich sichtbar kramte sie in den Untiefen von Eleasars Mantel nach einem Haargummi. Ihr Mann trug immer welche mit sich herum. Schließlich musste er für alle Notfälle gewappnet sein. Während sie suchte, ging sie langsam zu ihrer Schwester und Aleix. Im Kampf hatte sie sich bislang immer auf ihn verlassen können. Außerdem mussten sie Suzi beschützen, die leider keine große Kämpferin war.
Mit großen Augen sah die ältere die jüngere Schwester an. „Warum hast du ihn umgebracht?"
Unter Rias eindringlichem Blick schrumpfte Suzi ein wenig in sich zusammen. „Er ist ein Unruhestifter mit einer zu großen Anhängerschaft. Schon damals hat der seinen eigenen Fan..." In ihrem Kopf rastete etwas ein. Es war ein Mix aus Erinnerungen an ihr erstes Aufeinandertreffen mit Christian und einer Bemerkung, die Eleasar einmal über Sem hatte fallen lassen. Sollte der irre König wirklich dahinter stecken, erklärte das Eleasars Verschwinden und das Ausmaß an übernatürlichen Wesen. Er hatte es auf Suzi abgesehen! Deshalb war auch nur Aleix verletzt worden und nicht ihre Schwester. Ragna. Die zahlenmäßige Anwesenheit der Wesen konnte nur eines bedeuten: Das hier war eine Art Showdown.
Schon zur Stelle. Ein schwarzer Nebel erschien am Rande ihres Blickfeldes. Ragnarök war da und er verschleierte sie. Mit seiner Hilfe und dem mäßigen Licht der Dämmerung war es für normale Augen geradezu unmöglich, sie zu erkennen. Sie war nicht länger gewillt zu warten.
„Keine Zeugen", raunte sie Aleix zu und rannte auf die Bäume zu. Den ersten erwischte sie mit dem Schwert, dem nächsten rammte sie ein Messer in die Luftröhre. Als der gurgelnd zu Boden stürzte, wurden die anderen um ihn herum auf sie aufmerksam und gingen ihrerseits zum Angriff über.
Die sind schnell. Es gelang ihr gerade noch rechtzeitig, einen Schlag abzublocken. Ein Treffer hätte ihr schwer zugesetzt. Und stark.
Ich kann dich nicht weiter unterstützen, knurrte Ragnarök. Es missfiel ihm offenkundig, in dieser Welt nicht auf sein gesamtes Repertoire an Fähigkeiten zurückgreifen konnte. Zudem war er von ihrer Reise noch erschöpft.
Das passt schon, ich muss nur außer Reichweite ihrer Wahrnehmung kommen. Dann war sie wieder quasi unsichtbar.
Eine Faust krachte in ihre Rippen und presste ihr die Luft aus den Lungen. Nach selbiger schnappend drehte sie sich weg und zog ihr Schwert zwischen sie. Ein unterdrückter Aufschrei besagte, dass ihr Angreifer die Klinge nicht hatte kommen sehen. Schwer atmend zog Ria sich in die Schatten zurück. Sie war Suzi dafür dankbar, dass sie die Tannen behalten hatte.
Geht's? Ihr Schattendrache klang besorgt.
Ja, schon gut. Ich brauch nur eine Pause, um wieder Luft zu bekommen. Sie griff in den Mantel und suchte weiter nach einem Haargummi. Ihre Haare waren ihr so langsam im Weg. Wenn sie weiterhin zwischen den Bäumen auf engem Raum gegen Wesen kämpfen wollte, konnte sie kein unnötiges Hindernis gebrauchen. Sie spürte, wie ihre Lungenaktivitäten sich wieder normalisierten. Probehalber atmete sie einmal tief durch. Klappte alles, keine Schmerzen. Im Garten war gerade ein anderer Kampf ausgebrochen. Offenbar nahmen die Herausforderer den Tod ihres Anführers nicht so leicht hin.
Auf einmal knackte es neben ihr. Schockiert sprang sie auf, das Schwert in Richtung des Geräusches haltend.
„Was tust du hier?", fragte eine bekannte Stimme scharf.
Verblüfft ließ sie ihre Waffe sinken. „Das gleiche könnte ich dich fragen."
Raphael musterte sie mit leicht gerunzelter Stirn. „Eleasars Mantel?"
Schuldbewusst zuckte sie mit den Schultern. „Wenn er selbst nicht da ist, muss ich mich halt mit Ersatz begnügen."
Mit einem Kopfschütteln trat der Kaiser an sie heran. „Wie bist du her gekommen? Du weißt, dass es verboten ist."
Ihr vorwurfsvoller Blick traf seinen. „Muss der Herrscher sagen, der seine eigenen Gesetze bricht. Eine Antwort bekommst du, wenn das hier vorbei ist." Mit dem Kopf ruckte sie in Richtung Garten, wo sich überall kleine Gruppen gebildet hatten und einander bekämpften. „Elea auch da?"
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