Das 3.Kapitel oder Trerice

Meine Augen verselbstständigten sich und flatterten immer wieder auf, obwohl ich gerne noch weitergeschlafen hätte. Es war so gemütlich gewesen.

Ich wollte mich schon wieder in die Decke kuscheln, die mich umgab, als ich stutzte.

Eigentlich müsste ich doch auf dem Waldboden liegen und nicht in einem Bett. Es sei denn, jemand hätte mich aufgelesen.

Hatte sich mein Schokoladenprinz doch noch dazu bequemt, mich aufzulesen?

Meine Augenlider schnappten nun endgültig auf, denn wenn ich eins gelernt hatte, dann, dass man der Vergangenheit nicht trauen sollte.

Die Menschen war etwas eigen und eigentlich hätte ich ja gut dazupassen müssen, aber sie waren definitiv nicht sarkastisch, Manieren waren alles und Männer sassen auf einem kilometerhohen Ross und sahen auf mich herunter.

Vergangenheit beutete für mich also keineswegs nur Abenteuer. Als Hexe angeklagt zu werden war auch nicht gerade lustig gewesen. Ich war glücklicherweise noch entkommen, bevor man die Möglichkeit gehabt hatte, mich zu foltern.

Das Erste, das ich sah, war eine weisse Wand. Ja, schon richtig verstanden, eine langweilige, weisse Wand ohne Bilder, ohne Tapeten, einfach nur kahl.

Als ich meinen Kopf misstrauisch drehte, kamen ausserdem grässliche, braune Gardinen in Sicht, die ein relativ grosses Fenster bedeckten und so verhinderten, dass mir Sonnenstrahlen in mein Gesicht fielen.

Nun konnte ich endgültig ausschliessen, dass mich mein Prinz gefunden hatte, denn der würde schliesslich wissen, dass ich die Sonne mochte und sie mich oftmals davon abhielt, anderen Leuten an die Gurgel zu springen.

Vielleicht hatte sie mich auch davor bewahrt eine Serienmördern zu werden. Besonders am Morgen, wenn mich jemand aufweckte und die Sonne noch nicht schien, musste er sich schnellstens aus dem Staub machen, um nicht von einem Killerkissen oder einem tötenden Blick getroffen zu werden. Aber alle waren vorgewarnt gewesen und so hatte ich glücklicherweise noch keinen Mord auf meinem Konto.

Sonst stand nicht mehr viel im Zimmer. Ausser dem kuscheligen Bett samt Decke beherbergte der kleine Raum noch einen Schrank und eine Schminkkommode.

Stirnrunzelnd setzte ich mich auf und bemerkte zu meiner Erleichterung, dass ich bei vollem Bewusstsein blieb, auch wenn ich noch etwas zitterig auf den Beinen war und schwankte wie eine Nussschalenboot auf hoher See.

Louis und ich hatten früher oft Baumnüsse gegessen und die Schalen den Fluss hinunter schwimmen lassen. Es war immer das gleiche Ergebnis: Seine Schale war schon lange abgesoffen und meine trieb weiter, bis sie ausser Sichtweite war.

Weil ich also jedes Mal unsere Wette gewann, hatte mir Louis bestimmt schon eine Tonne Schokolade bezahlen müssen.

Unsicher lief ich auf den einzigen Ausgang aus diesem Zimmer, eine unscheinbare Holztür zu und lauschte.

Entfernte Stimmen drangen hin und wieder durch das dünne Holz, aber ich konnte ihre Worte nicht verstehen. Dann wieder einige Schritte, bevor wieder Ruhe einkehrte.

Ohne grosse Hoffnung versuchte ich die Türklinke herunterzudrücken und zu meiner Verblüffung liess sich die Tür widerstandslos öffnen. Ich war also keine Gefangene.

Wieder ein Vorteil an dieser Zeit, auch wenn ich noch immer keine Ahnung hatte, welches Jahr wir schrieben.

Vorsichtig streckte ich meine Nasenspitze zum Türspalt hinaus und wartete. Alles blieb ruhig. Mit einem lautlosen Aufseufzer schlüpfte ich aus dem Raum, in dem ich aufwacht war und trat auf einen von Sonnenstrahlen durchfluteten Gang.

Obwohl ich mir sagte, dass das nichts zu bedeuten hatte, stieg meine Laune augenblicklich an und ich musste ein Lächeln verkneifen. Vielleicht würde meine Pechäffchensträhne endlich enden. Sonne war immer gut.

Ich drehte meinen Kopf von links nach rechts und wieder zurück, während ich mir auf die Lippe biss und überlegte, in welche Richtung ich gehen sollte.

Achselzuckend drehte ich mich dann nach links, um auszutesten, ob meine Pechäffchensträhne immer noch anhielt oder ob sie endlich überwunden war.

Jeder andere Mensch würde sich wahrscheinlich nach rechts drehen und völlig abergläubisch an unsichtbare Kräfte und lenkende Hände glauben, aber ich trotzte dem und tat das Gegenteil, gerade weil es sonst niemand tat. Ausserdem hatten sich die Stimmen in diese Richtung entfernt, ich würde also früher oder später auf Bewohner dieses mir immer noch unbekannten Jahrhunderts stossen.

Auf Zehenspitzen huschte ich den mit Perserteppichen bedeckten Korridor hinunter, stets darauf bedacht keinen Laut zu verursachen, was wegen den Teppichen auch nicht wirklich schwierig war.

Türen zogen an beiden Seiten an mir vorbei, gelegentlich unterbrochen durch grosse Fenster. Jedes Mal, wenn mich wieder ein Sonnenstrahl traf, musste ich mich zusammenreissen, um nicht einfach stehenzubleiben, mich auf den Boden plumpsen zu lassen und mich zu sonnen.

Lachende Stimmen kamen näher und meine Schritte stoppten kurz.

"Du musst dich auf das Schlimmste vorbereiten und auf das Beste hoffen.", hatte Rudolf, ein Ausbilder, dem Louis und ich zahlreiche blaue Flecken und Schürfwunden zu verdanken hatten, stets gesagt und er hatte wie immer Recht. Na ja, wie fast immer.

Manchmal behauptete er auch einfach etwas, um mich mit seinen hirnrissigen Argumenten in den Wahnsinn zu treiben und mir danach weiss machen zu wollen, dass ich unser Streitgespräch verloren hatte und ihm somit eine Schachtel Pralinen bringen musste.

Rudolf war im Hinblick auf Pralinen beinahe so schlimm wie Louis und ich auf Schokolade gewesen, und wenn wir nicht trainiert hatten, so hatten wir gestritten.

Oh ja, wir hatten wirklich eine gute Beziehung zueinander. Ein Herr namens Sarkasmus liess wieder einmal grüssen.

Aber er hatte uns auf unsere Aufträge vorbereitet. Ohne seine knallharte Disziplin und seine Unbarmherzigkeit wären wir schon bei unserem ersten Einsatz draufgegangen. Und nein, es war zwar kein Frühstücken mit Dinosauriern, sondern eher ein ungewolltes Treffen mit Kannibalen.

Glücklicherweise konnten wir unsere Fesseln lösen und türmen. Lebendig gekocht zu werden war nämlich bestimmt kein Ereignis, das ich erleben wollte.

Auf der Hut schlich ich also der weissen, und wie könnte es anders sein, kahlen Wand entlang, jeden meiner Muskeln bis zum Reissen angespannt. Noch einmal wollte ich keine Bekanntschaft mit Kannibalen machen, auch wenn ich mir schlecht vorstellen konnte, dass diese in einem Haus wie diesem leben würden.

Es schien mir recht edel mit den Perserteppichen, den grossen Fenstern und marmornen Treppenhaus, das sich rechts von mir befand.

Zumindest hatte ich jetzt den endgültigen Beweis, dass ich weder in der Steinzeit noch im Mittelalter war. Dafür waren die Fenster einfach zu gross und das Haus schien zu zivilisiert.

Ein nächster Vorteil. Langsam fand ich auch positive Aspekte, ohne mich wahnsinnig anstrengen zu müssen, um einen an den Haaren herbeizuziehen.

So stand ich an die Wand gepresst neben einer offenen Tür, aus dem hin und wieder unverständliches Gemurmel klang. Vielleicht war es eine Art Salon.

Dann müsste ich mich wenigstens nicht in einer Scheune die Zeit totschlagen. Oh, schon wieder ein positiver Gedanke. Langsam wurde ich nett.

Eine mädchenhafte Stimme rief auf einmal derart schrill aus, sodass mir beinahe das Trommelfell platzte, aber verstanden hatte ich noch immer kein Wort.

Doch es war fast nicht möglich, dass das Mädchen eine mir fremde Sprache gesprochen hatte, schliesslich beherrschte ich beinahe alle Sprachen, die notwendig waren, um wenigstens die Bedeutung einiger wenigen Worte herauszufinden oder Satzfetzen zu entziffern.

Seufzend entschied ich mich bemerkbar zu machen und zu versuchen mit den Leuten zu reden, denn wenn ich hier nur dumm rumstand und sowieso nichts verstand, brachte mich das auch nicht weiter. Und falls es wirklich Kannibalen waren, dann hatte ich dazu gelernt und würde ihren Häuptling nicht mehr beleidigen.

Ich bemerkte erst einige Sekunden später, dass die Perserteppiche den Weg in den Raum nicht mehr auskleideten und so tapsten meine Füsse gut hörbar auf dem Marmorboden herum.

Das Erste, das ich sah, waren etwa ein dutzend Augenpaare, die mich überrascht anstarrten. Dazu gehörten ebenso viele Körper, die in engen Korsetten steckten, sodass es ein Wunder war, dass sie noch bei Bewusstsein waren. Ausserdem war der Raum bevölkert mit vielen edlen Möbel. Von Diwan bis Gemälden war alles dabei.

Unschlüssig biss ich mir auf die Lippe und tapste weiter, während die Blicke der Damen an mir hafteten wie Sekundenkleber. War ich etwa ihr Dessert, das sie sehnsüchtig anstarrten, aber nicht probieren durften, da sie ja sonst nicht mehr in ihre mörderischen Mieder passten?

"Oh, du bist wach!", durchbrach ein erleichterter Ausruf die angespannte Stille und ich warf dem Mädchen, die gerufen hatte, einen verwunderten Blick zu.

Englisch also, dachte ich. Ich war in England. Fragte sich nur noch, welches Jahrhundert wir gerade hatten.

"Du kannst sie doch nicht einfach duzen!", zischte eine andere Dame dem Mädchen zu und erhob sich in einer fliessenden Bewegung, die nach jahrelanger Perfektion schrie. Ihre schreiend gelben Röcke raschelten und ich schaute sie verwirrt an.

Warum sollte man mich bitteschön nicht duzen können? Zugegeben, es war vielleicht etwas unhöflich, aber nicht verwerflich.

"Das gehörte sich in der feinen Gesellschaft nicht. Man ist sich damals mit Respekt begegnet, der heutzutage oftmals fehlt.", hörte ich Maggie's Stimme in meinem Kopf, während sie mir gerade wieder einmal eine ihrer vielen Standpauken hielt, dass ich nicht in's Mittelalter marschieren und den König duzen konnte. Zugegeben, Manieren waren noch nie meine Stärke.

"Guten Tag, Miss, wir sind sehr erfreut ihre Bekanntschaft zu machen, entschuldigen Sie die unhöfliche Begrüssung. Haben Sie sich gut erholt?"

Als mich die knallgelbe Dame noch immer mit steinerner Miene anstarrte, erwachte ich aus meiner Lethargie und bemerkte, dass sie wohl eine Antwort von mir erwartete.

"Vielen Dank der Nachfrage", ich räusperte mich, um meine kratzigen Stimmbänder wieder einigermassen normale Töne herstellen zu lassen, "es geht mir besser."

Abwägend liess meinen Blick kurz durch den Salon schweifen und fragte dann, meine Neugier im Zaum haltend:

"Darf ich fragen, wo wir uns hier befinden?"

"Aber natürlich, wir befinden uns hier in Cornwall, einer Grafschaft ganz im Süden. Wir-"

"Sind Sie auf der Durchreise, Miss? Als wir sie gefunden haben, waren sie in einem schrecklichen Zustand. Ist ihre Kutsche etwa überfallen worden?", unterbrach das Mädchen die auf Manieren versessene Dame und handelte sich eine hochgezogene Augenbraue und einen strengen Blick ein, die sie sofort wieder verstummen liessen.

"Nun, wie ich gerade verlauten lassen wollte, wir nennen diesen Ort hier Kestle Mill und dieses Haus wird Trerice genannt."

Sie warf dem Mädchen, das bereits Luft geholt hatte, um etwas zu sagen, einen warnenden Blick zu und fuhr weiter: "Dies hier ist eine Art-"

Sie stockte.

"Das hier ist ein Erziehungshaus, wir leben alle hier."

Ich dachte über ihren zufriedenen und vor allem erleichterten Gesichtsausdruck nach. Offenbar war sie unendlich froh, dass ihr eine Erklärung eingefallen war, ohne dass sie erklären musste, was der wirkliche Zweck dieses Hauses war.

Und genau das steigerte meine Neugier umso mehr, aber ich besänftigte meine Ungeduld damit, dass ich mir sagte, dass ich es noch früh genug Zeit hätte, um es rauszufinden.

"Sie müssen sicher hungrig sein, Miss, ich werde der Köchin gleich Bescheid geben, dass sie Ihnen etwas zubereitet."

Mit diesen Worten rauschte sie an mir vorbei, ohne dass ich überhaupt etwas erwidern konnte.

Sobald sie ausser Sicht war, stürzten die restlichen Damen auf mich zu und umringten mich.

"Sind Sie jetzt wirklich überfallen worden, Miss?"

"Wo ist ihr Ehemann?"

"Haben Sie Schmerzen?"

"Woher kommen Sie?"

"Wie heissen Sie überhaupt?"

Die Fragen hörten nicht mehr auf und mir schwirrte der Kopf, bevor ich überhaupt nur eine einzige beantwortet hatte.

"Oh je, wir tun es schon wieder! Wir können wirklich nicht höflich sein.", rief das Mädchen auf einmal aus und ich musste dem Drang widerstehen, mir die Ohren zuzuhalten. Wie man nur so kreischend sprechen konnte, war mir eine völliges Rätsel.

Ich atmete einmal tief durch, während alle Augenpaare erwartungsvoll auf mir lagen.

"Mein Name ist Helene. Nur Helene. Und ich bin nicht verheiratet, weder verlobt. Schmerzen habe ich auch keine."

"Sind Sie nun überfallen worden oder nicht?", fragte mich eine der Damen, die ganz in einem pinkfarbenen, bauschigen Kleid eingehüllt war, aus dem nur noch ihr Kopf und ihre Arme herausschauten.

"Nein.", antwortete ich zögernd, "Wieso denken Sie das?"

"Nun, verzeihen Sie meine Worte, aber ihr Aufzug...."
Sie pinkfarbene Dame liess das Ende ihres Satzes in der Luft stehen und hüstelte verlegen.

"Nun, wie dem auch sei, möchten Sie sich nicht umziehen? Sie stecken noch immer in ihrem Nachthemd und es wäre ziemlich unziemlich, in diesem in den Speisesaal zu treten."

War sie eigentlich auch fähig Sätze ohne "nun" zu bilden?

Rasch schaute ich an mir herunter und bemerkte, dass mich wohl jemand aus dem violetten Ungetüm befreit und mich in ein weisses Rüschenkleid gesteckt hatte. Es sah grässlich aus, aber immerhin war es einigermassen bequem.

"Ähm, ja natürlich.", antwortete ich schnell und das schreiende Mädchen lächelte mir zu.

"Kommen Sie mit, ich gebe ihnen etwas Angemessenes."

Ohne Vorwarnung packte sie mich an meiner Hand und zog mich, bevor ich überhaupt eine Chance zu protestieren hatte, aus dem Salon.

Puuuh, endlich fertig. Wisst ihr eigentlich, wie anstrengend es ist lange Kapitel zu schreiben? Mist, na ja, das wisst ihr, jetzt krieg ich sicher keine "oooh"s.....
Ich hoffe natürlich, dass euch die Wendung gefällt, auch wenn bis jetzt noch nicht viel passiert ist, Action kommt aber erst später...

Und wichtig:
Was haltet ihr davon, wenn ich ein Bewertungsbuch ins Leben rufe? Ja? Nein? Vielleicht?

Lg louve

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