Das 5.Kapitel oder Erfahrungen und ein Deal
Ich fühlte mich erschöpft, ausgelaugt, gerädert, überfahren, zertrampelt, zerschlagen.
Kurz gesagt, ich fühlte mich kaputt.
Man hatte meine Existenz nicht nur bis in den hintersten Winkel durchleuchtet und mich über mein ganzes Leben ausgefragt. Ausserdem wurde ich auch noch in ein Monster aus Tüllröcken und Korsett gesperrt. Obwohl mein vorheriges Kleid wirklich bequem gewesen war, hatten sämtliche Bewohnerinnen darauf bestanden, dass ich mich standesgemäss kleidete. Schliesslich sollte ich ihrer Meinung nach nicht wie eine Dienstmagd aussehen, das hier sei ein Haus von Stand, meinten sie mit hochgehobenem Kopf und gestrafften Schultern und mich beschlich wieder einmal das Gefühl, dass sie mir etwas verheimlichten.
Doch viel Zeit, darüber nachzudenken, hatte ich nicht. Das Mieder um meinen Oberkörper tat seinen Dienst. Atmen war im Moment gerade ein Fremdwort für mich.
Verzweifelt versuchte ich mich von der Tatsache, dass ich viel zu wenig Luft bekam und mir das Korsett bestimmt die Blutzufuhr abschnürte, abzulenken und liess meinen Blick durch den Raum schweifen.
Um mich herum standen Sessel, Stühle und Sofas, darauf unzählige Damen. Sie lachten, quietschen, tratschen und das alles über meinen Kopf hinweg. Ich kam mir vor wie eine Zirkusattraktion.
Irgendwo entfernt spielte ein Klavier und ich lauschte sehnsuchtsvoll seinen Tönen, die durch den Raum schwebten. Schon lange hatten meine Fingerspitzen die schwarzen und weissen Tasten nicht mehr berührt. Die Melodie verklang beinahe wieder ungehört im Raum und ich wünschte, es wäre leiser. Bienenhaus war eine passende Bezeichnung für dieses Durcheinander und das Summen, das hier herrschte. Ich vermisste Louis, unser Herumblödeln und unser Schweigen in den richtigen Momenten.
Plötzlich wurde es still. Selbst das Fallen einer Stecknadel wäre zu hören gewesen. Zuerst bemerkte ich den Stimmungsumschwung gar nicht, ich war viel zu sehr auf meine Gebete fixiert gewesen, jemand möge mich erlösen, doch dann straffte ich meine Schultern und Neugier erfüllte mich.
Ich reckte meinen Kopf über die hohen Haartürme und Hüte hinweg, um zu sehen, wer mich gerettet hatte. Zu meiner Überraschung war es die gelbe Frau, in Begleitung einer schon etwas älteren, mir noch unbekannten Dame mit streng im Nacken zusammengefassten, grauem Haar.
Eine Zornesfalte zierte ihre Stirn und liess sie noch resoluter erscheinen, sodass auch ich unwillkürlich meinen Atem anhielt, was sich nicht gerade als gute Idee herausstellte. Ich spürte, dass meine Luft mich verliess und schnappte hektisch nach Sauerstoff, aber dank Korsett füllte sie nur spärlich meine Lungen und liess einen immer grösser werdenden Druck in meiner Brust entstehen, der mich an das Gefühl von Ertrinken erinnerte.
Herzlichen Glückwunsch, Helene, jetzt weisst du, dass es möglich ist, in einem Korsett zu ertrinken. Wieder eine neue Erfahrung!, dachte ich sarkastisch und sog weiterhin Luft in meine schreienden Lungenflügel.
Als ich wieder unter den lebenden Toten weilte, ich war also doch nicht in meinem Mieder an Atemnot gestorben, und meinen Blick wieder hob, bemerkte ich, dass wie schon so oft an jenem Tag dutzende von Augenpaaren auf mich gerichtet waren, darunter auch die der Neuankömmlinge.
"Wer ist das?", fragte die grauhaarige Dame unwirsch, während ihre Beine mit erstaunlicher Geschwindigkeit den mit Sitzgelegenheiten vollgestopften Raum durchquerten und vor mir stoppten.
Bevor ich reagieren konnte und auch nur die Möglichkeit hatte etwas zu sagen, kam mir die kreischende Stimme des Mädchens in Pink, Emma, zuvor.
"Ihr Name ist Helene, aber sonst weiss sie nichts.", schnell fügte Em, ich hatte mich in diesem Moment dazu entschieden, sie so zu nennen, hinzu, "Sie hat ihr Gedächtnis verloren. Wir haben sie bei unserem Morgenspaziergang gefunden."
Ein unfreundliches "Aha" war das Einzige, das die Ältere verlauten liess, während sie mich misstrauisch umkreiste.
"Und, kannst du auch reden oder bist du stumm?", fragte sie mich schliesslich direkt, während viele der Damen erschrocken und vermutlich entsetzt nach Luft schnappten. Wie konnten sie nur nicht in einem Korsett ertrinken?
"Warum sollte ich denn sprechen können?", fragte ich, ein Herr namens Sarkasmus liess grüssen, und biss mir auf die Lippen, als ich bemerkt hatte, was mir rausgerutscht war.
Denken bevor man redet, hilft auch, schoss mir durch meinen Kopf und ich schaute die Frau entschuldigend an. Diese hatte noch immer ihre Augen zusammengekniffen und starrte mich eindringlich an.
"Kommst du bitte in mein Büro?", fragte sie und setzte sich in Bewegung, ohne zu schauen, ob ich ihr auch wirklich folgte. Die Mädchen im Raum schauten mich mitleidig an. "Tut uns leid.", flüsterten mir manche lautlos zu und ich zuckte nur mit den Schultern. Es tat mir zwar leid, wenn ich gehen musste, da es mich hier eigentlich ganz angenehm gedünkt hatte, na ja, abgesehen vom Korsett und und dem Bienenhaus, das die werten Damen gelegentlich kreierten, aber alles in allem war es trotzdem schön hier. Doch mir schien es, als wäre das für die anderen Mädchen ein Weltuntergang. Wieder eine seltsame Sache. Vielleicht könnt eich vor meiner Abreise wenigstens noch erfahren, was es hiermit auf sich hatte.
Schnell eilte ich hinterher und wurde schon wieder von Sauerstoffmangel, kein Wunder, dass die Damen früher immer in Ohnmacht gefallen waren, und nein, es lag nicht an den angeblich unwiderstehlichen Männern, sondern daran, dass sie ihren Atem anhielten, hofften, er möge weggehen und dabei leider nicht bedachten, dass Sauerstoffmangel Folgen hatte.
Ein wenig verloren stand ich auf dem Gang und wusste nicht, welche Abzweigung die Dame, vermutlich Aufseherin oder so etwas Ähnliches, genommen hatte. Ein Räuspern liess mich herumfahren und ich blickte geradewegs in's Gesicht der Person, die ich gesucht hatte.
"Wird im Gang herumstehen von der High Society also als geeigneter Zeitvertreib und ältere Damen zu respektieren als unnötig gesehen?", fragte sie und für einen kurzen Augenblick hatte ich keine Antwort parat. Selten hatte ich jemanden getroffen, der genauso sarkastisch war wie ich und unwillkürlich musste ich lächeln, was mir wieder eine gerunzelte Stirn und einen verwirrten, aber strengen Blick bescherte.
"Kommst du jetzt oder soll ich noch bis morgen warten?", fragte sie, drehte sich um, lief lautlos über die Perserteppiche und verschwand in einem der Zimmer, an dem ich vorbeigelaufen war.
Nachdenklich legte ich den Kopf schief und folgte ihr langsam, während ich mir überlegte, was ich von ihr halten sollte. Sie war jemand, den ich meiner Lister der Personen, die ich nicht einschätzen konnte, hinzufügen musste.
Meine Füsse betraten den Raum und ich war sprachlos.
Das Zimmer war von der Decke bis zum Fussboden mit Pergamentrollen, Büchern und sonstigem vollgestopft. Man konnte ihn eigentlich sogar als Bibliothek bezeichnen. Staunend nach ihm alles ganz genau in Augenschein, trat unbewusst näher und liess meine Finger über die Buchrücken gleiten.
"Ist ja schön, dass du dich dafür interessierst, aber könnten wir uns zuerst unterhalten, oder muss ich dich noch einmal darum bitten?", riss mich die Stimme der alten Dame aus meiner Bewunderung. Schnell drehte ich mich um und ging auf den Sessel zu, der vor ihrem grossen Schreibtisch stand, hinter dem sie Platz genommen hatte.
"Also, mir kannst du nicht weiss machen, dass du nicht mehr weisst, wer du bist, dafür bist du viel zu selbstsicher und eine gute Lügnerin kann ich dich beim besten Willen auch nicht nennen. Also raus mit der Sprache!"
Ich zögerte. Kam die Wahrheit in Frage? Viel hatte ich sowieso nicht zu verlieren und wenn sie ich als Hexe anklagte, dann war ich schon längst über alle sieben Berge.
"Mein Name stimmt. Ich heisse Helene und ich komme aus Frankreich."
"Frankreich?, fragte die Dame mit gerunzelter Stirn, "bist du eine Spionin?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Ich komme nicht von hier, -"
"Das hast du jetzt gerade gesagt.", unterbrach sie mich in einem trockenen Tonfall und sah mich mit erhobener Augenbraue an.
"Ich habe nicht vom Ort geredet.", antwortete ich ihr ruhig und sah, wie die Zahnrädchen in ihrem Kopf ratterten.
"Dann...redest du von Zeit?"
Ich nickte.
"Du willst damit also sagen, dass du nicht von hier, also nicht von England und nicht aus dem Jahr 1792 stammst."
"Wir haben 1792?", fragte ich alarmiert und Wut schoss in Sekundenschnelle in mir empor. Ich verwettete sogar meine Schokolade darauf, dass Nael seine Finger im Spiel gehabt hatte, Maggie würde mich niemals reinlegen. Aber Nael? Oh ja, er hatte sicherlich nur auf eine Möglichkeit gewartet, um mich loszuwerden. 1792 war offenbar genau das Jahr, in dem er mich haben wollte.
"Ist das ein Problem?", fragte sie mich, während sie ihren Kopf leicht schräg legte und ihr eine graue Haarsträhne, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte, vor ihre Augen fiel.
"Mir wäre jede Zeit recht, aber nicht 1792.", antwortete ich mit einem tiefen Seufzer und sie nickte plötzlich.
"Ich werde nicht weiterfragen, da es für mich sehr schwer zu glauben ist und ich möchte dir vertrauen können."
"Warum vertrauen?", fragte ich verwirrt und blickte sie überrascht an.
"So, wie ich deine Situation verstanden habe, hast du hier weder Verwandte, zu denen du gehen kannst, noch ein Dach über dem Kopf oder etwas zu essen. Und was wäre ich für ein Unmensch, dich wieder fortzuschicken."
"Das heisst also in anderen Worten, ich kann hier bleiben?", fragte ich noch verblüffter, als ich ohnehin schon war.
"Nun, dafür will ich auch etwas.", sie lächelte auf einmal und ihre Augen begann zu leuchten.
"Und was wäre das?", fragte ich misstrauisch zurück. Ich wusste nicht, ob mir ihre funkelnden Augen nun gefielen oder nicht.
"Du arbeitest im Waisenhaus mit. Und du schaust, dass die Mädchen nicht zu sehr über die Stränge schlagen. Einverstanden?"
Ich musste nicht lange überlegen und schlug in ihre ausgestreckte, von wenigen Falten gezierte Hand ein.
"Gut.", meinte sie nur, dann lief sie um ihren Tisch herum und stoppte direkt vor mir.
"Ich bin übrigens Ottilie Fergusson, aber nenn mich Miss Ilie."
"In Ordnung, ...Ilie, aber eine Frage habe ich noch."
"Welche?", fragte sie zurück, schmunzelnd, als wüsste sie bereits, was mir in meinem Kopf herumspukte.
"Was ist das hier? Diese Haus, die Mädchen, warum sind sie hier?"
Miss Ilie seufzte.
"Dieses Haus ist eine Art Refugium, ein Auffanglager für alle, die von der Society fallen gelassen wurden oder die etwas vor ihr zu verstecken haben. Manche bleiben auch nur für eine kurze Zeit hier, wie zum Beispiel Emma."
Ich war verwirrt.
"Warum lässt die Society Leute fallen? Und warum bleibt Emma nur eine kurze Zeit hier?"
"Die Society ist nicht so schimmernd und glänzend, wie sie sich gibt. Wenn du fällst, dann trampeln sie mit Füssen auf dir rum. Und dann verschwindest du besser von der Bildfläche, zum Beispiel hierher."
Mit einer Stimme, deren Tonfall zwischen unterdrückter Wut und Traurigkeit hin und erschwang, erklärte sie mir weiter: "Weisst du, was gefallene Mädchen sind?"
Ich überlegte kurz, dann erschien über meinem Kopf eine Glühbirne, die so hell leuchtete, dass man sie wahrscheinlich sogar auf derangieren Seite der Erde sehen konnte.
Miss Ilie bemerkte meine Erkenntnis und fuhr weiter: "Beinahe jedes Mädchen hier ist für einen Skandal verantwortlich oder konnte sich noch rechtzeitig davor retten und ist hierhin geflüchtet. Viele von ihnen waren eben nicht die braven Töchter, wie man es sich gewünscht hat und Terice war der beste Ort, um sie für eine Zeit loszuwerden. Meistens werden sie nach ein paar Jahren wieder abgeholt, mit irgendwem verheiratet und ich kann nichts dagegen tun. Aber trotz allem versuche ich , ihnen die Zeit so schön wie möglich zu machen."
Unverholene Wut sprach nun aus ihrer Stimme, ihre Augen zornig zusammengekniffen und ihre Stirn wieder einmal in Falten gelegt.
"Hier werden sie für eine Zeit aus dem Verkehr gezogen, wie zum Beispiel Emma. Nach neun Monaten wird sie wieder weg sein und glaub mir, sie ist froh darüber, dass sie den lästigen Ballast bei uns lassen kann."
Ich überlegte und eine Ahnung stieg in mir hoch, die bestätigt wurde, als Miss Ilie hinzufügte:
"Was denkst du, warum wir hier ein Waisenhaus haben?"
"Ich glaube, ich verstehe.", sagte ich langsam und versuchte Ordnung in meinen schwirrenden Kopf zu bringen.
"Also deswegen soll ich die Mädchen wieder auf die richtige Spur bringen und im Waisenhaus mithelfen?"
Miss Ilie nickte.
"Nun, was kannst du alles? Lesen und Schreiben beherrschst du?"
"Ja, auch Mathematik und einige andere Dinge. Nur Handarbeit ist keine meiner Fähigkeiten."
"In Ordnung."
Ihre Stimmung war wieder völlig umgeschwungen, gut gelaunt klatschte sie in die Hände und begutachtete mich noch einmal.
"Also zuerst müssen wir dich aus dem Korsett befreien, so kannst du nicht arbeiten."
Mit diesen Worten eilte sie voller Tatendrang aus dem Zimmer und ich konnte mein Glück gar nicht fassen. Nun war meine Pechäffchensträhne also endgültig vorbei. Das wurde aber auch langsam Zeit.
Nachdem ich Miss Ilie wieder ein paarmal im Gang verloren hatte, schubste sie mich in das Zimmer, in dem ich heute aufgewacht war und schmiss mir einen Stofffetzen gegen den Kopf.
"Zieh dich um, ich komme in zwanzig Minuten und hole dich ab, dann habe ich Zeit für dich!", rief sie , bevor sie die Tür zuknallte und mich alleine liess.
Ich mühte mich eine Ewigkeit mit dem Korsett ab, aber als ich mich endlich davon befreien konnte, atmete ich erleichtert auf. In Windeseile schlüpfte ich in das Kleid, das mir Miss Ilie zugeschmissen hatte und bemerkte, dass es dasselbe in der undefinierbaren Farbe war, das ich schon einmal getragen hatte. Ich musste lächeln und schaute nachdenklich aus dem Fenster, hinter dem sich weite Felder erstreckten.
Hallo an alle
Ich habe doch wieder mal ein Kapitel Helene geschrieben, auch wenn ich irgendwie nicht ganz zufrieden bin, aber ich hoffe, es gefällt euch trotzdem:)
Im nächsten Kapitel kommt dann endlich ein wenig Spannung rein;)
Lg Lou
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