3. Leseprobe

„Ähm, hi", sagte er, „tut mir wirklich leid, irgendwie habe ich dich total übersehen." Sein Londoner Akzent ließ sie unwillkürlich erzittern. Als hätte er jetzt erst gemerkt, was er tat, löste er seine Hände von ihr, ganz langsam, als würde es ihm widerstreben, sie loszulassen.

„Halb so wild?", erwiderte Sam noch immer verwirrt und ließ den Satz wie eine Frage klingen, ohne es zu wollen. Als es ihr auffiel, zuckte sie noch schnell nachträglich mit den Schultern, was das Ganze aber nur noch seltsamer wirken ließ.

Um Himmels willen, sie war ja völlig durch den Wind, und ihr Herz schlug wie verrückt.

„Was machst du denn hier unten, solltest du nicht lieber draußen vor einem der zwanzig Eingänge stehen und auf diese Band mit dem kitschigen Namen warten?", fragte ihr Gegenüber mit einem spitzbübischen Grinsen und strich sich lässig durch seine dunkelbraunen Haare, die sich perfekt um sein Gesicht schmiegten. Ihm schien nicht entgangen zu sein, dass sie etwas durcheinander war.

Sam lachte verlegen. „Nein, ich bin hier gelandet, weil ich eigentlich kurz telefonieren wollte."

Wie zum Beweis für ihre Worte hielt sie ihm ihr Handy unter die Nase, das sie noch immer in der Hand hielt und das Gott sei Dank ebenso wenig Bekanntschaft mit dem Betonboden gemacht hatte wie sie selbst.

„Oh, also bist du kein Fan?", fragte er gespielt traurig und tat so, als würde er schmollen, indem er seine perfekte Unterlippe nach vorne schob – wovon sie nur noch mehr Herzklopfen bekam.

„Von dieser britischen Band? Na ja, so halb", gab Sam zu und unterstrich ihre Aussage mit einer wegwerfenden Handbewegung, die aber nicht ganz so lässig rüberkam, wie sie sich das erhofft hatte. Vielmehr wirkte ihre Bewegung fehl am Platz und ein wenig unbeholfen.

„Halb? Wie geht das denn? Und wieso bist du dann überhaupt hier?"

Sam strich sich eine schwarze Locke aus dem Gesicht, nur um irgendetwas mit ihren nervösen Händen zu tun. Das Handy allein gab ihr nicht genug Halt, und sie wollte sich nicht vor Hale Silver blamieren.

„Meine fünfzehnjährige Cousine hat mich hierhergeschleppt. Sie steht bei ‚einem der zwanzig Eingänge' und will unbedingt Hale Silver sehen. Was für sie da drüben allerdings schwierig werden könnte ..."

Sam versuchte sich an einem vorwurfsvollen Blick, konnte diesen aber nicht lange aufrechterhalten, denn ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. Sie schlug die Augen nieder, als es ihr auffiel, nur um gleich darauf wieder aufzusehen und zu erkennen, dass Hale seinen Blick nicht von ihr abgewandt hatte. Röte schoss ihr in die Wangen. Was stellte dieser Kerl bloß mit ihr an? Sie hatte immer gedacht, sie sei immun gegen so etwas, und nun verhielt sie sich wie ein schmachtender Teenager!

Reiß dich mal zusammen, Sam! Hör auf, ihn anzustarren!

Doch die kleine Stimme in ihrem Kopf hatte keine besonders große Überzeugungskraft. Das Grün seiner Augen war viel zu intensiv, viel zu warm und vor allem viel zu nah, um wegzuschauen, um nicht darin zu versinken, um ...

„Hale! Komm endlich!", drang plötzlich eine Stimme aus den Tiefen der Garage empor und ruinierte den Augenblick.

Beide zuckten schuldbewusst zusammen, als hätte man sie bei etwas erwischt, und mussten sofort lachen, als sie bemerkten, wie versunken sie in ihrer eigenen kleinen Welt gewesen waren.

Sam räusperte sich ein wenig verlegen und trat einen Schritt zurück.

„Ich komme!", rief Hale über die Schulter, aber sein Blick ruhte weiterhin auf ihrem Gesicht, sanft und durchdringend zugleich. Der Moment dehnte sich, schien nie mehr enden zu wollen. Langsam, beinahe bedächtig streckte er die Hand aus, legte sie sachte an ihre Wange und kam den Schritt näher, den sie gerade zurückgewichen war. Er stand jetzt unmittelbar vor ihr. Ihre Lippen waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.

Sie war sich seiner Nähe mit einem Mal so bewusst, dass ihre Knie ganz weich wurden. Sie müsste sich nur ein ganz kleines bisschen vorbeugen, und ihre Lippen würden sich berühren.

„Geht es nur mir so oder spürst du das auch?", flüsterte er. Sein Blick wanderte von ihren Augen hinunter zu ihrem Mund.

Sam konnte gar nicht fassen, was hier gerade passierte. Wollte er sie etwa ...? Wollte er etwa wirklich ...? Er konnte sie doch nicht einfach ...!

Sein warmer Atem strich sanft über ihre Haut.

Sie konnte es nicht glauben.

Spürst du das auch?

Sollte das etwa heißen, dass es ihm genauso ging wie ihr? Träumte sie diese verrückte Situation eigentlich nur? War sie vielleicht doch gestürzt und hatte sich den Kopf angestoßen, sodass sie jetzt halluzinierte oder gar bewusstlos war?

Hale musste die Verwirrung in ihrem Blick gelesen haben, denn er setzte an, noch etwas zu sagen – aber wieder wurde sein Name gerufen. Und es klang ziemlich gestresst und sauer.

„Du solltest nun wirklich gehen, nicht dass du noch Probleme kriegst."

„Ich kann dich jetzt aber doch nicht einfach so hier stehen lassen", sagte er so leise, dass sie beinahe dachte, sie hätte es sich eingebildet. Ihr Blick wanderte kurz von seinen Augen zu seinen Lippen und wieder zurück.

„Bist du später auf dem Konzert?", fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht, wir haben keine Karten mehr gekriegt, weil wir im Urlaub waren, als der Kartenvorverkauf losging."

Was das für ein Drama für Jana gewesen war, behielt sie besser für sich, denn zum ersten Mal war sie auch selbst traurig, dass sie keine Karten bekommen hatten.

Er sah sie aus seinen intensiv grünen Augen an, und sie meinte darin tatsächlich so etwas wie Enttäuschung zu erkennen. Gerührt legte sie eine Hand auf seine Brust und konnte seinen Herzschlag an ihrer Handfläche spüren. Wie gebannt folgte sein Blick ihrer Bewegung. Und als er wieder aufsah, umspielte ein leichtes, kaum merkliches Lächeln seine Lippen.

Das schönste Lächeln, das sie je gesehen hatte.

„Das ist schade. Ich würde dich nämlich gerne wiedersehen", sagte er, was ihr Herz höherschlagen ließ. Sam wusste nicht, was sie darauf sagen sollte.

Er strich ihr mit seiner warmen Hand eine Haarsträhne hinters Ohr, die der Wind ihr ins Gesicht geweht hatte. Diese unschuldige und so einfache Geste ließ sie am ganzen Körper erschauern. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, dass eine so kurze Berührung ein so starkes Gefühl auslösen konnte.

„Wie darf ich das wunderschöne Mädchen, das vor mir steht, eigentlich nennen?", fragte er lächelnd.

Erst da wurde ihr bewusst, dass sie ihm noch nicht einmal ihren Namen verraten hatte. Dazu war sie bisher irgendwie ... noch nicht gekommen. Das ganze Anstarren und Lächeln hatte sie wohl etwas abgelenkt.

„Sam. Ich heiße Sam", sagte sie leise.

„Sam ...", wiederholte er sanft und ließ ihren Namen wie Musik klingen.

„HALE SILVER, VERDAMMT NOCH MAL, ICH BIN NICHT DEIN KINDERMÄDCHEN!", klang es schon wieder aus der Tiefgarage nach oben, jetzt noch lauter. Sie zuckten beide zusammen.

„Nun geh schon", murmelte sie widerstrebend und wollte sich bereits von ihm losmachen, doch er fasste ihr sanft unters Kinn und hob ihren Kopf an, sodass sie gar nicht anders konnte, als wieder in seine grünen Augen zu blicken.

Eine unausgesprochene Frage lastete schwer zwischen ihnen.

Was jetzt?

Aber im Gegensatz zu Sam schien Hale auf diese Frage eine Antwort zu kennen, denn er kam wieder ein Stück näher. Sein Körper berührte den ihren, und ihr wurde beinahe schwindelig von der Intensität all der Gefühle, die durch ihre Adern schossen.

„Sam, warte am Osteingang auf mich, ich komme in einer halben Stunde dorthin, in Ordnung? Bis gleich!"

Mit diesen Worten löste er sich blitzschnell von ihr, streifte mit seinen Lippen federleicht ihre Stirn, drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit der Tiefgarage. Sie hatte nicht einmal mehr die Möglichkeit, noch irgendetwas zu antworten, so schnell war alles gegangen.

„Bis gleich", flüsterte sie daher nur leise und wie zu sich selbst. Ihre Finger wanderten zu der Stelle, an der sie seine Lippen kurz zuvor berührt hatten. Eine Berührung, die so vorsichtig gewesen war, als wäre Sam etwas Kostbares und Verletzliches, das er nicht erschrecken wollte.

Sie konnte später nicht sagen, wie lange sie dort noch so gestanden und in die leere Dunkelheit gestarrt hatte, doch irgendwann holte sie ihr Handy wieder auf den Boden der Realität zurück. Sie seufzte und schaute auf ihr Display:

Samboy, bist du in Ohnmacht gefallen, weil die Superhelden jetzt da sind? Komm schon, bitte ruf mich endlich an!

Erst jetzt fiel ihr wieder ein, wieso sie überhaupt hierhergekommen war. Mist! Schnell wählte sie Ilonas Nummer und telefonierte ein paar Minuten mit ihr. Es ging natürlich um die heutige Trainingsstunde. Sam hörte ihrer Freundin geduldig zu, während sie sich einen Weg zurück zum Osteingang bahnte. Von ihrem Aufeinandertreffen mit Hale erzählte sie nichts.

„Ja, ist in Ordnung, dann machen wir das so. Bringst du die Musik dazu mit?", fragte sie, und es war überdeutlich, dass sie Ilonas Redeschwall endlich abwürgen wollte.

„Ich bringe die Musik mit, und du bringst allen die neue Choreo bei, du Genie!", erklärte Ilona ihr den Deal, und Sam seufzte.

„Klar, ich darf wieder die ganze Arbeit machen."

„Du hast es ja auch eindeutig mehr drauf von uns beiden!", begründete Ilona lachend, und sie verabschiedeten sich voneinander.

Sam legte auf, verstaute ihr Handy in ihrer Hosentasche und konzentrierte sich darauf, ihre Cousine unter den Tausenden Fans wiederzufinden. Die Stimmung hatte sich in der Zwischenzeit eindeutig gewandelt.

Misstrauisch lief sie durch die Menschenmenge. Irgendetwas war hier anders. Es war alles viel ruhiger als vorher, als würden die Leute auf etwas warten.

Erst jetzt sah sie den Typen, der direkt vor der großen Eingangstür zur Halle auf einem Plastikstuhl stand und gerade anfing, durch ein Megafon zu den Fans zu sprechen.

„Hallo, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten! Ich muss alle Anwesenden ohne gültiges Ticket für das heutige Secret-Light-Konzert bitten, sich umgehend vom Gelände zu entfernen, damit wir mit dem regulären Einlass beginnen können!"

Sofort buhten die Fans ihn aus, und der Lärm schwoll wieder an. Wutentbrannt schrien die Mädchen wüst durcheinander, doch die Ordner auf dem Platz waren bereits zur Stelle und sorgten dafür, dass alles in geregelten Bahnen verlief.

Endlich fand Sam Jana wieder, die mit finsterem Blick den Typen mit dem Megafon ansah.

„Hey, Jana, da bin ich wieder. Was ist denn hier los?"

„Na, wir sollen uns entfernen", knurrte Jana und warf dem Megafon und seinem Besitzer einen vernichtenden Blick zu.

Sam geriet in Panik. Sie konnte jetzt nicht gehen. Das ging nicht. Das war nicht möglich! Sie musste hierbleiben und Hale wiedersehen! In weniger als zwanzig Minuten würde er hier auftauchen, das hatte er ihr versprochen!

„Sam, lass uns gehen. Ich habe keinen Bock, meine Zeit hier noch weiter zu verschwenden. Und diese Ordner sind immer so unfreundlich", schimpfte Jana und zog ihre Cousine am Ärmel ihrer Lederjacke weg vom Eingang.

Sam folgte Jana wie in Trance. Sie wusste überhaupt nicht mehr, was sie noch denken sollte. Oder eher: was sie jetzt tun sollte! Sie war doch nur eine unter Millionen, wie sollte sie ihm jemals wiederbegegnen? Ständig drehte sie sich zu dem Platz um, doch es gab kein Zurück mehr, dafür sorgten Absperrungen, die nun aufgebaut wurden.

„Sam, ist alles okay bei dir?", fragte Jana besorgt und sah ihre Cousine prüfend an. Als Sam nicht antwortete, bildete sich auf Janas Stirn eine tiefe Sorgenfalte. „Sam, ich habe dich etwas gefragt!"

„Ich habe ihn getroffen", sagte Sam tonlos.

„Du hast wen getroffen?", hakte Jana verwundert nach.

Sie waren jetzt bei Sams Auto angekommen und stiegen ein. Sam war aber nicht in der Lage loszufahren. Sie starrte vor sich auf das Lenkrad.

„Saaham!" Jana zog an ihrem Ärmel, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Verdammt, was ist los mit dir?"

Langsam wanderte Sams Blick hinüber zum Beifahrersitz. Sie war ganz blass.

„Ich habe Hale getroffen. Und jetzt werde ich ihn nie wiedersehen."



________

... und ab dem 19.4. erfahrt ihr, wie es weitergeht! Und was sich alles verändert hat! Und was Hale so alles denkt! Und fühlt! Und ah! Danke für all eure Unterstützung! <3

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top