Hektik

Eine sanfte Melodie lag an dem kalten, verregneten, grauen Tag in den Straßen des herbstlichen Seouls. Doch kaum einer der vorbeieilenden Passanten achtete auf die junge Frau, die sich an diesem Mittwochmorgen mit ihrer Geige in die Kälte gestellt hatte, um ihr Erlerntes darzubieten.

Die meisten Menschen waren mit der Zeit unachtsam geworden, sahen nicht mehr die kleinen Gesten.
Die meisten Menschen eilten an diesem Tag, wie an jedem anderen auch, ohne auf ihr Umfeld zu achten ins Warme.

Nicht so der junge Mann, der in der Nähe der Violinistin auf einer kaputten Plastikbank unter einem Ahornbaum, der so krank aussah, als stände er gerade ganz knapp vor Entwurzelung, saß und wachsam in Richtung der Violinistin sah.
Er saß dort, seit sie angefangen hatte zu spielen.
Und er saß dort, bis sie aufhörte, zu spielen.

„Du spielst sehr schön."
Sie sah ihn überrascht an. „Danke"
Eine Stille, nicht unangenehm, eine Stille, die entsteht, wenn man sich einfach gerade nichts zu erzählen hat, legte sich über die Beiden. Ihre Blicke trafen sich hin und wieder flüchtig. Er lächelte leicht. „Kommst du wieder?"
„Ich spiele jeden zweiten Mittwoch."
Er nickte und drehte sich um. „Ich werde auf dich warten."

Er hatte bestimmt schon ein paar Stunden auf derselben Bank gesessen, als die junge Frau zwei Wochen später wieder an demselben Platz in der selben Straße ihre Geige aus dem schwarzen Koffer holte und zu spielen begann.

Wieder reagierte kaum jemand. Wieder war es kalt. Wieder wurde sie ignoriert. Nur der junge Mann, schätzungsweise Anfang, Mitte zwanzig drehte ganz leicht seinen Kopf in ihre Richtung, ein hauchzartes Lächeln auf seinen Lippen. Er wartete geduldig jeden einzelnen Ton ab, wartete bis sich die Töne zu einer Melodie, einem ihm bekannten Lied zusammengefügt hatten.

Nach einem Lied, oder zwei, oder auch zehn setzte sie das Instrument ab, sah flüchtig einmal um sich. Als ihr Blick den seinen traf weiteten sich ihre Augen fast unmerklich. Sofort wandte sie sich ab.
Ein amüsiertes Schmunzeln huschte über sein Gesicht, während sie hastig ihre Sachen zusammensuchte und ging.

Zwei Wochen später, gerade als die Frau ihre Geige zurück in den zugehörigen Koffer legte, hörte sie eine warme Stimme hinter sich: „Sag mal, hast du schon Mal darüber nachgedacht, professionell bei einem Orchester mitzuspielen?" Sie drehte sich um, den Hauch eines Lächelns auf ihren Lippen, ging aber nicht auf seine Worte ein.
„Du bist doch gekommen."
„Ich höre dir immer zu."

Nach zwei Mittwochmorgen kam die junge Violinistin wieder zurück zu ihrem altbewährten Platz. Diesmal hatte sie den Mann schon früher an dem Ahornbaum neben der Bank, auf der er gesessen hatte lehnen gesehen. Trotz des angekündigten Regens. Der Himmel war zugezogen, die Kälte ging allen durch die Kleidung. Trotz dessen war er dort. Sie war so vertieft in ihr Geigenspiel, dass sie nicht merkte, dass er sich von dem Baum gelöst hatte und zu ihr kommen war. Sie bemerkte ihn erst bei seinem leisen, fast gehauchten „Danke".
Überrascht fuhr sie herum, doch er hatte sich bereits umgedreht und verschwand gerade in einer Seitenstraße.

Danke. Dieses einzelne, kleine, fast schon unbedeutende Wort halte die nächsten zwei Wochen bis zum Mittwochmorgen in ihrem Kopf.

Es hatte über Nacht geschneit. Für Schnee war es in diesem Jahr etwas früh und so war er mit dem Morgen zu einem graubraunen Matsch geworden, der überall in den Straßen verteilt lag. Der Rest des Schnees war von dem Regen erschlagen und weggespült worden, der daher schon den ganzen Morgen vom Himmel fiel.

Für dieses Wetter waren an diesem Tag überraschend viele Menschen auf der Straße. Mit zugekniffenen Augen und zusammengepressten Lippen hasteten sie auf dem Weg zur Arbeit durch die Straßen. Oder sie saßen in einem der vielen Autos und ärgerten sich über den Stau.

Niemand achtete auf die verlassene Gestalt mit der Geige, die sich trotz des Wetters unter einen Ahornbaum, der so krank aussah, als stände er gerade ganz knapp vor Entwurzelung, gestellt, ihren schwarzen Geigenkoffer auf die kaputte Plastikbank gelegt hatte, und nun eine zarte Melodie durch die Straßen schickte.

Sie schien komplett in ihrer eigenen Welt zu versinken, bemerkte den jungen Mann nicht, der ihr schon seit Anfang dieses Auftrittes zuhörte, ihr schon von Anfang aller ihrer Auftritte an zugehört hatte. Erst als sie den Bogen absetzte und in die Realität, den Regen, zurückkehrte fanden sich ihre Blicke. Sanft verzogen sich ihre Züge zu einem schüchternen Lächeln, während sie sich daran machte, ihre Geige zurück in den Koffer zu legen.

„Hey" Er trat auf sie zu.
„Hey"
Er deutete auf das Instrument. „Spielst du noch eins für mich?"
Sie zögerte kurz, griff dann aber nach der Geige. „Welches denn?"
„Wie du meinst."

Sie überlegte und legte die Geige zurück an ihre Schulter. Der junge Mann hörte wie gebannt auf jeden einzelnen der klaren Töne, die der Bogen auf den Saiten der Geige hinterließ. Wartete geduldig, bis der letzte Ton verklungen war. Lauschte ihr, solange sie auch spielte.

Der nächste Mittwochmorgen, an den sie zu ihrem altbekannten Platz zurückkehrte, um ihre Geige aus dem Koffer zu holen und vielleicht einmal von anderen gehört zu werden war nicht verregnet, nur klirrend kalt. Der Dezember war angebrochen und die ersten Menschen machten Besorgungen für Weihnachten und doch achtete man nicht auf eine einzelne Violinistin.

Nun ja, es war nicht die unbeschwerteste Ecke der Hauptstadt Südkoreas.

Die sanfte Melodie zog sich durch die Straßen und bahnte sich einen Weg in die Herzen, die es zuließen, auf sie achteten.
Bezaubert trat der junge Mann, welcher immer, jeden zweiten Mittwochmorgen, kam und zuhörte näher auf die junge Frau zu. Sein warmer Atem dampfte bei den kalten Temperaturen.

Ein Bus kam auf der gegenübeliegenden Straßenseite an, einen plappernde Schulklasse lief wuselnd neben der jungen Frau entlang, wollte ebendiesen gerade noch erwischen.
„Beeilung, hier rüber!", brüllte eine Lehrerin, eine Frau, schätzungsweise fünfzig, welche die Klasse nicht wirklich unter Kontrolle hatte. So lief sie neben der Gruppe her, versuchte, einen Schulausflug mit der lärmenden Grundschulklasse zu kontrollieren, dafür zu sorgen, dass sie irgendwie bei ihrem Ziel ankamen. Sie hatte nur Augen für die Klasse und wie es kommen musste achtete sie nicht auf die junge Violinistin und bremste nicht ab, als sie direkt auf sie zulief.

Die Melodie brach ab und die beiden Frauen stolperten auseinander. Die Geige fiel scheppernd zu Boden. Die Lehrerin grummelte die Andere an: „Entschuldigen Sie mal... Können Sie nicht aufpassen? Unglaublich, die jungen Leute heutzutage! Keinen Funken Respekt vor Älteren!"
Eingeschüchtert zuckte die Frau mit der Geige zusammen. „Entschuldigen Sie bitte..."
„Wie bitte!?", unterbrach ein junger Mann, welchen sie inzwischen viel zu gut kannte diesen Wortwechsel stirnrunzelnd. „Sie sind in sie reingerannt, nicht andersherum! Sie sind die, die sich entschuldigen sollte! Den Respekt, den Sie ihr nicht entgegenbringen können sie sich sonstwohin schieben!" Die Violinistin hatte den Kopf noch immer beschämt gesenkt, während er die Geige aufhob und dann versönlicher meinte: „Geht es dir gut? Ich glaube, die ist noch heil, aber ich kenne mich auch nicht so gut aus, schau du Mal".

Die Klasse war mitsamt der Lehrerin, welche noch ein entrüstetes Schnaufen von sich gegeben hatte mittlerweile weitergegangen und noch rechtzeitig zum Bus gekommen.

Leicht glitten ihre Finger über das ursprünglich glatte Holz, in dem nun ein paar Kratzer waren. Der junge Mann beugte sich ein weiteres Mal über das Instrument und begutachtete die glänzende Oberfläche. „Geht die so noch?" Sie nickte und murmelte ein leises „Danke".

Mit leicht zitternden Händen setzte sie den Bogen erneut auf die Saiten, konzentrierte sich darauf, an welcher Stelle des Liedes sie unterbrochen worden war. Es wirkte fast, als wäre nichts gewesen und doch ließ dieses Ereignis sie nachdenken. Er kannte sie nicht und es hätte ihm vollkommen egal sein können, was mit ihr war, doch trotzdessen hatte er dafür gesorgt, dass ihr diese kleine Ungerechtigkeit nicht passiert war. Oder zumindest dafür, dass sie ausgeglichen wurde.

Weihnachten stand zwei Wochen später vor der Tür. Es war immer wieder Mal Schnee gefallen und zu grauen Bergen aus Matsch am Straßenrand geworden. Trotzdem war überall weihnachtliche Stimmung, jeder wollte mit seiner Familie feiern, möglichst schnell nach Hause kommen. Umso verwunderlicher war es, dass eine gewisse junge Frau auch an diesem Mittwochmorgen zu ihrem Platz ein paar Meter neben einer kaputten Plastikbank unter einem krank aussehenden Ahornbaum und ein langbewährter Zuschauer zu seinem Platz auf ebendieser Bank zurückkehrten. Sie kamen alle zwei Wochen am Mittwochmorgen, sie spielte ein paar Lieder auf ihrer Geige, er hörte ihr zu. Auch so taten sie dies an diesem Tag.

Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Sie verlor sich regelrecht in der Melodie, ihre Hände spielten sie wie von selbst. Sie musste sich nicht darauf konzentrieren, konnte einfach die Zeit vergessen. So wusste sie nicht mehr, ob sie noch das erste, oder bereits das achte Lied spielte.

Als sie begann, ihre Geige in den Koffer zu räumen, erhob sich der Mann von der kaputten Plastikbank und kam auf sie zu.

„Wo hast du das gelernt?"
Sie wandte sich mittlerweile eher milde überrascht zu ihm um.
„Ich habe seit ich fünf bin Unterricht. Mit der Zeit lernt man da so einiges. Das hier hab ich mir dann selber beigebracht."
Er nickte überrascht. „Respekt. Ich spiele Klavier, aber das ist mehr so 'ne Hassliebe. Ich breche das regelmäßig ab und schaffe mal so zwei Jahre, aber dann geht das absolut nicht mehr und ich mache wieder ein halbes Jahr Pause."
Sie kicherte leise bei der Ausführung.
„Aber du fängst trotzdem immer wieder damit an?"
„Sieht so aus. Irgendwie bin ich wohl schon daran gebunden."

Ihr Blick schnellte hoch in seine Augen, schien ihn zu durchbohren. Sie nickte leicht.

Am übernächsten Mittwochmorgen, Neujahr stand an, saß er schon früher auf seiner Bank, wartete darauf, dass sie kam. Sie war nie zum selben Zeitpunkt da, weshalb er sich keine Gedanken machte, als sie später war, als zwei Wochen davor. Auch als sie eine halbe Stunde später nicht da war wunderte er sich nicht wirklich. Nach zwei Stunden erst begann er, sich Sorgen zu machen. Doch er konnte nichts tun. Er wusste fast nichts über sie. Geschweige denn hatte er ihre Handynummer und hätte sie anrufen können.

Und der Vormittag ging genauso, wie er gekommen war: leer, grau und kalt.

Noch gegen Nachmittag saß er auf der kaputten Plastikbank, dachte darüber nach, weshalb sie nicht gekommen war. Hoffte, dass sie es vielleicht doch noch täte. Doch er fand keine Antwort und die kann auch nicht.

Neujahr kam und ging. Der Mittwochmorgen, an dem sie wieder hätte da sein sollen war das erste Mal wirklich weiß in diesem Winter. Es hatte ein bisschen geschneit, über einigen Ästen lag eine dünne Schicht aus weißem Pflaum. Wieder wartete der junge Mann ohne Erfolg. Und zwei Wochen später wieder. Und nochmal.

Sie kam auch danach nicht mehr. Mit der Zeit würde es Frühling. Und es wurde Sommer. Mit der Zeit kam auch die Hitze. Die Straßen wurden belebter, die Gesichter glücklicher. Nur ein Gesicht war nicht mehr zum Lachen gekommen. Der Mann, welcher ständig auf der selben kaputten Plastikbank saß hatte die junge Violinistin nicht vergessen. Seine Züge waren in den paar Monaten wie um Jahre gealtert. Tiefe Sorgenfalten saßen auf seiner Stirn. Seine Züge waren hart geworden. Er wusste nicht, weshalb sie nicht mehr da war, würde alles für dieses Wissen geben.

Er vermisste sie, hatte sich solange sie da war immer auf den Termin jeden zweiten Mittwochmorgen gefreut. Etwas gehabt, worauf er wartete. Ein Ziel. Jetzt wollte er bloß zurück. Sie war gegangen. Kam nicht mehr wieder. Konnte nicht wieder. Sie hatte zu viel Angst, dass er nicht mehr da sein würde. Oder sie, wenn er wenn er sie erkannte oder ihre Geschichte erfuhr, zurückweisen würde. Und so kam sie nicht.

Es wurde Herbst und die ersten Stürme begannen. Und es wurde kalt.

Irgendwann, es war ein kalter verregneter, grauer Mittwochmorgen, lag eine sanfte Melodie in den Straßen des herbstlichen Souls, doch kaum einer, der vorbeieilenden Passanten achtete auf die junge Frau, welche sich an diesem Tag mit ihrer Geige in die Kälte gestellt hatte um ihr Erlerntes darzubieten.

Die meisten Menschen waren mit der Zeit unachtsam geworden, sahen nicht mehr die kleinen Gesten. Die meisten Menschen eilten an diesem Tag, wie an jedem anderen auch, ohne auf ihr Umfeld zu achten ins Warme.

Nicht so der junge Mann, der in der Nähe auf einer kaputten Plastikbank unter einem Ahornbaum, der so krank aussah, als ob er gerade ganz knapp vor Entwurzelung stände, saß und wachsam in Richtung der Violinistin sah.

Er hatte dort gesessen, seit sie aufgehört hatte zu spielen.
Und er hatte dort gesessen, bis sie wieder angefangen hatte zu spielen.

„Ich habe dich vermisst."
Sie fuhr herum und sah ihn mit großen Augen überrascht an. Dann breitete sich ein Strahlen über ihr Gesicht aus.
„Und ich dich erst."

Und danach legte sich eine Stille, nicht unangenehm, eine Stille, die entsteht, wenn man einfach noch nicht weiß, wo man mit seiner Erzählung anfangen soll, über die Beiden. Er lächelte leicht.

„Kommst du wieder?"
„Ich spiele jeden zweiten Mittwoch."
Er nickte und drehte sich um. „Ich werde auf dich warten."

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