.:22:. Eine nicht sonderlich verlockende Aussicht

„Mein Engel?"

Eilean legte ihre Malstifte beiseite und sah ihre Mutter fragend an.

Ria kniete sich neben ihre Tochter und strich ihr liebevoll durchs Haar. „Ich muss kurz in unser Haus. Hast du Lust mich zu begleiten? Du wolltest doch Ceres suchen oder?"

Begeisterung blitzte in den Augen der Kleinen auf. „Wirklich? Darf ich Ceres mitnehmen?"

Während sie die Einladungen geschrieben hatte, war ihr der Gedanke gekommen, dass Eilean ihre jüngste Spielgefährtin wohl vermissen mochte. Ceres war ein Geisterwesen und konnte sie auch ohne Vertrag beschützen. Davon abgesehen wollte sie noch etwas nachsehen. Vielleicht hatte Eleasar ja eine Nachricht zum Haus geschickt.

Gemeinsam mit ihrer Tochter nahm sie den Ragna-Express nach Hause. Mit ihrem Gefährten zu reisen war die effektivste Reiseform. Für die Kleine war es das erste Mal, dass sie auf dem Drachen fliegen durfte. Begeistert streckte sie ihre Arme aus und lehnte sich mit wehenden Haaren an ihre Mutter. Sehr zu Eileans Bedauern war der Flug viel zu schnell vorbei. Das musste sie bei Gelegenheit noch einmal nachholen - dieses Mal aber viel länger. Im Garten angekommen nötigte sie ihrer Mutter daher das Versprechen ab, sie noch weitere Male auf einen Drachenritt mitzunehmen.

Unter den Augen ihrer Mutter nahm Eilean die Suche nach ihrer Geisterfreundin auf. Nachdem sie im ganzen Haus gesucht hatte, ging sie in den Garten. Ab diesem Punkt ordnete Ria Ragnarök an, auf ihre Kleine zu achten und machte sich auf den Weg ins Arbeitszimmer. Vom Fenster aus hatte man einen atemberaubenden Blick auf die Stadt und in den Garten. Sie sah, wie Eilean durch die Baumreihen streifte, ein wenig kletterte, um dann wieder nach unten zu springen. Als sie hier angekommen war, hatte sie sich gewundert, warum ihr Mann einen Park an seinem Haus hatte. Nach einem Jahr in dieser Stadt war sie für die Rückzugsmöglichkeit dankbar, die er bot. Jetzt war er gleichzeitig Trainingsplatz, Spielwiese und Abenteuerhöhle.

In glücklichen Erinnerungen schwelgend wandte sie sich dem Raum zu. Trotz der vielen vollgestellten Regale und des großen Schreibtisches wirkte er sehr geräumig. Hier herrschte die typische Elea-Ordnung. Alles sortiert und fein säuberlich weggeräumt - alles, bis auf ein Schreiben. Mit gerunzelter Stirn trat sie an den Arbeitsplatz. Um einen genauen Blick auf das Schreiben werfen können, musste sie den Stuhl ein wenig beiseite schieben. Sie war zwar nicht oft hier drinnen, doch allein dass es so offen dalag, verwunderte sie. Normalerweise kamen Briefe in Umschlägen an, handgeschriebene Nachrichten wurden aus Diskretionsgründen mindestens einmal gefaltet und anschließend mit einem Gegenstand beschwert.

Nachdem sie einen Blick auf den Zettel geworden hatte, ließ sie sich in den bequemen Stuhl sinken. Das war eine ganz unerwartete Schrift. Schon nach der ersten Zeile sprang sie auf, kramte hektisch in den Schubladen nach Zettel und Stift, kritzelte eine Nachricht und rief nach Ragna. Kaum war er da, drückte sie ihm den Zettel in die Klauen und bat ihn, ihre Kleine und Ceres zurück in den Palast zu bringen. Zuvor ließ sie sich von ihm noch zu ihrem Kind führen, die mit der großen Cait Sith im Gras hockte und sie kraulte. Hellgrüne und strahlend blaue Augen richteten sich auf sie.

Sie bemühte sich um eine unbesorgte Miene, als sie sich neben ihre Tochter kniete. „Engel, Ragna bringt euch zurück. Mama muss noch etwas erledigen." Liebevoll strich sie ihrer Kleinen durchs Haar. „Ich komme nachher nach. Ich hab dich lieb." Im Aufstehen zog sie ihre Kleine an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Bis später."

Kaum waren die drei verschwunden, stürmte sie wieder nach oben ins Arbeitszimmer, wo sie einige Augenblicke lang unentschlossen die Nachricht betrachtete. Sollte sie wirklich...? Seufzend schüttelte sie ihren Kopf. Sie war zu neugierig, um sich davon abzubringen.

Ria, ich benötige deine Hilfe. Aleix ist noch nicht wieder richtig gesund und will sich meinetwegen in Gefahr begeben. Jemand hat mich zum Duell herausgefordert. Heute Abend. Ich weiß, das ist sehr kurzfristig, aber wenn du nicht im Hauptanwesen vorbei kommst, wird er sterben. Er würde niemals zulassen, dass ich mich duelliere. Suzi

Suzi. Gott, wie sollte sie nur die Welten wechseln? Das konnte nur Eleasar und der war... unabkömmlich. Isla würde es ganz bestimmt nicht gutheißen. Wie wild ratterten ihre Gedanken. Wie hatte Elea dieses Portal gezeichnet? Und was hatte er gesagt? Funktionierte das bei jedem oder nur wenn man zu dem Kreis der wenigen Auserwählten gehörte? Verzweifelt raufte sie sich die Haare. Suzi brauchte ausgerechnet jetzt ihre Hilfe und sie war unfähig, ihr diesen einen Gefallen zu tun. Verflucht, Aleixs und ihr Leben standen auf dem Spiel.

************

Menschenwelt

Pünktlich zu Beginn der Dämmerung fanden sie sich am Hauptquartier ein. Mit finsterer Miene knallte sie die Autotür hinter sich zu. Dieser sture Mann!

„Du kannst unmöglich an dem Duell teilnehmen!"

Die Eingangstür flog auf, bevor er ihr antworten konnte. Kemal und Andreas stürmten ihnen entgegen. „Suzi, wir haben ein Problem."

Die apokalyptische Stimmung der beiden verhieß nichts Gutes. „Was für eines?" Sie ahnte Schreckliches.

Geräuschvoll schlug Aleix seine Autotür zu und trat hinter sie. Beschützend legte er einen Arm um seine Frau. Egal, wie schlimm es ist, wir stehen das zusammen durch.

Nicht mehr ganz so knapp davor durchzudrehen, lehnte sie sich an ihn. Ihr Mann war wie immer ihr Fels in der Brandung.

Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl, meldete sich ihr Gefährte. Rub war ein Hundegeist. Nicht so überragend stark wie Aleixs Storm, aber der beste Gefährte, den sie jemals hatte - abgesehen natürlich von ihrem Mann. Augenblicklich sank ihr das Herz tiefer in die Hose. Aleix war eher der unterstützende Typ, Rub hingegen der schonungslos ehrliche.

„Einfach raus damit, bevor ich noch zusammenbreche", hauchte sie kraftlos. Jetzt war sie mit ihren Nerven endgültig am Ende.

Aleix, der ihren nahenden Zusammenbruch spüren konnte, nahm sie auf den Arm und trug sie ins Haus. Im großzügig geschnittenen und viel zu modern eingerichteten Wohnzimmer setzte er sie auf einer recht unbequemen weißen Couch ab. Andreas und Kemal folgten, letzterer mit einem Glas Wasser in der Hand.

Mit zittrigen Händen nippte Suzi an dem Getränk. Warum konnten sie ihr denn nicht einfach sagen, was los war? Dann hatte sie es hinter sich. „Worum geht es?"

Aleix griff nach einer kunstvoll auf dem Ledersofa drapierten Decke und breitete sie über ihre Schultern aus. „Was ist die schlechte Nachricht?"

Unwohl sah Kemal zu Boden. „Dein Herausforderer. Er bringt eine recht große Gruppe mit. Wie letztes Mal."

Alarmiert fixierte der Clanführer den Jäger. „Letztes Mal?"

Auf einmal schienen beide Vertreter Suzis aufrichtig betroffen. „Ria hat ihn damals fertig gemacht."

Mit einem unterdrückten Schluchzen sank die Clanführerin an die Schulter ihres Mannes. „Warum habt ihr mir nicht gesagt, dass Ria Probleme mit ihm hatte?"

Aleix teilte ihre Meinung. Es war unverantwortlich gewesen, ihnen diese Information vorzuenthalten. „Wann soll das gewesen sein?"

„Kurz bevor sie verschwunden ist." Kemal starrte weiterhin auf den Fußboden.

Andreas hingegen seufzte schwer. „Sie hat ihn geschlagen und dafür gesorgt, dass er hier keinen weiteren Schaden anrichten kann. Danach ist sie verschwunden."

Seine Frau noch enger an sich ziehend starrte Aleix die beiden Stellvertreter böse an. „Dann hättet ihr mich darüber informieren müssen." Schließlich hatte er für die Zeit von Rias Abwesenheit die Leitung ihres Clans übernommen. Das war Unterschlagen wichtiger Informationen. „Denkt ihr nicht, dass wir Ria gerne dazu befragt hätten?"

Die Jäger tauschten betroffene Blicke. „Wir dachten, das hätte sich gelegt. War nicht das erste Mal, dass sie herausgefordert wurde."

„Aber wichtig. Wenn jemand die Clanführung anzweifelt, dann sollten alle, die damit in Verbindung stehen davon erfahren."

Andreas barg sein Gesicht in seinen Händen. „Es war eine turbulente Zeit. Niemand hat damit gerechnet, dass Ria sich nach ihrem Verschwinden so verändert. Geschweigen denn, dass sie so lange fortbleibt und uns verlässt."

„Sie hatte keine Wahl", entgegnete er leise. Dabei strich er seiner Frau aufmunternd über die Arme. Suzi litt gelegentlich unter dem Schatten ihrer Schwester. Ria war kompromisslos, wenn es darauf ankam und so voller Kraft und Tatendrang. Seine Frau hingegen wesentlich ruhiger, weniger konsequent. Die einzige Gemeinsamkeit der Schwestern war, dass sie beide sich nicht um den Posten der Clanführerin gerissen hatten. Weder Ria noch Suzi hatten diese Position jemals als verlockend empfunden. Als Ria Eleasar getroffen hatte, war selbst für ihn damals schon klar gewesen, dass sie dem Prinzen nicht würde entkommen können. Doch dass sie ihrer älteren Schwester ihre Verantwortlichkeiten in dieser Welt aufs Auge drücken würde, war ihm nicht klar gewesen.

„Also, was tun wir jetzt mir der Gefolgschaft?" Gestresst fuhr Kemal sich durch die kurzen schwarzen Haare. Der Araber sah mehr als nur mitgenommen aus.

„Während des Kampfes dürfen sie sich nicht einmischen. Wir können nur genug Mitglieder aufstellen und hoffen, dass die anderen sich daran halten." Mit einem tiefen Seufzen stand er auf und wickelte Suzi noch ein wenig enger in die Decke. Anschließend zog er sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer seines Stellvertreters.

„Aleix?" Seine Nummer zwei klang überrascht. „Was verschafft mir die Ehre?"

Da ihm nicht nach Plaudern zumute war, fasste er sich kurz. „Alle, die innerhalb der nächsten Stunde hier sein können, sollen herkommen. Ich gebe dir die Adresse durch." Er legte auf und sandte den versprochenen Standpunkt.

Kurz darauf erhielt er eine Kurzmitteilung. Fünf Personen.

Fünf. Frustriert steckte er sein Telefon zurück. Besser als niemand, aber immer noch zu wenig.

„Aleix?" Suzi war aufgestanden und in die angrenzende, sehr steril wirkende offene Küche gegangen. „Möchtest du einen Kaffee?"

Unwillkürlich musste er lächeln. Wie schaffte sie es nur, ihn in den wichtigsten Momenten abzulenken und aufzumuntern? Meistens mit alltäglichen Dingen. Das war die Frau, in der er sich verliebt hatte. Seine Frau. Für den Rest seines Lebens. Dieses Problem konnte gar nicht so groß sein, dass sie daran scheiterten. Er musste darauf vertrauen, dass es friedlich verlief. Im schlimmsten Fall musste er seine Identität preisgeben und Storm einschalten. „Gern."

Ein Räuspern ertönte von der Sofaecke. Mit entschlossener Miene stand Andreas auf. „Okay, dann lasst uns mal planen, wie wir uns im Notfall verteidigen können. Das Anwesen hier hat ein paar nette Extras." Auf Aleixs fragenden Blick hin, begann er sämtliche Vor- und Nachteile dieses Hauses aufzuzählen. Es gab erstaunlich viele Geheimwege und Verstecke.

Als die Gruppe der Herausforderer schließlich ankam, waren sie bestmöglich vorbereitet: Ihre Leute waren in Position und Suzi mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt. „Bereit?" Prüfend sah Aleix seiner Frau in die Augen.

So ganz ruhig war sie noch immer nicht, aber immerhin nicht mehr kurz davor, durchzudrehen. „Okay, dann lass uns." Er ergriff ihre Hand und führte sie durch die verglasten Schiebetüren vom Wohnzimmer direkt auf die Terrasse, die wiederum auf eine weitläufige Rasenfläche hinausführte. Um vor den Blicken Neugieriger geschützt zu sein, waren große Tannen rund um das Anwesen gepflanzt worden. Vor einer dieser grünen Wände, ihnen direkt gegenüber, hatte sich die Gruppe Ankömmlinge aufgestellt.

Neben ihm schnappte Suzi nach Luft. Überrascht sah er zu ihr herüber. „Das sind nicht nur Menschen oder Jäger", flüsterte sie entsetzt. Unter dem Gefolge ihres Herausforderers hatte sie zwei bis drei Wesen ausfindig machen können. Was hatten die bloß hier zu suchen? Und warum?

Plötzlich wehte ein heftiger Windstoß von hinten an ihnen vorbei. Reflexartig zog Aleix seine Frau schützend an sich.

„Man sollte meinen, der Kerl hätte letztes Mal genug Prügel bezogen."





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