Das 2. Kapitel oder Torkelnd

Das Erste, das ich wahrnahm, war nicht etwa ein Geräusch oder ein Bild. Es war ein Gefühl.
Gänsehaut überzog meine gesamte, aufgeweichte Haut und liess mich bestimmt aussehen wie ein gerupftes Huhn.

Ich wollte meine Augen nicht öffnen, also blieb ich unbeweglich liegen, aber je länger ich bei Bewusstsein dalag, desto ungemütlicher wurde mein derzeitiger Aufenthaltsort.

Unter mir spürte ich einen unebenen Grund, der schmatzte, wenn ich mich bewegte und rümpfte angeekelt die Nase. Ausserdem strich der Wind immer noch unbarmherzig Kälte über meinen Körper, die in jede Ritze meiner Kleidung und durch jede Pore meines Körpers kroch. Es half alles nichts.

Seufzend atmete ich tief durch und wappnete mich für das, was mich erwartete.

Mit einem Ruck zwang ich mich dazu, meine Augen zu öffnen, ohne sie gleich wieder zuzukneifen. Dies gelang mir auch, doch ich hätte sie am liebsten wieder geschlossen.

Man konnte mit Fug und Recht behaupten, ich war ein Wettermensch. Wenn die Sonne schien und es warm war, dann war auch meine Laune erträglich, aber wenn sich eine graue Suppe den Himmel schimpfte und meine Haut einem toten Federvieh glich, dann war meine Stimmung eingefroren.

Und so war es jetzt. Über mir hing eine graue Decke, kein einziger Sonnenstrahl fand seinen Weg hindurch. Der eisige Wind trug seinen Teil dazu bei, dass ich das Gefühl hatte, am Nordpol zwischen Packeis und Eisbären gelandet zu sein.

Ich wusste, dass mir nicht gefallen würde, was ich sonst noch sähe und setzte mich zögernd auf, mir Horrorszenarien überlegend. Vielleicht war ich ja irgendwo in der Eiszeit gelandet oder bei den Steinzeitmenschen. Dort hatte Schokolade bestimmt noch nicht existiert. Schrecklich.

Sobald sich mein Oberkörper in vertikaler Lage befand, begann mein Kopf zu protestieren und pochte unangenehm. Meine Augen produzierten ein leicht verschwommenes Bild und ich musste für einige Augenblicke verharren, damit es sich klärte.

Und dann fluchte ich. Aber nicht wegen dem, was ich sah. Zumindest nicht direkt. Ich fluchte wegen dem, was ich nicht sah.

Mein Auge sah inexistente Häuser direkt neben den nicht vorhandenen Strassen, die man von dem abwesenden Kirchturm aus bestimmt gut überblicken können hätte. Auch die freundlich lächelnden Bauern und die feilschenden Händler, die nicht da waren, komplettierten das idyllische Bild.

Wenn irgendetwas davon ersichtlich gewesen wäre.

Aber bei meinem Glück war das auch nicht verwunderlich. Louis hatte mich an manchen Tagen "Pechäffchen" genannt, weil ich zwar meine Muskeln immer noch gleich gut im Griff hatte wie ein kletternder Affe, also sehr gut, aber mir sonst alles entglitt. Der Zug fuhr vor meiner Nase davon, der Aufzug schloss seine Türen, wenn ich sowieso zu spät war und meine Bestellung im Restaurant ging verloren, wenn mein Magengrummeln sogar dem Erdbeben von Los Angeles Konkurrenz machen konnte. Und nun, gerade in diesem Moment war ich wieder Louis' "Pechäffchen".

Um es auf den Punkt zu bringen, ich sah nichts. Ausser ein paar Feldern und ein vereinzelten Baumkronen in der Ferne umgaben mich nur das Rauschen des Windes, wenn er durch das Getreide um mich herum strich, das gelegentliche Krächzen, dass sich nach einem ertrinkenden Pferd anhörte und auf Raben hindeutete und nicht zu vergessen die grauen Wolkenberge, die sich über mir um die Wette türmten.

Meine Laune schlechter als an meinem fünfzehnten Geburtstag, als Louis mir meine Schokolade geklaut hatte, zog ich die Knie an und legte mein Kinn darauf, nur um mir ein paar Sekunden später angeekelt den Schmutz vom Kinn zu wischen.

Es brachte nicht viel. Auch meine Hände hatten im Matsch gebadet und wiesen die gleiche dunkle Farbe auf wie die klumpige Masse, in der ich mein Kleid gewälzt hatte und die wohl die Erde darstellte.

Meine Augen zusammenkneifend stellte ich fest, dass ich mich auf einem Feld befinden musste. Auf einem bewirtschafteten Feld. Wenigstens eine gute Nachricht. Die negativen überwogen deutlich.

Weizenähren umgaben mich und bogen sich hin und wieder ungelenk im Wind. Wenn dieses Feld bestellt war, dann konnte es doch wohl nicht so schwer sein, ein paar Menschenseelen zu finden.

Ich rappelte mich auf und kam unsicher auf meinen Füssen zu stehen.

Meine Aufmerksamkeit galt für eine kurze Zeit meiner eigenen Erscheinung und ich musste trotz meiner derzeitigen Situation schmunzeln.

Maggie würde toben und sich die Haare raufen, während sie mir eine Standpauke über die feine Gesellschaft und wie man sich in ihr zu verhalten hatte halten würde, sähe sich mich in meinem jetzigen Aufzug.

Glücklicherweise befanden wir uns nicht im gleichen Jahrhundert, auch wenn ich nicht genau wusste in welchem ich mich genau befand, so konnte ich doch mit Sicherheit ausschliessen, dass es das 21. war. Zu wenige Strommasten, die die Gegend verunstalteten und zu frische Lift, völlig frei von Abgasen. Unberührte Natur in der Nähe der Menschen des 21. Jahrhundert gab es nicht, so viel konnte auch ich herausfinden. Ausserdem stand ich in einem Weizenfeld, dessen Sorte überaus selten war, die man früher jedoch gehäuft angepflanzt hatte.
Noch ein Vorteil.

Maggie würde mich auf den ersten Blick wahrscheinlich gar nicht erkennen. Mein hellviolettes Kleid war nicht nur völlig durchnässt und hing klamm herunter, es war auch schwierig als violett erkennbar. Dreck hüllte es ein und verdeckte seine Ursprungsfarbe mit Erfolg. Vorsichtig tastete ich nach meinen Haaren und zog genervt die restlichen Strähnen aus meiner Hochsteckfrisur, viele waren sowieso nicht mehr an ihrem ursprünglichen Platz gewesen, sondern hingen kreuz und quer um mein Gesicht herum.

Wieder ein Seufzen, aber diesmal hielt ich es nicht zurück und so klang es dramatisch und völlig theatralisch. Es fehlte nur noch ein Prinz, am besten auf einem Schimmel und mit im leider abwesenden Sonnenlicht glänzender Rüstung, der auf mein Seufzen erhörte und mich mitnahm, um mir dann vielleicht ein Bett, aber auf jeden Fall Schokolade anzubieten. Na ja, das war auf jeden Fall die Möglichkeit, die mir am besten gefiel.

Doch auch nachdem ich einige Zeit auf eine mir unbekannte Sache wartete, ich fand nie heraus auf was, gab ich es auf. Natürlich kam Prinz kam vorbei, um mich bei sich aufzunehmen und so setzte ich mich langsam in Bewegung, schwankend, wie jemand, der zu tief ins Glas geschaut hatte. Ich hatte zwar nicht zu viel Alkohol in meinen Adern fliessen, dafür aber Adrenalin. Schliesslich wacht man nicht oft auf einem Acker auf ohne zu wissen, in welcher Zeit man sich gerade befand.

Meine Knie fühlten sich an, als wären sie aus Kaugummi und meine Beine hatte jemand wohl gegen Blei ausgetauscht. Eine nicht sehr vorteilhafte Kombination, wenn man in Betracht zog, dass mein Gehirn sich gerade anfühlte als würde ein Elefant auf ihm herumtrampeln. Alles in allem befand ich in herrlicher Verfassung.

Habe ich jemals erwähnt, dass mein Humor etwas eigen ist? Ach ja, und ein Herr namens Sarkasmus ist mein treuer Begleiter, der oft eine Dame namens Manieren beiseite stösst und mir Worte in den Mund legt, die mein Gegenüber sprachlos werden lassen. Sie mögen sich nicht, aber ich denke, das ist verständlich. Aber heute stritten sich beide einmal nicht, zumindest hörte ich sie nicht, der Elefant in meinem Kopf polterte zu laut.

Ich schlafwandelte weiter über den Acker, ein wirkliches Ziel besassen meine Füsse nicht, sie trugen mich einfach in eine Richtung, in der ich mir Zivilisation erhoffte.

In meinem Fall war das Richtung Baumkronen, die sich jedoch, je weiter ich kam, immer mehr zu einem Wald verdichteten.

Ups, war mein erster Gedanke, denn wer wohnte schon im Wald? Aber dann fiel mir ein, dass ich dort wahrscheinlich besser Schutz und vielleicht sogar etwas finden würde, das mir helfen würde mein Magenknurren zu besänftigen, aber bei meiner Glückssträhne war dies eher unwahrscheinlich.

Ich bemerkte laut keuchend, dass mein Zeitsprung wirklich seinen Tribut gefordert hatte, ich war nach dem kurzen Stück Weg, den ich bis jetzt zurückgelegt hatte, schon völlig erschöpft.

Schweratmend musste ich eine Verschnaufpause einlegen und lehnte mich gegen den Stamm eines hoch aufgeschossenen Baumes,  während ich mich abermals vergewisserte, dass ich mich wirklich in der Pampa befand und das keine Illusion oder etwas Ähnliches war. Leider änderte sich nichts, egal wie oft ich mich in den Arm kniff, nur die Abdrücke meiner Finger waren zu sehen.

Noch immer das gleiche Bild. Abwägend schaute ich vom Wald zum offenen Feld und wieder zurück. Dann raffte ich mich wieder auf und setzte meinen Weg in Richtung Wald torkelnd und schwerfällig einen Fuss vor den anderen setzend fort.

*

Ich brannte. Mein Körper bestand aus erhitztem Blei, dass sich schwerfällig fortzubewegen versuchte und mein Atem glich dem einer Dampflokomotive. Weisse Atemwolken verliessen meinen Mund und verschwanden irgendwo in den hohen Tannen, die mich umgaben.

Immer öfter musste ich eine Pause einlegen und warten, bis sich meine verschwommene Sicht wenigstens ein bisschen klärte, sodass ich zumindest die Umrisse meiner Umgebung sah. Währenddessen klopfte ein Hammer gegen meinen Kopf, mein Blut rauschte laut in meinen Ohren und ich wünschte mich zurück.

So hatte ich mir das alles nicht vorgestellt. Weder einen endlosen Wald noch eine mir unbekannte Zeit hatten sich in meiner Erwartung, wie der Auftrag ereignen würde, widerspiegelt, aber nun konnte ich es nicht ändern.

Nach Hause war keine Möglichkeit für mich. Auch wenn ich ein Switcher war, so waren meine Reisekapazitäten doch nur begrenzt. Falls ich nicht gerade einen Todeswunsch hegte oder mit Dinosauriern frühstücken wollte, musste ich mindestens noch ein halbes Jahr warten, wegen meiner zusätzlichen Reise von der französischen Revolution in dieses Nirgendwo wahrscheinlich sogar länger.

Ich liess mich mit einem dumpfen Plumpsen auf den mit Tannennadeln bedeckten Waldboden fallen und dachte nach, so gut es in meiner Verfassung eben ging.

Dass Maggie den Switcher falsch eingestellt hatte, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Auch wenn sie die grösste Chaotin war, die mir je begegnete, so wusste sie trotzdem genau über ihre Steckenpferde Bescheid und ein solcher Fehler wäre ihr niemals unterlaufen.

Mein Kopf pochte stärker und es war mir unmöglich meinen Gedanken weiterzuverfolgen, also stopfte ich ihn kurzerhand in eine der vielen Schubladen in meinem Kopf und schloss erschöpft die Augen.

Viele Möglichkeiten hatte ich nicht mehr. Entweder setzte ich meinen Weg fort, bis ich zusammenbrach, mit der Aussicht, dass ich vielleicht auf Menschen stiess oder ich blieb hier, kratzte meine noch übriggebliebene Kraft zusammen und suchte nach etwas Essbarem und einem Unterschlupf.

Mein Magen und meine zitternden Glieder nahmen mir meine Entscheidung ab. Mit Hilfe der Tanne, unter der ich lag und deren Stamm ich verzweifelt umklammerte, schaffte ich es nach einiger Anstrengung auf meine Füsse zu kommen, auch wenn schwarze Punkte wieder einmal einen Tanz vor meinen Augen aufführten.

Bald flohen meine Gedanken, bevor ich sie überhaupt denken konnte, sie flohen und liessen sich nicht fassen und so schleppte ich mich weiter.

Alles war verschwommen, dunkle Farbflecken, die sich zu einem Mosaik vervollständigten, deren Motiv ich nicht erkennen konnte.

Einige Male wäre ich wohl beinahe gegen einen Baumstamm geknallt und konnte mich in letzter Sekunde noch stoppen, auch wenn das abrupte Halten mir immer mehr meiner Sicht klaute.

Mein Zeitgefühl ging mir völlig verloren und Meine Kräfte verliessen mich ganz. Entkräftet liess ich mich auf meine Knie sinken und hob meinen Blick nochmal.

Trotz meines Zustandes bemerkte ich, dass die Flecken von einem dunklen braun und grün zu helleren Farben wechselten.

Hoffnung machte sich in mir breit, das andere Ende dieses Waldes endlich erreicht zu haben und ich krabbelte auf allen Vieren weiter, vermutlich bewegte sich sogar eine Robbe eleganter fort als ich in diesem Moment.

Es war keine Einbildung gewesen, die hellen Flecken wurden tatsächlich mehr und ich schloss, dass es der Himmel sein musste, den ich nun wieder sah, nachdem er im Wald von den dichten Blätterdächern verdeckt worden war.

Mein Herz raste, während Schweissperlen ihren Weg über meine Stirn fanden, um mir dann in meine Augen zu tropfen und unangenehm zu brennen, aber ich nahm alles nur noch am Rande wahr.

Wie eine Motte zog mich das Licht an und in mir kämpfte jede Zelle gegen den Drang aufzugeben.

Wie ein Roboter kroch ich weiter. Plötzlich schlug mir die Helligkeit mit voller Wucht in mein Gesicht und ich sah nichts mehr.

Ich hab's bereits erwähnt, ich war und bin ein Wettermensch. Und darum lächelte strahlend.
Wenigstens schien die Sonne, wenn ich schon zusammenklappte.

Hallo meine lieben Leute

Wieder ein neues Kapitel, schon mal n grosses tschuldigung, dass ihr derart lange warten musstest, aber es war ein ganzes Stück Arbeit. Wie auch immer, hier ist es....lasst mir doch bitte eure Meinung da, ja?
Lg louve

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