Das 16.Kapitel oder Kutschenfahrt
Dicke Regentropfen fielen vom Himmel und wurden vom peitschenden Wind unbarmherzig gegen das Kutschenfenster gedrückt. Schweigend starrte ich hinaus und fragte mich, ob meine Entscheidung die richtige gewesen war. Ich hoffte, dass niemand wegen mir zu Schaden kommen würde. Die Chance bestand leider immer noch, das wusste ich nur allzu gut, und ein mulmiges Gefühl hatte sich hartnäckig in meinem Magen eingenistet.
Meinen Kopf an das kalte Fensterglas gelehnt, starrte ich hinaus auf den braunen Matsch, der sich auch Weg nannte, direkt neben einigen Weizenfeldern, die vom Aussehen her sogar als Sumpf durchgehen konnten.
Hatte ich schon erwähnt, dass ich ein Wettermensch war? Auf jeden Fall hatte meine Laune die besten Voraussetzungen, einen neuen Tiefpunkt zu erreichen.
Regen, ein paar Drohungen, ein Brief, den ich noch immer nicht entschlüsselt hatte und ein Lackaffe. Oh, das hatte ich noch gar nicht erwähnt.
Gegenüber von mir auf der mit dunkelblauem Samt überzogenen Kutschenbank sass ein Lackaffe. Sitzen war wohl nicht das richtige Wort, um zu beschreiben, was ich sah, zusammengefallen und verkrümelt in der Ecke verzogen traf es wohl schon eher.
Während den Stunden, die wir gemeinsam in dieser Kutsche verbracht hatten, hatten wir kein Wort gewechselt. Anfangs hatten wir uns verstohlene Blicke von der Seite aus zugeworfen, doch irgendwann hatte er sich zurückgelehnt, die Augen geschlossen und angefangen mit offenem Mund zu schlafen. Das Schnarchen war glücklicherweise nur sehr leise, sonst wäre ich in Versuchung gekommen, ihm die Nase zuzuhalten.
Ähm, ja, der Lackaffe hatte auch einen Namen. Vielleicht Lucas? Oder doch John? Nein, es war Andrew gewesen. Oder?
Im Namen merken war ich noch nie gut gewesen und bei den Lackaffen hatte ich mir schon gar keine Mühe gemacht. Rückblickend wäre es vielleicht nicht schlecht gewesen. Dann wüsste ich wenigstens, mit wem ich denn hier in der Kutsche festsass.
So unangenehm es mir auch gewesen war, die Lackaffen waren die einzige Option gewesen, um möglichst unbemerkt von Trerice wegzukommen. Zuerst hatte ich natürlich auch beichten müssen, wo die gestohlenen Besitztümer hingekommen waren, doch zu meiner Überraschung zeigten nur die beiden korsettierten Puten, deren Namen ich mir auch nicht gemerkt hatte, die Reaktion, welche ich erwartet hatte. Empört schnappten sie nach Luft und spielten ihren Akt perfekt. Theatralisch liessen sie sich zu Boden sinken, sich völlig bewusst, dass die Gentlemen herbeieilen und sie auffangen würden.
Der ältere Herr hingegen hatte nur amüsiert die Augenbraue gehoben und die anderen Lackaffen hatten gar keine Reaktion gezeigt. Und dann war das Angebot gekommen, mit dem ich überhaupt nicht gerechnet hatte.
+Flashback+
"Sie müssen hier weg.", meinte der ältere Herr, von dem ich den Namen noch immer nicht wusste.
Ein wenig verwirrt blickte ich ihn an und wusste nicht, ob er von mir erwartete, dass ich ihm eine Antwort gab oder ob ihm mein Schweigen schon genug war. Schliesslich waren seine Worte eine Aussage und keine Frage gewesen.
Nach ein paar Sekunden fuhr er fort:
"Sie kommen mit uns...."
Entsetztes Aufkeuchen der beiden Damen hallte durch den Raum, dann platzte die eine mit schriller Stimme heraus:
"Das können Sie nicht machen! Sie wollen eine Diebin mitnehmen? Wollen Sie, dass wir nochmals ausgeraubt werden? Sind Sie völlig von Sinnen? Das ist einfach unvorstellbar, eine Frechheit, sowas..."
Weiter kam sie nicht, denn die Worte blieben ihr im Hals stecken, als der ältere Lord seine Hand hob, sie einmal streng anblickte und sich wieder mir zuwandte.
"Wie gesagt, Sie kommen mit uns. Nach London. Ich halte es für unklug, wenn wir uns hier noch länger aufhalten, deshalb werden wir schon heute aufbrechen."
Ein entnervtes Stöhnen hinter seinem Rücken veranlasste den Grauhaarigen abermals, sich umzudrehen und einen strengen Blick in Richtung der jungen Gentlemen zu werfen.
"Sobald wir in London sind, können Sie machen, was Sie wollen."
Er machte eine bedeutungsvolle Pause und bohrte mit seinem Blick in meinen.
"Oder Sie arbeiten für mich."
"Wie sollte ich für Sie arbeiten können?", fragte ich nach einer kurzen Pause, in der ich versuchte zu verarbeiten, was mir dieser Lackaffe, der gar nicht mehr so lackaffig war, vorschlug.
"Ich habe einen Freund, dessen momentane Lage es für ihn unmöglich macht, sich um seine kleine Tochter zu kümmern. Diese Tochter benötigt jemanden, der sie weiter ausbildet, sie in die Gesellschaft einführt und auf sie aufpasst, wenn ihre Umwerber Schlange stehen. Verstehen Sie, was ich meine?"
Abwesend nickte ich. Eigentlich war gerade dieses Angebot die Hölle für mich und ging völlig gegen meine Prinzipien, da ich tagein tagaus in Kontakt mit Lackaffen sein würde, aber welche Wahl hatte ich schon? Wenigstens hätte ich ein bequemes Bett, warme Mahlzeiten und wäre nicht auf der Strasse. Ausserdem war es meiner Meinung nach immer noch die bessere Option, als bei den Puten und den anderen, im Moment anwesenden Lackaffen zu bleiben. Ich hatte vor allem bei den Damen sehr stark gemerkt, dass sie mich nicht mochten, was für die anderen Herrschaften auch galt. Es war ja auch kein Wunder, schliesslich hatte ich ihnen indirekt ihren Schmuck geklaut.
Für einige Augenblicke herrschte stille, dann nickte ich, zuerst unsicher, dann immer bestimmter und wandte mich dem Lord zu:
"In Ordung."
+Ende Flashback+
Und jetzt sass ich in dieser unbequemen Kutsche, die von jedem noch so kleinen Schlagloch durchgerüttelt und geschüttelt wurde und fuhr nach London.
Die Sorge wurde trotzdem nicht weniger. Die Schuldgefühle auch nicht. Ich liess wieder einmal alle im Stich. Ganz Trerice war auf sich alleine gestellt, was wenn sie kamen? Und Myrte. Ich wollte gar nicht an sie denken. Mein Herz zog sich schon so zusammen und suchte ein Versteck, einen eisernen Käfig, in dem es sich zurückziehen konnte, doch es war angeklebt auf dem Silbertablett und blieb laut pochend darauf liegen.
Ich wusste nicht, ob ich mir selbst trauen konnte. Das letzte Mal, als die Lilie mir so nah gewesen war, waren danach alle weg, die mir irgendwie etwas bedeutet hatten. Jeder einzelne. Verschwunden. Nicht mehr auffindbar. Weg.
Das alles hatte ich schon einmal erlebt, deswegen hatte ich Angst. Eine alles überschattende, allumfassende Angst. Damals hatte ich mich gefragt, ob es je aufhören würde. Ich frage mich jetzt noch.
Tief in Gedanken versunken starrte ich hinaus in verregnete Landschaft und rutschte nervös auf der Kutschbock herum.
Plötzlich knarrte es und ich schreckte zusammen. Scharf zog ich die Luft ein und schaute zum Ursprung des Geräusches, bevor ich entnervt mit den Augen rollte und mich erleichtert wieder zurücklehnte.
Der Lackaffe konnte offenbar nicht leise aufwachen, er musste natürlich alles und jeden auf sich aufmerksam machen und mir das Gefühl geben, dass die Kutsche gleich unter uns zusammenkrachte.
"Was schauen Sie mich so an, Verehrteste?", fragte diese Nervensäge und ich schnaubte abfällig. Was war Verehrteste bitteschön für ein Wort?!
Das Gesicht verziehend schüttelte ich nur den Kopf und hoffte, dass er wieder in seine gepuderten Träume abdriften würde, aber ich war wieder einmal das Unglück in Person. In anderen Worten, mein Gegenüber war quietschfidel.
"Nun, können wir vielleicht zu einer etwas vertrauteren Anrede übergehen? Ich bin Lucas.", meinte er und streckte erwartungsvoll die Hand aus. Also doch Lucas. Wenigstens mannt eich jetzt seinen Namen.
Zögernd ergriff ich seine Hand und war überrascht, als ich nichts an seinem Händedruck auszusetzen fand. Er war weder zu fest, noch zu schwach, noch zu nachlässig, irgendwie genau richtig.
"Helene.", erwiderte ich wortkarg, was ihn leider nicht abschreckte.
"Ich weiss.", antwortete er mit einem verschmitzten Grinsen und fuhr gleich darauf fort, "Ich fand deine Aktion übrigens toll."
"Hä?", fragte ich wenig einfallsreich und er lachte laut auf. Als er sich wieder beruhigt hatte und ich ihn, obwohl ich es mit aller Macht zu verstecken versuchte, neugierig ansah, erlöste er mich endlich und eröffnete mir:
"Als du uns ausgeraubt hast. Ich habe wirklich nichts bemerkt und ich werde normalerweise sehr schnell wach. Du hast meine ganze Bewunderung dafür."
Eine kleine Verbeugung andeutend grinste er mich an und ich erkannte mich selbst nicht mehr, als sich meine Mundwinkel ein Stück hoben und ich zurückgrinsen musste.
Zu meiner Überraschung kamen wir in's Gespräch, ohne uns mit jedem auch nur erdenklichen Wort zu beleidigen. In Wirklichkeit unterhielten wir uns schon bald angeregt über Sternbilder, Geographie, Pythagoras und Company, Langeweile und über die Gesellschaft aka. Lackafferie.
Das Wort Lackafferie war mir aus Versehen herausgerutscht, doch als Lucas mich so lange nervte, bis ich ihm erklärte, was ich damit meinte und er sich dann zuerst von seinem Lachanfall erholen musste, gewann er definitiv ein paar Sympathiepunkte. Vor allem, als er mit mir weiterlästerte.
Vielleicht waren die Lackaffen in der Lackafferie gar nicht so schlimm, wie ich gedacht hatte.
Jap, wieder mal was von mir....Ich hab ein total schlechtes Gewissen, aber ich kriege einfach nicht hin, dass ich regelmässig schreibe und update....
Na ja, ich hoffe, ihr habt Verständnis mit mir und kommt nicht gleich mit euren Kettensägen und Mistgabeln.
lg Lou
PS: Ein herzliches Willkommen an alle, die neu dazu gekommen sind. Freut mich natürlich sehr;)
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