#73 - Entweder oder

Ich schlief wie ein Murmeltier, was ich ehrlich gesagt niemals erwartet hätte.

„Sam."

Ich reagierte nicht.

„Sam, wann musst du bei den Proben sein?"

Niall rüttelte an meiner Schulter.

„Neun...", seufzte ich und drehte mich auf die andere Seite.

„Es ist zwanzig nach acht."

„WAS?!?!"

Okay, und schon saß ich senkrecht in meinem Bett und starrte ihn entgeistert an. Verschlafen erwiderte er meinen Blick aus halb geschlossenen Augen.

„Ich wollte dich nur wecken, ich gehe jetzt wieder in mein Bett, denn ich war erst vor zweieinhalb Stunden hier..."

Mit diesen Worten tapste er wieder hinaus, aber das bekam ich nicht mit. Ich war schon an ihm vorbei ins Badezimmer gestürzt.

Verdammt, verdammt, verdammt, wieso zur Hölle musste ich auch verschlafen!! Hatte ich mir überhaupt einen Wecker gestellt?! Ich konnte mich nicht mehr erinnern.

Ach, war ja jetzt auch schon zu spät!



~~~



Eine Minute vor neun kam ich in den Probenraum gehetzt. Ray hatte mir die Adresse per Email zugeschickt und ich war mit einem Taxi dorthin gefahren.

Heiliger, das war wirklich ein knappes Höschen gewesen!

„Hey Brooo!", rief Perrie und kam strahlend auf mich zu. Sie drückte mich fest an sich. „Es freut mich so, dich wiederzusehen! Wir hatten gestern gar keine Möglichkeit, miteinander zu plaudern!"

„Dafür haben wir heute umso mehr", gab ich lächelnd zurück und umarmte Jade, Leigh-Anne und Jesy ebenfalls.

„Oh, das wird sich herausstellen", gab Jade zurück und zog eine Grimasse, „ich denke, wir müssen heute ziemlich hart arbeiten...!"

Na gut, da hatte sie wohl Recht.

Ich stellte meine Sachen am Rand ab und fing an, mich aufzuwärmen.

Mir ging es heute erstaunlich gut. Ich hatte mein Herz fest verschlossen, sodass ich keine Emotionen spürte. Ich fühlte mich gut. Ich war einigermaßen ausgeschlafen (naja, okay, das war eine gewaltige Lüge) und ich sah eindeutig nicht mehr so fertig aus wie gestern (das wiederum war die pure Wahrheit).

Der Choreograph — Chace — erschien um halb zehn und wir begannen mit dem Training. Es war anstrengend, aber das war gut so. So hatte ich keine Möglichkeit, nachzudenken. Ich war so auf die Choreographie und das Training fokussiert, dass nichts Anderes in meinem Kopf Platz hatte.

Als wir eine etwas längere Pause machte, legte ich mich flach auf den Boden und schloss die Augen. Ich atmete langsam und tief. Ich spürte meine Körper überdeutlich. Jeden Muskel, jede Sehne. Meinen Herzschlag. Meine Wimpern, die ein wenig zuckten. Mein Hinterkopf, der auf dem harten Boden lag.

Ich empfand eine solche innere Ruhe, wie ich es seit einer Ewigkeit nicht mehr gefühlt hatte. Ich konnte schon beinahe in mein Herz hineinsehen. Als wäre es ein Gewässer, dass jetzt still dalag. Ein See, den niemand seit geraumer Zeit berührt oder gestört hatte.

Ich konnte genau sehen, wie sehr ich ihn liebte. Egal, was er mir an den Kopf geworfen hatte, das Herz war dumm und es liebte trotzdem weiter. Das war einfach so. Man konnte sich nicht aussuchen, wen man liebte. Es hieß nicht umsonst: Wo die Liebe hinfällt. To fall in love. Man fällt, ohne etwas dagegen machen zu können.

Und wenn ich ehrlich war,... ich wollte nicht einmal was dagegen machen.

Ich hatte es geliebt, dass ich ihn liebte.

Und ich liebte es immer noch.

Es war immer ein wunderschönes, beflügelndes Gefühl gewesen, wenn ich daran gedacht hatte, dass ich ihn liebte. In letzter Zeit hatte sich das Blatt ein wenig gewendet, ja, das stimmte — aber ich bereute trotzdem nichts.

Aber jetzt war ich am Punkt ankommen, von dem jetzt alles abhing. Alles.

Entweder ich ließ ihn gehen und würde ihn vielleicht nie wieder zurückbekommen, so wie ich ihn jetzt hatte, als Freund, als meine große Liebe, als meine zweite Hälfte — oder aber ich würde alles daran setzen, dass unsere Liebe bestehen blieb und wir weiterhin ein Paar waren und unsere Zeit gemeinsam genossen. Es war so viel passiert, so viele Worte waren gefallen, aber trotzdem... man konnte alles wiedergutmachen.

Nichts war verloren.

Entweder oder.

Ich stand jetzt vor dieser Entscheidung.

Entweder das eine oder das andere.

Entweder gehen lassen oder für immer zusammenbleiben.

Aufgeben oder kämpfen.

...aufgeben?

Aufgeben?!

Aufgeben!?!??

Dieses Wort existierte überhaupt nicht in meinem Wortschatz.

Ich gab nie auf. Nie.

Ich war eine von diesen verbissenen Kämpferinnen, die niemals aufgaben. Aufgeben ist nicht drin. Oh nein. Ich hatte schon damals nicht aufgegeben, als alles gegen uns gesprochen hatte. Wie hatte ich immer gesagt? Wir gegen den Rest der Welt. Harry und Sam gegen den Rest der Welt.

„Sam?"

Ich öffnete meine Lider und blickte in Perries wunderschönen blauen Augen, die über mir schwebten. Sie lehnte sich zurück und ich richtete mich auf.

„Ist alles in Ordnung bei dir?", fragte sie mich und strich mir mit der Hand über den Arm.

Ich nickte. „Ja, ich denke schon."

„Das ist so heftig alles, was gerade bei dir passiert... Also ich meine natürlich unter anderem das Tanzen und dein Job und alles, aber eigentlich meine ich vor allem das mit Harry...", murmelte sie und verzog leicht das Gesicht. „Wie geht es dir damit? Zayn hat mir alles erzählt..."

„Ich habe mich jetzt entschieden", sagte ich ruhig.

„Wie, entschieden?"

„Naja, er hat mir so viel an den Kopf geworfen, dass für mich klar war, dass er mich loshaben wollte und es keinen Sinn mehr machte", erklärte ich ihr. „Aber gestern Abend hat er plötzlich diese krasse Rede rausgehauen und damit noch einmal alles durcheinander gebracht. Ich war mir nicht sicher, ob ich das glauben soll. Oder ob er das alles nur vom Management aus sagen sollte. Ich habe keine Ahnung mehr, was ich glauben kann und was nicht. Das Einzige, was ich weiß", ich erwiderte ihren Blick, „ist, dass ich ihn liebe, und dass das das wirklich Wichtige ist. Das, was zählt."

Perrie legte den Kopf schräg.

„Dann solltest du versuchen, das alles wieder gerade zu biegen. Bevor es zu spät ist."

„Ja, das stimmt."

Ich stand auf und ging zu meiner Tasche. Ich zog mein Handy heraus und rief Harry an.

Es klingelte und klingelte.

Er ging nicht ran.

Wie sollte es auch anders sein.

„Er geht nicht ran", sagte ich zu Perrie und spürte eine unglaubliche Ungeduld, die in meinem Magen pochte.

Ich musste mich so zusammenreißen, dass ich jetzt nicht einfach abhaute und ihn suchen fahren würde.

„Die sind gerade auch bei irgendeinem Radiosender, Werbung für das neue Album und so weiter", entgegnete sie. „Zayn werde ich sicher auch nicht erreichen können."

„Ich muss aber mit ihm reden", meinte ich ungeduldig.

„Das nützt dir jetzt nichts, Sam", sagte Perrie ein wenig niedergeschlagen, „wir müssen hier weitermachen."

„Ja, ich weiß..."

„Du kannst ihn später ja noch einmal anrufen. In der nächsten Pause."

„Ja..." ich rümpfte die Nase. „Per Nachricht möchte ich das sicher nicht machen."

Perrie lachte kurz und rempelte mich leicht mit der Schulter an.

„Wenn du das gemacht hättest, hätte ich dich einen Kopf kürzer gemacht", schoss sie zurück und grinste breit.

Ich konnte nicht mehr antworten, denn die anderen Tänzer samt Chace kamen von draußen direkt neben uns durch die Tür hinein. Wir besprachen noch ein wenig, was jetzt noch so kam, und tanzten dann weiter.

Seit ich die Entscheidung gefällt hatte, was ich jetzt machen wollte — dass ich ihn nicht gehen ließ — , war ich innerlich total unruhig. Ich hatte meinen inneren See in Bewegung gesetzt.

Die Zeit verging nicht schnell genug. Ich wollte unbedingt mit ihm reden. Wir machten niemals eine lange Pause, sodass ich ihn anrufen konnte. Immer nur kurze Trinkpausen.

Trotzdem schnappte ich mir in einer Pause mein Handy und speicherte mir eine Erinnerung ein, dass ich Eleanor schreiben und mich für die Jacke bedanken musste. Ich hatte extra genau auf sie aufgepasst und musste sie ihr jetzt irgendwann zurückgeben.

Mittags machten wir dann wieder eine lange Pause. Kaum, dass wir aufgehört hatten zu tanzen, rief ich ihn schon an.

Diesmal war sein Handy aus.

Perrie zog ihr iPhone aus ihrer Tasche und rief Zayn an. Sie legte nach kurzer Zeit schon wieder auf und schüttelte den Kopf.

„Sein Handy ist auch aus", sagte sie.

„Sam, jetzt erzähl mal bitte. Ich platze gleich. Was ist wahr an der Sache, die Harry da gestern im Interview gesagt hat? Oder besser: Was ist wahr an der Bombe, die er hat platzen lassen?", fragte Jade und hakte sich bei mir ein, während wir das Tanzstudio verließen und uns jetzt irgendwo unser Mittagessen suchen würden.

Bevor ich ihr antwortete, fiel mir mal wieder ein, dass ich ja immer noch keine Pfund hatte, sondern nur Euro und Dollar...

„Alles ist wahr."

Jade blieb stehen. Dadurch dass sie ihren Arm immer noch bei mir untergehakt hatte, blieb ich automatisch auch stehen. Ich sah das wunderschöne Mädchen neben mir an, das große Augen machte und deren Kinnlade nach unten gefallen war.

„Jetzt echt?"

„Ja."

„Oh mein Gott, wie süß! Oh, das ist so unglaublich süß! Aaah!"

Sie hüpfte neben mir auf und ab.

„Wie süß!"

„Naja, so süß ist das auch nicht, dass er Sam tausendmal wehgetan hat...", murmelte Perrie, die auf der anderen Seite neben mir lief.

„Nein, das natürlich nicht, aber ich meine, wie das alles dazu kam!", berichtigte Jade sich und strahlte trotzalledem noch. „Erzähl das mal genauer bitte. Das interessiert mich so sehr! Vorausgesetzt, du willst drüber reden..."

„Jetzt mach mal halb lang, Jady", ertönte Jesys Stimme von hinten, „Sam sieht nicht gerade glücklich aus."

Da hatte jemand gut aufgepasst.

„Nein, das ist schon okay", antwortete ich und lächelte leicht.

Wir setzten uns in ein griechisches Restaurant und ich erzählte langsam, wie das alles abgelaufen war. Also im Schnelldurchlauf, aber ich selber sprach nicht sonderlich schnell.

Es schmerzte nämlich wieder. Jedes einzelne Wort.

Als wir mit essen fertig waren (wir hatten alle nur einen Salat gegessen, wir vorbildlichen Dancer), bezahlten wir. Genauer gesagt: Perrie lud mich ein, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Ich hatte ja eh keine Pfund, aber ich hätte ja mit Karte zahlen können. Aber Perrie ließ sich nicht umstimmen, sie bezahlte für mich mit.

„Also bitte, als ob das zu viel wäre", lachte sie und ich drückte sie einmal an mich.

Als wir zurück zum Studio liefen, wurden wir von einigen Little Mix-Fans angesprochen. Wir eisten uns allerdings ziemlich schnell wieder los, da wir ja weitertrainieren mussten.

In Gedanken war ich die ganze Zeit allerdings woanders.

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