Das 9.Kapitel oder spezielle Bekanntschaften

Als ich endlich aus der Tür des Waisenhaus trat, konnte ich kaum mehr meine Augenlider offenhalten. Das Kümmern um die Waisenkinder und um Myrte war anstrengend gewesen, doch was wirklich an meinen Kraftreserven gezerrt hatte, war das ständige Wachsamsein. Seit ich ganz sicher war, dass es die Lilie war, die mich gefunden hatte, erwartete ich hinter jeder Ecke einen Attentäter und in jedem Raum eine Leiche.

Man konnte dies als Paranoia bezeichnen, doch ich wusste aus Erfahrung, dass eine solche Vorsicht nötig war. Louis' Mutter war aufgrund ihrer Leichtfertigkeit gestorben, dabei hatte es mehr als genug Warnungen von Seite der Schwarzen Lilie gegeben. Also wenn ein Dutzend Drohbriefe und einige abgetrennte Gliedmassen nicht genug waren, dann wusste ich auch nicht.

Der Schotter knirschte unter meinen schwarzen Schuhen, die völlig staubig waren und hier und da drückten. Ich spürte jeden einzelnen Knochen und hatte noch einige Kilometer vor mir. Wieder einmal verfluchte ich die Begebenheit, dass sich Terrine so weit vom Dorf entfernt befinden musste. Meiner Schätzung nach waren es ungefähr dreieinhalb Kilometer, die ich jeden Tag unter die Füsse nahm. Und das zweimal.

Meine Beine liefen automatisiert, sodass meine Bewegungen wohl einem Roboter alle Ehre machten. Und genauso fühlte ich mich im Moment auch. Meine Gedanken kreisten unablässig um die Tatsache, dass mir bis jetzt noch niemand die Kehle aufgeschlitzt oder ein Messer in den Rücke gerammt hatte. Das passte so gar nicht zu der Lilie, die ich kannte. Normalerweise waren sie immer sehr schnell und effizient, wenn es darum ging, jemanden verschwinden zu lassen.

Und warum hatte sie sonst keine Drohungen erhalten? Bis jetzt hatte sie nur einen verschlüsselten Brief, den sie unbedingt noch entziffern musste, gefunden und die ganze Angelegenheit mit Myrte gab ihr Rätsel auf. Warum? hatte man sie nicht getötet, aber stattdessen gebrandmarkt und in den Strassengraben geschmissen? Vermutlich wäre eine Leiche sogar einfacher zu handhaben gewesen, schliesslich konnten Tote nicht reden.

Plötzlich huschte ein Schatten vor mir über den verlassenen Weg und ich unterdrückte ein Fluchen. Genau jetzt, wenn ich einmal nicht aufmerksam gewesen war, schlugen sie zu. Auf der Hut ging ich weiter und tat so, als hätte ich nicht bemerkt. Auf diese Weise hätte ich wenigstens noch einen kleinen Überraschungseffekt auf meiner Seite, wenn ich schon keine Waffe zur Verfügung hatte.

Vom einen Augenblick auf den anderen war mein Weg versperrt. Breitbeinig standen sieben Männer mit verschränkten Armen vor mir und grinsten.

"Sieh mal einer an, das kleine Vögelchen hat sein Nest nicht mehr gefunden. Können wir ihm wohl behilflich sein?", feixte ein Mann mit ordentlich getrimmtem Schnurrbart und glitzernden Augen.

Ich runzelte die Stirn. Das war ganz bestimmt nicht die Vorgehensweise der Lilie. Hatten sie vielleicht ihre Taktik geändert? Kopfschüttelnd verwarf ich den Gedanken. Das war nicht möglich, schliesslich hatten sie in meiner Zeit damit angegeben, immer gleich vorzugehen und trotzdem jedes Mal erfolgreich zu sein.

"Aye, lass, sollen wir dir helfen? Vielleicht möchtest du uns deine hübsche Kette und sonst noch alles geben, das du dabei hast?"

Mein Stirnrunzeln vertiefte sich. Die Männer vor mir waren seltsam. Mit jeder Sekunde wurde ich überzeugter, dass sie keine Mitglieder der Schwarzen Lilie waren, wahrscheinlich wussten sie nicht einmal, was das war.

Diebe!, dachte ich plötzlich und musste mich zusammenreissen, um meine Hand nicht gegen meine Stirn zu klatschen und laut aufzustöhnen. Manchmal war es wirklich beängstigend, dass ich nicht einmal normale Diebe erkannte. Vermutlich waren die Gestalten vor mir Wegelagerer, die hin und wieder Reisende um ihr Gepäck erleichterten. Aber was taten sie hier in dieser verlassenen Gegend? Das ergab keinen Sinn für mich.

"Hast du deine Zunge verschluckt, lass?", fragte mich ein weiterer der Männer lachend und sah gerade überhaupt nicht furchteinflössend aus. Seine roten Haare und seine Lachfältchen um seine grossen, braunen Augen verliehen ihm allerdings auch ein unschuldiges Aussehen. Ich vermutete, dass er Schotte war, schliesslich hatte er mich lass genannt und ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Engländer jemals solche Wörter in den Mund nehmen würde.

Noch immer stand ich schweigend da und bemerkte, dass die Diebe ungeduldig wurden und von einem Bein auf's andere traten.

Mein Schmunzeln versteckend versuchte ich das verängstigte Bauernmädchen zu geben und testete, wie lange es dauern würde, biss ihr Geduldsfaden endgültig riss. Lange ging es nicht, dann platze der Mann, der als erstes gesprochen hatte, heraus:

"Na, wird's bald, wir haben doch nicht den ganzen Abend Zeit!"

Jetzt konnte ich mich nicht mehr halten und prustete los. Noch nie hatte ich Diebe getroffen, die so ungeduldig waren.

"Hör auf zu lachen und rück endlich raus damit!", drang eine verärgerte Stimme an mein Ohr und ich schnappte verzweifelt nach Luft, während ich einen weiteren Lachanfall bekämpfen musste.

Plötzlich schlug die Stimmung um. Wie auf Kommando zückten sie gleichzeitig ihre Messer, Degen und Schwerter und kamen drohend auf mich zu.

Besänftigend hob ich meine Hände und trat einen Schritt zurück.

"Whoa, ihr müsst jetzt nicht gleich handgreiflich werden. Darf ich wenigstens fragen, was gentlemans, die in einem business wie eurem tätig sind, hier verloren haben?Ihr müsst doch selbst zugeben, dass aus dieser Gegend nicht viel rauszuholen ist.", versuchte ich sie in ein Gespräch zu verwickeln und zu meiner Erleichterung sprangen sie sofort darauf an.

"Und da irrst du gewaltig, Kleine! Wir reisen natürlich mit den Reichen mit.", antwortete mir der gleiche Mann wie vorhin. Seiner Pose nach zu urteilen war er wohl der Anführer.

Verwirrt legte ich den Kopf schief.

"Und warum sollten Reiche hierher, in diese verlassene Gegend reisen?"

Verächtlich schnaubte er.

"Also wirklich, da lebt ihr Landmenschen auf dem Land, wo sowieso nichts geschieht, und kriegt es noch nicht einmal mit, wenn sich etwas ereignet.", murmelte er kopfschüttelnd.

"Könnt ihr mir dann wenigstens verraten, wo die Reichen hinwollen?", fragte ich und unterdrückte abermals ein Schmunzeln. Meine Ablenkungstechnik hatte perfekt funktioniert.

Der mutmassliche Schotte meldete sich zu Wort:

"Hier in der Nähe gibt es eine Art Mädchenerziehungsheim. Die reichen Herrschaften gehen natürlich auf Brautschau."

Ein Murren ging durch die Männer und sie verdrehten die Augen. Ich hingegen konnte meine Wut kaum unterdrücken, aber die seltsame Reaktion lenkte mich wenigstens davon ab zu explodieren. Fragend zog ich also meine Augenbraue hoch und wartete. Natürlich wurde meine stumme Frage bemerkt und der Schotte antwortete mir:

"Hier auf dem Land passiert so gar nichts. Also ich vermisse London schon jetzt."

Die anderen stimmten ihm mit einem Kopfnicken und unverständlich gemurmelten Worten zu.

Plötzlich schüttelte der Anführer seinen blonden Wuschelkopf und warf mir einen finsteren Blick zu.

"Du wolltest uns ablenken, damit du ungeschoren davonkommst!", rief er aus und deutete mit seinem Finger anklagend auf mich.

Sofort griffen wieder alle Diebe zu ihren Waffen und kamen mit grossen Schritten näher. Ich lächelte und konnte ihre Verwirrung förmlich fühlen.

"Meine Herren? Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen.", sagte ich selbstbewusst und konnte nicht verhindern, dass ein heimtückisches Grinsen sich auf mein Gesicht schlich.

*

Mit einem teuflischen Grinsen lief ich Richtung Trerice. Mein Abkommen mit den Dieben war eine totale Gewinnsituation. Sie hatten mich nicht ausgeraubt und würden den armen Mädchen und mir endlich die adeligen Lackaffen vom Hals schaffen.

Ich musste mich zwingen, um vor Vorfreude nicht auf und ab zu hüpfen. Meine Müdigkeit war wie weggeblasen, stattdessen war ich voller Tatendrang. Am nächsten Tag würde ich mich mit den Dieben treffen, von denen ich nun auch endlich die Namen erfahren hatte.

Der Anführer war tatsächlich der Riese mit dem getrimmten Schnurrbart und den glitzernden Augen. Er hatte sich als Conrad Clark vorgestellt.

Meine zweite Vermutung war ebenfalls richtig gewesen: Der mutmassliche Schotte war wirklich einer und hiess McKenna.

Zur Bande gehörten ausserdem noch Zwillinge, Donovan und Peter Weazer, die ich jedoch gut auseinander halten konnte,  da über das Gesicht des letzteren eine grosse Narbe vom rechten Mundwinkel bis zur linken Schläfe verlief.

Ein kleiner, etwas beleibter Mann namens Stephen Whitmore, der sich eher im Hintergrund gehalten hatte, hatte sich ebenfalls schüchtern vorgestellt. Hätte ich es nicht selbst erlebt, ich hätte meine Hand dafür in's Feuer legen können, dass er keiner Fliege etwas zuleide täte.

Na ja, meine Hand wäre verkokelt und verbrannt gewesen. Über mich selbst schmunzelnd schüttelte ich meinen Kopf und beschleunigte meine Schritte. Ich hatte keine Nerven und Energie mehr für weitere überraschende oder unliebsame Begegnungen. Die Diebe hatten mir gereicht, auf die Schwarze Lilie verzichtete ich liebend gerne.

Nach einigen Minuten kam endlich der Umriss des Trerice in Sicht und ich atmete auf. Das Adrenalin verflüchtigte sich langsam und meine Lider wurden bleischwer. Deshalb bemerkte ich die geräumigen, edlen Kutschen auch erst, als ich über eine von den sechsen, die vor dem Eingang standen, drüberstolperte.

Fluchend unterdrückte ich ein Jaulen und blickte grimmig zur Kutsche als wäre diese schuld, dass ich gestolpert war. Als ich mir meinem albernen Verhalten bewusst wurde, fluchte ich abermals leise und stapfte kochend zum Dienstboteneingang.

Mal sehen, wie lange die Lackaffen bleiben, dachte ich und meine Mundwinkel hoben sich schadenfreudig.

Fertig, fertig, fertig!
Ich meine natürlich das Kapitel und mich. Und ich hasse hohe Schuhe...gestern war ich auf einem Ball und ich kann euch soviel sagen: Meine Füsse und meine Ohren sind mir abgestorben.
Trotzdem hab ich's hingekriegt ein Kapitel zu schreiben, dazu brauche ich ja nur meine Augen und Hände, keine Panik also, ich schreibe weiter;)
So, jetzt zum Inhalt:
Wie ihr merkt (oder auch nicht), konnte ich mich nicht von der Räuberbande trennen, also habe ich sie noch einmal eingebaut. Logischerweise können sich jedoch nicht mehr renards d'or heissen, da sie ja jetzt Engländer sind und ganz bestimmt keine Franzosen, wenn man die Freundschaft bzw. die Feindschaft der beiden Länder anschaut.
Habt ihr irgendwelche Vermutungen oder Thesen, wie es weitergeht bzw. was Helene und die Diebe beschlossen haben?
Einen schöne/n Tag/Abend/Nacht
Lg Lou

PS: also der Ball wird wahrscheinlich nicht mehr aktuell sein, wenn ich dieses Kapitel poste, aber ich muss euch doch zappeln lassen und kann das Kapitel nicht schon posten;)

PPS: Der Weg auf dem Bild oben passt eigentlich, allerdings sollte schon die Dämmerung eingesetzt haben, stellts euch einfach dazu vor.

PPPS: Ich weiss, ich update wieder mal irgendwann, aber ich hatte einfach Bock zum Schreiben.

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