.:16:. offen und naiv, abweisend und kritisch
In der Schule war viel los. Wie immer. Viel mehr als zuhause. Daher war sie ganz froh, wieder daheim zu sein. Ragna wartete schon im Flur auf sie, merkwürdig vergnügt.
„Eilean." Verschwörerisch zwinkerte er ihr zu, machte sich klein und krabbelte auf ihre Schulter. Sie mochte seine kleine Form. Dann sah er aus wie eine kleine grüne Echse mit Flügeln und großen Augen. „Gehen wir spielen?"
Spielen bedeutete im Garten Verstecken spielen. Am liebsten mochte sie die Verstecke auf dem großen Baum mit dem dichten Laub. Von da aus konnte sie die Stadt sehen und das Meer. Sie mochte es, wenn das Wasser glitzerte.
„Wo sind Mama und Papa?" Sonst war Mama immer da, um sie zu begrüßen und nach ihrem Tag zu fragen.
„Bei deinen Großeltern. Raphael wollte beide sehen."
Bei Opa und Oma? Ohne sie? „Warum haben sie nicht auf mich gewartet?"
Aufmunternd schleckte er ihr über die Wange. „Mama und Papa müssen auf Reisen gehen."
Reisen? Schon wieder? Traurig kuschelte sie sich an ihn. „Und wo soll ich hin? Sie kommen doch wieder, oder? Ragna, bitte sag mir, dass sie wieder kommen."
Sanft knabberte er ihre kleine Hand an. „Natürlich kommen sie wieder. Denkst du, sie würden dich lange alleine lassen? Sie haben dich doch ganz doll lieb."
Ein wenig beruhigt nickte sie. „Ich möchte nicht spielen."
Der kleine Drache lachte leise. „Das weiß ich. Ich möchte dir jemanden vorstellen. Sie hat sich im Garten versteckt und ist ganz schüchtern. Deine Mama wollte sie dir gestern schon zeigen. Leider hat sie sie nicht gefunden."
Mama fand jemanden nicht? Merkwürdig. „Wen? Mama findet jeden."
Nicht, wenn Ria abgelenkt war und viele andere Dinge im Kopf hatte. Aber das musste er der Kleinen ja nicht auf die Nase binden. Sein Ziel hatte herzlich wenig mit Ria zu tun. Er streckte seine Sinne aus und ertastete kurz darauf das fragliche Objekt. Klein, einsam und verängstigt.
„Ragna?"
Ihre unschuldige Frage holte seine Aufmerksamkeit zurück zu ihr. „Ja, Kleine?"
„Warum zeigst du mir was?"
Manchmal verstand er sie einfach nicht. Eilean war ein aufgewecktes, für ihr Alter viel zu reifes Kind. Aber dann waren da ab und an diese Fragen, die viel mehr von ihrer Unschuld preisgaben als gut für sie war. So durfte sie auf keinen Fall lange alleine herumlaufen.
„Weil ich denke, dass ihr euch gut verstehen würdet." Eifrig mit den kleinen Flügeln schlagend erhob er sich in die Luft und flog vor ihr her.
Neugierig folgte sie ihm. Sie hatte von Mama gelernt, ihre Sinne offen zu halten und zu gucken, ob jemand in der Nähe war. Außer Ragna fand sie lange Zeit nichts. Irgendwann, in der hintersten Ecke des Gartens hielt sie überrascht inne. „Cora?" Eine schwarze Katze mit einem weißen Fleck auf der Brust lag dort. Warum wollte Ragna ihr Cora zeigen?
Angst strömte deutlich spürbar von dem Tier aus. Warum hatte Cora Angst? Sie kannte sie doch. Vorsichtig machte sie ein paar Schritte auf die Katze zu. Und da spürte sie es. Das war nicht Cora. Diese Katze fühlte sich anders an. Wie Ragna. Sie war auch größer als Cora. Viel größer.
„Ragna? Wer ist das?"
Ragnarök ließ sich auf dem Boden nieder, wo er sich mit stolzgeschwellter Brust wichtigtuerisch räusperte. „Ceres. Setz dich, dann mach ich euch miteinander bekannt. Du kannst mit ihr reden, wenn du willst."
„Ceres?" Der Name war schön.
Die zurückgelegten Ohren der Katze spitzten sich und das bedrohliche Knurren ebbte ab. Neugierig legte sie ihren Kopf schief. „Du kannst mit mir reden."
Sie klang ebenso überrascht wie Eilean sich fühlte. Bislang hatte sie gedacht, Ragna wäre der einzige, mit dem sie sprechen konnte.
„Ceres, das ist Eilean. Vielleicht könnt ihr ja zusammen spielen."
Mit einem skeptischen Blick auf den Schattendrachen erhob Ceres sich und schlich sich vorsichtig an das kleine Mädchen heran. Neugierig beschnupperte sie sie und als sie sich sicher war, dass von dem Kind keine Gefahr ausging, schmiegte sie sich schnurrend an sie. „Ich mag sie. Sie riecht so gut."
Sprachlos starrte Eilean die Katze an. „Du bist keine Katze, oder? Cora redet nicht mit mir."
Ceres knurrte kurz. „Ich bin mehr als das. Ich bin eine Cait Sith. Eine der wenigen Schutzgeister dieser Welt."
Mochte sie Cora nicht? Klang jedenfalls so. „Schutzgeister?"
An dieser Stelle knurrte Ragnarök leise. „Eine alberne Bezeichnung. Wir sind Geister, die von allen hier gesehen werden können. Und wir sind stark. Stärker als andere."
„Wir?" Irritiert wanderte ihr Blick zwischen dem Drachen und dem Katzengeist hin und her. Ihr wollte einfach keine Ähnlichkeit auffallen.
Ragna begann leise zu lachen. „Es gibt drei noch lebende große Geisterarten. Schattendrachen, Cait Sith und Frost."
„Frost?"
Ceres grummelte leise in sich hinein: „Ein Wesen, das seine Gestalt ändern kann und Wasser gefrieren lässt." Es klang ganz danach, als hätte sie schon eine Begegnung mit einem solchen Wesen hinter sich.
„Und ihr seid alle stark?" Sie fragte sich, was weniger starke Geister alles konnten.
Schnurrend schmiegte die Katze sich an sie. „Sind wir."
Mit großen Augen sah sie zu Ragna auf. „Du beschützt Mama, richtig?"
Der Drache nickte ernst. „Ria ist stark, aber auch sie lernt noch."
Sie wusste, dass ihre Mama noch jung war. Viel jünger als Papa und dass er deshalb wollte, dass ihre Mama oft zuhause blieb. Aber ihre Mama hatte ihren eigenen Willen und Papa hatte sie zu lieb, um sie einzusperren. Das hatte Papa ihr jedenfalls erzählt. Und sie glaubte ihm. Ihr Papa war super. Der beste Papa auf der ganzen Welt. Er beschützte Mama und sie und wurde nie böse.
In Ceres' Magen grummelte es. „Hast du Hunger?" Ehe die Cait Sith antworten konnte, hatte Eilean sie eng an sich gedrückt, war aufgesprungen und rannte zum Haus. Tiere sollten keinen Hunger haben. Mama hatte ihr gesagt, dass das schlecht war und sie davon krank wurden.
„Mir wird schlecht." Ceres war es nicht gewohnt, durch die Gegend getragen zu werden. Und schon gar nicht von Kindern. Normalerweise rannten die Menschen vor ihr davon und nicht zu ihr hin. Vor allem aber knuddelten sie sie nicht und versuchten Essen in sie hinein zu stopfen, wie dieses köstlich duftende Mädchen.
„Bitte, iss was." Eilean schob ihr einen Teller vom Mittagessen unter die Nase. „Das ist lecker." Sie selbst nahm sich auch einen. Das Essen in der Schule schmeckte nicht. Am liebsten mochte sie das Essen, das Papa kochte. Aber Papa hatte oft viel zu wenig Zeit, um ihr den Gefallen zu tun. Heute hatte er auch nicht gekocht.
Erst als Ceres sah, wie begeistert das Kind das Essen in sich hinein schaufelte, probierte sie ebenfalls. Es war erträglich. Nichts ging über einen kleinen Unhold, aber hier waren keine Geister. Hier waren nur Wesen und dieser verrückte Drache.
„Soll ich dir den Garten zeigen?", fragte Eilean plötzlich.
Fragend hob Ceres ihren Kopf. Sie hatte den Teller ruck zuck leergeputzt. „Warum?"
Artig sammelte die Kleine die Teller ein und stellte sie zum Waschen beiseite. „Weil der Garten schön ist. Ragna und ich spielen da oft."
Wenig begeistert starrte die Cait Sith den Schattendrachen an. „Warum lässt du dich domestizieren?", schienen ihre funkelnden hellgrünen Augen zu fragen. Für sie war es ein Zeichen der Schwäche, sich an Wesen zu klammern.
Rangarök lachte und verschwand. Eilean war es gewohnt, dass er plötzlich verschwand. Entweder er tat was er wollte oder ihre Mutter brauchte ihn. Sie tippte auf die erste Möglichkeit.
Grummelnd gab Ceres sich geschlagen. Zwar wollte sie sich nicht wie ein Tier behandeln lassen, doch lockte dieses Mädchen sie einfach an. Und es war ja nicht so, dass sie sie wirklich wie ein dummes Tier behandelte. Hoffte sie zumindest. Sonst würde das Mädchen sie kennenlernen.
Zufrieden beobachtete Ragnarök wie die Kleine Ceres das Haus und den Garten zeigte. So widerspenstig sich die Cait Sith auch gab, sie folgte dem Mädchen überall hin und schmiegte sich gelegentlich an sie. In seinen Augen passten die beiden perfekt zueinander. Eilean war offen und naiv, Ceres abweisend und kritisch. Sie waren wie füreinander geschaffen. Jetzt mussten die beiden nur noch ihre Gemeinsamkeiten entdecken und beschließen, einen Vertrag auszuhandeln.
Als er sich sicher war, dass Ceres auf Eilean Acht geben würde, zog er sich auf seine Insel zurück. Sein Nachwuchs tollte unbekümmert durch die Gegend, während die anderen faul herumlagen.
Ragnarök. Varlet begrüßte ihn mit einem ernsten Nicken. Ich habe keine guten Neuigkeiten.
Verärgert kratzte er sich am Hinterkopf. Die hat heute niemand. Hast du herausfinden können, wer einem unserer Art so etwas antun kann? Er hatte ihr mitgeteilt, was Ceres widerfahren war und sie gebeten, Nachforschungen anzustellen.
Die Drachendame nickte schwermütig. Unser Wissen hat versagt, aber einige andere Wesen waren bereit, mir Auskunft zu geben.
Varlet sammelte Wissen an, um es an die anderen Drachen weiterzugeben. Das machte sie zu einer Art kollektives Gedächtnis. Trotz ihres abgeschiedenen Lebens auf der Insel, war sie so gut wie immer auf dem neuesten Stand der Entwicklungen. Vielleicht nicht über die der Wesen der materiellen Welt - da war er der Experte - aber was ihre eigene Welt anbetraf, hatte er noch von niemandem gehört, der oder die mehr wusste.
Wir werden schwächer. Du hast deine Stärke erhalten, weil du eine starke Partnerin hast. Varlet klang traurig. Die Trennung der Welten war nicht gut für uns.
Ragnarök schwieg. Wollte man Informationen von der alten Dame, war es ratsam ihren Ausschweifungen wortlos zu lauschen. Varlet war eine der ältesten unter ihnen und diejenige, die damals Raphaels Angebot, sich auf diese Insel zurückzuziehen, angenommen hatte. Ihr Wissen machte sie zur inoffiziellen Anführerin ihrer kleinen Gruppe.
Es gibt jemanden, der sich zum Herrscher über alle aufschwingen will. Böse Wesen durchstreifen unsere Welt und zwingen unsere kleinen Brüder und Schwestern dazu, sich an ihren Machenschaften zu beteiligen. Daraufhin folgte eine lange Pause, an dessen Ende die Drachendame schwer seufzte. Ich fürchte, mehr kann ich dir auch nicht dazu sagen.
Irgendwie hatte er sich mehr von diesem Besuch erhofft. Wie viele von den anderen starken Geistern gibt es noch?
Ihre alten Augen wirkten noch trauriger als zuvor. Wir, eine Handvoll Cait Sith, drei Frost, die Feuerwesen, Ifrit, sind schon lange nicht mehr da.
Weniger als noch vor fünf Jahren, als sie ihm davon erzählt hatte. Wie kommt es, dass es immer weniger werden?
Lange starrte sie ihm in die Augen, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Die Antwort benötigte keine Worte.
Wir werden uns dessen annehmen, grollte er und wandte sich ab.
„Papa!" Eine Horde kleiner Drachen kam durch die Luft auf ihn zugetorkelt. Die Kleinen hatten den Dreh mit dem Fliegen noch nicht ganz raus. Seine Kinder. Wenn er Varlets Informationen glaubte, der einzige Nachwuchs der stärkeren Geister. Ceres mochte zwar jung wirken, aber ihr Alter war zu spüren. Sie war bei weitem kein kleines Kätzchen mehr, wenngleich noch nicht vollständig ausgewachsen.
Er nahm sich die Zeit, ein wenig mit seinem Nachwuchs zu spielen.
****
Als Ria am Abend zurückkehrte, erwartete Ragnarök sie im Wohnzimmer. Neben ihm saßen Eilean und die Cait Sith. Die beiden schliefen und hatten sich so zusammengerollt, dass sie ein Knäuel bildeten. Ein liebevolles Lächeln malte sich bei diesem Anblick auf ihren besorgten Zügen ab. Eleasar war einfach aufgebrochen. Sie mochte es nicht, von ihm getrennt zu sein. Jedes Mal brachte die Sorge sie fast um.
Er wird schon wieder gesund zurückkehren, versuchte ihr treuer Gefährte ihr gut zuzureden.
Wenn nicht, sorge ich dafür, dass er nie wieder aufbrechen kann.
Du bist wirklich niedlich, wenn du dich sorgst.
Die Augen verdrehend barg sie ihren Engel und die Cait Sith vorsichtig auf ihren Armen, um sie in Eileans Bett zu legen. Ihr war es nur recht, wenn ihre Tochter sich mit diesem Geisterwesen anfreundete. Lass uns einfach schlafen gehen, ich bin müde. Vielleicht ist Elea ja schneller wieder da, wenn ich den Großteil seiner Abwesenheit verschlafe.
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