Das 7.Kapitel oder Myrte's Verbleib

Müde blinzelnd schlug ich meine Augen auf und sah mich um. Ich befand mich noch immer in Myrte's Zimmer, jedoch hatte Aurelien das Bett für sich alleine.
Nachdem ich gestern den Brief gelesen hatte, war ich viel zu aufgewühlt gewesen, als dass ich hätte schlafen können und hatte mich deswegen entschieden, schon gar nicht versuchen zu Aurelien in's Bett zu krabbeln, der quer auf der Matratze lag.

Stattdessen hatte ich noch lange über dem Brief gebrütet, vergeblich versucht ihn zu entziffern und es trotzdem nicht geschafft. Er musste irgendwie verschlüsselt sein, denn die Zahlen und Buchstaben ergaben einfach keinen Sinn, egal wie man sie drehte. Irgendwann musste ich dabei eingeschlafen sein und wachte deshalb völlig steif im unbequemen Holzstuhl auf.

Ich bemerkte, dass der Brief immer noch auf dem Schreibtisch lag und verstaute ihn schnell wieder in meiner Schützentasche.

Dann stand ich auf und trat an's Fenster. Die Sonne leckte schon über die Spitzen der Hügel und verlieh den Feldern darunter einen goldenen Schimmer. Es sah ein wenig wie in einem Märchenbuch aus, das ich immer so sehr gehasst hatte.

Märchen waren überhaupt nicht meins. Wieso sie eine Lehrfunktion innehaben sollten, das war mir auch schleierhaft.
"Hänsel und Gretel" ermutigten zur Hexenverbrennung; Schneewittchen, Dornröschen und Co. weckten in kleinen Mädchen den Glauben an einen  Prinzen auf seinem weissen Pferd, der sie irgendwann abholen würde und förderten damit die Überzeugung, dass sie nicht in der Lage seien, auf sich selbst aufzupassen und ein Prinz von Nöten wäre.
Was die Märchen jedoch völlig ausliessen, war, dass der Prinz vermutlich schon bald eine Affäre hätte, sich vor Spinnen fürchtete und weinte wie ein Säugling, wenn er sich verletzte.

Wie gesagt, Märchen waren meine absoluten Favoriten. Oh, ein Gentleman namens Sarkasmus lässt wieder einmal grüssen und zieht seinen Hut vor euch.

Seufzend schüttelte ich den Kopf und wandte mich ab. Es musste dem nach Sonnenstand zu urteilen mittlerweile ungefähr sechs Uhr sein, eine Uhr sah ich leider keine. Die einzige in diesem Haus befand sich in meinem Büro. Dazu hätte ich jedoch die knarrenden Treppenstufen bewältigen müssen und dazu verspürte ich überhaupt keine Lust.

Deswegen verliess ich mich auf die Sonne und lief zum Bett. Sanft rüttelte ich Aurelien an der Schulter, doch als er sich nicht einmal dazu bequemte, seine Augen zu öffnen und sich einfach umdrehte, schnappte ich mir kurzerhand seine Decke und zog sie weg.

Ein Schrei hallte durch das gesamte Haus, prallte an den Wänden ab und kam als Echo wieder zurück. Ein weit aufgerissener Mund und verblüffte Augen, die mich anklagend anschauten, drehten sich zu mir. Ich verdrehte nur die Augen und zog eine Augenbraue hoch.

Als er jedoch die Dreistigkeit besass und sich einfach wieder auf die andere Seite drehte, um weiterzuschlafen, warnte ich ihn:

"Aurelien, wenn du jetzt weiterschläfst, dann kenne ich weitere, höchst effektive Methoden dich aufzuwecken. Eine beinhaltet einen Eimer und Wasser."

Dabei klopfte ich ungeduldig mit meinem Fuss, doch ehe ich geendet hatte, schoss ein kleiner Lockenkopf in die Höhe und sprang aus dem Bett.

"Ich bin doch schon wach, Mama, manchmal frage ich mich, ob du nicht eine Brille brauchst."

Für einen kurzen Augenblick war ich sprachlos, dann setzte ich eine betroffene Miene auf und tat so, als ob ich seine Worte ernsthaft erwägen würde.

"Meinst du wirklich?"

Aurelien nickte, doch ich sah, dass er Schwierigkeiten hatte, sein Lächeln zurückzuhalten und ernst zu bleiben.

"Ganz sicher?", fragte ich nochmal und trat näher. Er nickte wieder völlig überzeugend und wollte schon zu einer Antwort ansetzen, da sprang ich vor, schlang einen Arm um seinen Bauch, damit er nicht weglaufen konnte und fing an, ihn zu kitzeln.

Er quiekte vergnügt auf, versuchte sich zu befreien und lachte schon bald so sehr, dass ihm Tränen seine vollen Wangen hinunterliefen.

"Sagst du nochmal, dass meine Augen die eines Maulwurfs sind?", fragte ich grinsend und hörte kurz auf zu kitzeln. Als er jedoch noch immer mit dem Kopf nickte, kitzelte ich noch einige Augenblicke weiter, bis er schrie:

"Aufhören, aufhören, ich ergebe mich!"

Lachend liess ich von ihm ab und hörte ein erleichtertes Seufzen. Plötzlich hörte ich weitere Kinderstimmen und streckte Aurelien meine Hand hin, um ihm aufzuhelfen. Dann öffnete ich die Tür und wir spazierten durch den Gang, sämtliche Türen öffnend.

Ich fing mir erstaunte Blicke ein, denn normalerweise weckte Myrte sie jeweils, ich selbst kam erst nach dem Frühstück.

Mit viel zu viel Schwung polterten die ersten Kinder die Treppen hinab, manche schlitterten beinahe, und ich stöhnte. Aurelien riss sich ebenfalls von mir los und stürzte sich in das Getümmel.

Es würde bestimmt ein anstrengender Tag werden, besonders, wenn ich in der Nacht zuvor auch noch zu wenig Schlaf ergattert hatte.

Langsam folgte ich den Kinderstimmen hinunter und trat in den Türrahmen. Sofort blickten mich erwartungsvolle Knopfaugen an und verfolgten jede meiner Bewegungen.

"Wer darf heute zum Bäcker?", platzte Nancy plötzlich heraus und hopste aufgeregt auf und ab.

Für die Kinder war es eine Art Privileg, zum Bäcker gehen zu dürfen, er steckte ihnen nämlich immer etwas Kleines zu, sei es ein kleines Brötchen oder eine kleine Süssigkeit.

Süssigkeiten waren viel zu teuer, deswegen brach jeden Morgen ein regelrechter Kampf aus, wer denn nun den Brotlaib abholen durfte, den der Bäcker jeden Morgen für das Waisenhaus backte.

"Lasst mich mal schauen, ich muss auf dem Plan nachgucken.", antwortete ich seufzend und nahm das Blatt Papier aus einem der hohen Regale, an das keine Kinderhand rankam.

"Mal sehen, heute ist Peter dran.", las ich schliesslich aus dem Plan und ein allgemeines Murren folgte.

Peter hingegen lächelte leicht, er war sehr schüchtern, und schloss seine kleinen Händchen um die Münzen, die ich ihm mitgab. Dann hüpfte er zur Tür hinaus.

Ich nötigte die anderen Kinder dazu, den Tisch zu decken, was sie dann auch murrend taten. Sobald Peter mit dem Brot zurückkam, setzten sich alle und wir assen unser Frühstück.

Direkt nach dem Abräumen des Tisches wäre eigentlich Unterricht angesagt gewesen, aber da Myrte noch immer nicht da war und auch die kleine Nachricht, die ich ihr am vorherigen Abend geschrieben hatte, unberührt auf dem Küchentisch lag, erlaubte ich den kleinen Racker, spielen zu gehen, was gleichbedeutend mit Das-Haus-auf-den-Kopf-stellen war.

Auch als sämtliche Raufbolde und Versteckenspieler in die Küche strömten, um ihre knurrenden Mägen zu füllen, fehlte von Myrte noch immer jegliche Spur und ich war schon völlig erschöpft.

Alleine auf die Rasselbande aufzupassen war schon mit Hilfe anstrengend, ohne war es Knochenarbeit.

Am frühen Nachmittag gab ich es dann auf, zu warten bis Myrte sich bequemte aufzutauchen und schickte John zusammen mit Nancy in's Dorf, damit sie sich erkundigten, was denn mit der verschwundenen Aufpasserin los sei.

Nach einer Ewigkeit kamen sie zurück, zusammen mit einer verschreckt aussehenden Pfarrersfrau, die wild herum gestikulierte und wie ein Schnellzug irgendeine Begebenheit herunterratterte. Ich verstand auch nach drei Anläufen kein Wort und ließ kurzerhand eine verdatterte Pfarrersfrau mit meiner Rasselbande zurück, um selbst in Erfahrung zu bringen, was sich abgespielt hatte.

Je mehr ich dem Dorfkern entgegenlief, desto mehr Menschen standen auf der Strasse, steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten hinter vorgehaltener Hand.

Schliesslich wurde es mir zu bunt und ich steuerte auf eine Gruppe tuschelnder Dorfbewohner zu, unter denen auch der Bäcker, der Schmied und eine Marktfrau waren.

"Was ist hier los?", fragte ich sie und die gesamte Menschenschar fuhr zusammen als hätte man sie bei etwas Verbotenem entdeckt.

"Du weisst es noch nicht?!", rief der Schmied aus und der Bäcker schüttelte seinen runden Kopf, "Tragische Sache, wirklich, hoffentlich steht's das arme Ding durch."

Meine Geduld zerfloss zu einer Pfütze und ich wiederholte ungehalten: "Was ist hier passiert? Könnte mir bitte jemand antworten?"

"Antworten? Ja, natürlich...", völlig zerstreut murmelte die Marktfrau etwas Unverständliches vor sich hin.

Sie alle schienen völlig neben ihren Schuhe zu stehen. Deswegen seufzte ich tief auf und lief weiter, denn ich wusste, dass ich von ihnen keine Antwort verlangen konnte.

Im Stechschritt ging ich weiter und traf nach ein paar Metern auf jemanden, der mir wirklich helfen konnte, auch wenn Übertreibung ihre Spezialität.

Zielstrebig steuerte ich auf Mrs. Gibbs zu, die in diesem verschlafenen Örtchen so etwas wie die allwissende Klatschtante war.

Als diese bemerkte, dass ich auf sie zuging, rief sie mir mit so viel Dramatik in ihrer Stimme, die einem Weltuntergang gebührend wäre:

"Ach, es ist so schrecklich! Eine solche Schandtat, hach nein! Und das ausgerechnet bei uns!"

"Was ist passiert?", fragte ich wieder, diesmal mein Ungeduld jedoch nicht zurückhaltend.

"Ach, Kind", theatralisch nahm sie meine Hände in ihre, "Das arme Ding wurde auf der Strasse bewusstlos geschlagen. Es soll ganz viel Blut dagewesen sein, weisst du!"

Am Ende ihres Satzes klang sie nicht mehr länger theatralisch, sondern aufgeregt und fasziniert. Kein Wunder, jetzt konnte sie für die nächsten Monate wenigstens ordentlich tratschen.

"Hat 'das Ding' auch einen Namen?", wollte ich versöhnlich wissen, schliesslich hatte sie mir endlich meine ersehnte Information zukommen lassen.

"Aber ja, die arme Ms. Robinson hat's erwischt. Tragisch, einfach nur tragisch!", sie schüttelte wieder dramatisch ihren Kopf.

Mein Atem stockte. Myrte war auf offener Strasse zusammengeschlagen worden?

Ohne weitere Zeit zu verschwenden nahm ich meine Röcke in die Hand und rannte in Richtung des kleinen, baufälligen Hauses, in dem Myrte wohnte.

"Pass auf dich auf, Kind, es sind unsichere Zeiten, heutzutage!", schrie mir Mrs. Gibbs hinterher, aber ich schenkte ihr keine weitere Beachtung, meine Sorge um Myrte beherrschte mich und liess keine anderen Gedanken zu.

Ausser Atem kam ich schliesslich zum Wohnhaus von Myrte und trat ohne zu zögern ein.

O.o., was ist wohl passiert?
Lasst doch eure Vermutungen und Votes da:)
Lg Lou
PS: ist die Kapitellänge ok?

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