.:11:. Unliebsame Rettung


Menschenwelt

Müde lehnte Suzi sich in ihrem Stuhl zurück. Was für ein langer Tag. Ihr gegenüber ordnete Andreas seine Akten. Ihre Schwester hatte eine kluge Entscheidung getroffen, ihn als Stellvertreter einzusetzen. Als Ria sie ins kalte Wasser geschmissen und ihr den Clan aufs Auge gedrückt hatte, war er neben Aleix derjenige gewesen, der ihr geholfen hatte, sich in ihre neuen Aufgaben einzufinden. Eigentlich, dachte sie mit einem Schmunzeln auf den Lippen, hatte die Kleine es geschickt so gedreht, dass sie recht wenig mit den Clanangelegenheiten zu tun hatte. Wenn sie daran dachte, was alles auf Rias Tagesplan gestanden hatte, war das wohl die einzige Möglichkeit gewesen, ein wenig Freizeit und Schlaf zu bekommen. Ria. Was ihre kleine Schwester wohl gerade tat? Sehnsüchtig starrte sie auf das Bild ihrer kleinen Schwester mit dem vorherigen Clanführer. Die beiden schienen sich gut verstanden zu haben. Gerne hätte sie mehr Zeit mit ihr verbracht. Leider war es strikt verboten, zwischen den Welten zu leben. Sie hatte sich für Aleix entschieden und Ria sich für Eleasar. Ob sie sie jemals wiedersehen würde?

„Suzi?"

Erschrocken zuckte sie zusammen. Kemal stand im Türrahmen und lächelte sie entschuldigend an. „Ein harter Tag, ich weiß." Mitdenkend, wie er war, stellte er ihr eine Tasse Kaffee vor die Nase. „Dein Tag ist noch nicht vorbei. Wir haben Nachricht bekommen, dass jemand deine Position anfechten wird. In einer Woche soll die Person mit seinen Anhängern eintreffen."

Alles in ihr gefror zu Eis. Wenn sie eines nicht konnte, dann Kämpfen. Ihr Mann hatte ihr zwar einige Tricks zur Selbstverteidigung beigebracht, aber schnell einsehen müssen, dass ihr das Kämpfen nicht lag. „Gibt es Informationen über diese Person?"

Bedauernd schüttelte Kemal seinen Kopf. „Nein, leider nicht. Ria und Blake haben ihre Kämpfe immer selbst ausgetragen, aber ich kann mal nachforschen, ob du nicht auch einen Vertreter benennen kannst."

Noch immer unter Schock stehend griff sie mit zitternden Händen zum Telefon.

„Reece Dunn", meldete sich die Stimme ihres Ein und Alles. Reece Dunn war der Name, den Aleix momentan nutzte. Da Schattenseelen wie sie lange Zeit nicht alterten, waren sie gezwungen, verschiedene Identitäten anzunehmen.

„Aleix, bitte komm her." Ihre Stimme war kaum mehr als ein schwaches Flüstern.

Die Leitung war tot, bevor sie sich dazu durchringen konnte, den Hörer wieder von ihrem Ohr zu lösen.

Wenig später rauschte er auch schon in ihr Büro. Ein Blick auf seine Frau genügte und er war sich sicher, dass etwas Schreckliches vorgefallen sein musste. „Was ist los?", fragte er an Kemal und Andreas gewandt, die beide an der Tür standen und einen ziemlich hilflosen Eindruck machten.

„Wir haben die Information erhalten, dass jemand Suzi herausfordern will. Nächste Woche." Andreas schien um seinen Kopf zu fürchten, denn er machte sich ein wenig kleiner.

Beruhigt atmete er aus. Nur ein Duell. Behutsam nahm er Suzis Hände in seine. „Soll ich an deiner Stelle antreten?"

Ihre Augen wurden groß. „Du musst in letzter Zeit so oft kämpfen."

Er lachte freudlos. „Das liegt in unserer Natur. Nun, vielleicht nicht in deiner, aber im Grunde sind wir alle Kämpfer."

„Aber kannst du denn an meiner Stelle kämpfen? Du hast doch deinen eigenen Clan."

Verschmitzt lächelnd stibitzte er sich einen Schluck Kaffee aus ihrer Tasse. „Na, das will ich doch meinen. Niemand verlangt, dass ein Mann seine Frau kämpfen lässt. In dieser Hinsicht ist es nur legitim, dass ich dich vertrete." Niemand würde seine Frau zum Kampf herausfordern, solange er sich noch bewegen konnte.

Es war zu hören, wie sich eine Lawine von Steinen von ihrem Herzen löste. Erleichtert atmete Suzi durch. „Dann bitte ich dich, mich zu vertreten."

Er nickte knapp, bevor er auf seine Armbanduhr sah. Es war beinahe Zeit. „Begleitest du mich zum Essen?"

Aleixs Kollege Alwin Müller wurde in eine neue Abteilung nach Bayern versetzt und heute stand das Abschiedsessen an. Jetzt, wo ihr Problem gelöst war, begleitete sie ihn nur allzu bereitwillig. Ablenkung konnte sie gut gebrauchen. „Aber geht das denn so?" Zweifelnd deutete sie auf ihre Kleidung. Sie trug nur eine einfache blaue Bluse und eine schwarze Hose.

„Du siehst wundervoll aus", versicherte ihr Mann ihr und zog sie problemlos aus dem Stuhl. „Wie immer."

Geschmeichelt verdrehte sie die Augen. „Du Charmeur. Und dir ist vorher wirklich keine Frau erlegen?" Schwer zu glauben, denn Aleix war äußerst charismatisch, wenn er nur wollte.

Er lächelte vage. „Nun, für mich gibt es nur eine Richtige."

Seinem Charme völlig erlegen, ließ sie sich aus dem Haus und zum Auto führen. Es tat ihr gut zu sehen, dass wenigstens er einen anscheinend guten, entspannten Arbeitstag hinter sich hatte.

„Ist es auch wirklich in Ordnung, wenn ich dich begleite?" Unsicher strich sie zum wiederholten Male über ihre Bluse.

Tief durchatmend schüttelte er seinen Kopf. Suzis Unsicherheit brachte ihn manchmal an den Rand der Verzweiflung. „Natürlich. Nur weil es bislang nicht geklappt hat, bedeutet das nicht, dass sie dich nicht kennenlernen wollen." Tatsächlich hatten ihn seine Kolleginnen und Kollegen schon mehrfach darum gebeten, sie auf ein Treffen mitzubringen. Bislang hatte er jedes Mal abgelehnt.

Nach einer kurzen, schweigsamen Fahrt lenkte er den Wagen auf den Parkplatz eines kleinen mexikanischen Restaurants. „Eine Tradition. Wenn wir nach der Arbeit ausgehen, dann hierher. Das Essen ist gut und die Musik wird dir auch gefallen."

Zögernd kletterte Suzi aus dem Wagen. Sie wusste nicht, wie sie seinen Kollegen gegenübertreten, geschweige denn, was sie sagen sollte. Mit Aleixs Hand in ihrem Kreuz betrat sie das gemütlich und farbenfroh eingerichtete Lokal. Ein kleiner Mann mit Sombrero kam ihnen entgegen und begrüßte sie in fließendem Spanisch. Oder war es Mexikanisch? Gab es eine solche Sprache überhaupt? Von ihren eigenen Gedanken irritiert schüttelte sie leicht ihren Kopf. Neben ihr erklang Aleixs leises Lachen. „Die Sprechen hier auch Sprachen, die du beherrschst."

Zielsicher führte er sie zu einem Tisch, an dem bereits einige Personen saßen. Unter den Blicken der anderen hatte sie das Gefühl, ein wenig zu schrumpfen.

Der Reihe nach deutete Aleix auf seine Kollegen und stellte sie vor. „Lea, Rita und Al." Neben den genannten Personen saßen die jeweiligen Partner. „Meine Frau Suzi", stellte er sie letztendlich vor. Galant zog er ihr einen Stuhl zurück und wartete, bis sie komfortabel saß, ehe er sich ebenfalls setzte.

„Sie sind also Suzi." Lea, eine leicht stämmige Frau mit hellbraunen Locken und Brille, lächelte ihr aufmunternd zu. „So langsam haben wir uns gefragt, ob Reece noch verheiratet ist. Nicht einmal zur Hochzeit sind wir eingeladen worden." Vorwurfsvoll sah die Beamtin ihren Vorgesetzten an.

Entschuldigend hob er die Hände. „Das war spontan."

In Wahrheit hatten sie nicht nach menschlichem Recht geheiratet. Ihr Bund ging deutlich über das menschliche Verständnis einer Ehe hinaus und machte diese somit nichtig.

„Er fand, es wäre gemein, wenn nur er Gäste mitbringt. Meine Familie ist entweder tot oder verschwunden", entgegnete sie leise. Das erste war eine Gefälligkeitslüge, um ihren Mann nicht als abweisend dastehen zu lassen. Das zweite ein Punkt, der ihr wirklich zu schaffen machte.

Mitleidig legte die Polizisten ihr eine Hand auf den Unterarm. „Reece ist ein wirklich netter Mann. Du hast einen tollen Fang gemacht. Und jetzt erzählt mal, wie habt ihr euch kennengelernt? Reece schweigt sich in diesem Punkt aus."

Ihr Kennenlernen. Da musste Suzi nicht lange drüber nachdenken. „Wir waren beide bei meiner Schwester zu Gast. Es war Liebe auf den ersten Blick, nur dass wir das nicht wussten. Meine Schwester und mein Schwager waren davon überzeugt und meinten, wir würden nicht glücklich werden, wenn wir wieder getrennte Wege gingen. Wir haben ihnen nicht geglaubt. Am Ende haben sie recht behalten."

„Deine Schwester muss eine gute Menschenkennerin sein", mutmaßte Rita, die der Kurzzusammenfassung gelauscht hatte. Sie hatte dunkelblonde, zu einem Dutt zusammengebundene Haare, große dunkle Augen und eine freche Himmelfahrtsnase.

Suzi musste einen Augenblick überlegen. War Ria eine gute Menschenkennerin? „Ehrlich gesagt, kann ich das nicht so ganz beurteilen."

Die beiden Frauen machten große Augen. „Die beiden sind vom Alter her zu weit auseinander", sprang ihr Mann erklärend ein. Dankbar lächelte sie ihm zu.

„Unglaublich, dass du so schnell über die Kleine hinweggekommen bist", bemerkte Al und funkelte Suzi herausfordernd an. Er war ebenso dunkelblond wie seine Kollegin und trug seine Haare in einer Art Sturmfrisur. Das auffälligste Merkmal an diesem doch recht durchschnittlich wirkenden Mann waren seine buschigen Augenbrauen. „Du musst wissen, dass wir eine Weile eine freie Mitarbeiterin hatten, mit der unser Reece sich sehr gut verstanden hat."

Fragend hob sie eine Augenbraue. „Da ist doch nie was gelaufen."

„Du kennst die Geschichte mit dem Mädchen?" Alwin wirkte überrascht. „Dann ist der dir gegenüber weniger kryptisch, was ihre Beziehung anging? Wir wissen bis heute nicht, was da war."

Ria und Aleix? Diese Vorstellung war so absurd, dass sie ihn finster ansah. „Meine Schwester ist glücklich verheiratet. Sie war es doch, die mir sagte, ich sei die richtige Frau für ihn."

Alle Augen am Tisch starrten sie perplex an. „Du bist Rias Schwester?", fragte Rita verwundert.

„Ja", bestätigte Aleix an ihrer statt und nahm entspannt einen Schluck Wein zu sich. „Da die Verwandtschaftsgrade jetzt geklärt sind, können wir bitte das Thema wechseln?"

Von da an verging der Abend mit fröhlichem Geplänkel, herrlichem Essen und guter Musik. Als sie gegen zwölf das Lokal verließen, waren sie bester Stimmung. Das änderte sich jedoch schlagartig, als sie vor ihrer Haustür standen und eine in dunkle Kleider gehüllte Person auf sie zusprang.

Reflexartig schob Aleix seine Frau hinter sich und wehrte den ersten Schlag ab. Keuchend ging er in die Knie. Wer oder was auch immer sie da angriff, es hatte Kraft. Er wehrte einen weiteren kräftigen Schlag ab und versuchte, den Angreifer unauffällig von seiner Frau fort zu bringen, damit er seine Dienstwaffe benutzen und ihn erschießen konnte.

Ein brennender Schmerz in seiner Seite sagte ihm, dass sein Angreifer nicht unbewaffnet gekommen war. Waren es Klauen? Messer? Er konnte es nicht genau sagen, jedenfalls schmerzte die Wunde höllisch.

Suzis spitzer Schrei warnte ihn gerade noch rechtzeitig vor dem nächsten Schlag, dem er nur knapp ausweichen konnte. Zu seiner schweren Enttäuschung gelang es ihm nicht, den Ort des Kampfes zu verlegen. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als sich im waffenlosen Kampf zu versuchen.

„Aleix!" Ein weiterer Schrei seiner Frau erklang und dieses Mal wandte er ihr seine Aufmerksamkeit zu. Sein Gegner nutzte seine Ablenkung aus, um ihm eine weitere schmerzhafte Wunde zuzufügen. Dieses Mal auf seinem Oberkörper. Mit getrübter Sicht suchte er seine Frau, die sich im Klammergriff eines Anderen befand. Diese Mistkerle waren dieses Mal zu zweit gekommen! Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung war. Zu spät, er konnte nicht mehr ausweichen. In Vorbereitung auf neuerliche Schmerzen, biss er die Zähne zusammen. Als nichts geschah, richtete er sich verwundert auf. Seine Seiten schmerzten höllisch und er konnte spüren, wie sein Blut seinen Körper hinab lief. Sein Angreifer lag tot am Boden, der Mann, der Suzi festgehalten hatte, lag ebenfalls reglos da, zu Füßen einer Person, die er nicht erwartet hatte.

„Denk jetzt bloß nicht, ich könnte dich ausstehen", stellte der Fremde sofort klar.

Eine andere Reaktion hatte er nicht erwartet. „Woher wusstet ihr, dass sie hier auftauchen?" Vor Schmerzen sackte er in sich zusammen. Seine Frau eilte ihm zur Hilfe und stützte ihn ab, damit er nicht zu Boden fiel. Mäßig interessiert musterte der noch immer im Schatten stehende Ankömmling seine Wunden.

„Kannst du bitte die Tür aufschließen?" Suzi warf dem Anderen ihre Haustürschlüssel zu.

Wortlos kam der ihrer Bitte nach. Erst in der Wohnung schlug Eleasar seine Kapuze zurück. „Überlebst du das?"

Sein Ton klang beiläufig, als wäre es eine lästige Aufgabe, Aleixs Überleben sicherzustellen. „Ich denke schon", antwortete Suzi schwach. „Aleix ist zäh."

„Jeder kann verbluten", entgegnete der Prinz in seiner typisch arroganten Art.

„Weiß Ria, dass du hier bist?"

Eleasar zuckte mit den Schultern. „Ist unwichtig. Ich will wissen, warum diese Leute mich direkt zu euch geführt haben."

Aleix würde einen Teufel tun, diesem Mann auch nur ein Wort zu verraten. Dummerweise war er zu geschwächt, um seine Frau zu bitten, ebenfalls nichts zu sagen.

„Das hat vor einigen Wochen angefangen. Bislang waren es immer einzelne Leute, die hinter meinem Mann her waren."

Ungläubig sah Eleasar sie an. Sein ungeliebter Schwager mochte vielleicht Ziel des Angriffs gewesen sein, doch konnte er sich nicht vorstellen, dass das alles sein sollte. Nein, es gab eine andere, wesentlich plausiblere Erklärung. „Sie waren nicht an ihm interessiert." Plötzlich wurde sein Blick durchdringend. „Ihr beide werdet mitkommen."

„Mein Prinz, mein Mann kann unmöglich reisen." Besorgt tastete seine Schwägerin die stark blutenden Wunden ihres Mannes ab.

Er überging Suzis Einwand einfach und packte Aleix am Ärmel. Sie klammerte sich gerade noch rechtzeitig an ihren Mann, bevor die Konturen verschwammen.



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