#70 - Du hast nur einen Fall
Okay, dann lasst uns mal beginnen. Mal sehen, ob mein Kopf in zwei Minuten rollt oder ob er sich noch auf meinem Hals befindet...
Sie würde so ausflippen. Das wusste ich. So sehr.
Ich hatte wirklich Angst um meinen Kopf.
‚Ähm. Nein.'
Mehr antwortete ich nicht.
Nein. Neeein, man konnte definitiv nicht behaupten, dass bei uns alles in Ordnung war. Oder?
Ich konnte ihren Blick förmlich vor mir sehen, wie sie auf der dunkelblauen Bettdecke von Manu lag, ihre Füße darunter gesteckt hatte und jetzt einfach nur auf die zwei Worte starrte, die ich ihr geschickt hatte.
‚Wie, nein'
Sie machte nicht einmal ein Fragezeichen dahinter. Das hieß, sie war kurz davor, zu explodieren. Sie blinzelte nicht einmal mehr und Manu würde sie gleich prüfend von der Seite ansehen und wissen wollen, was seine kleine Schwester so aus der Fassung brachte. Wie ein Kinofilm lief das Ganze in meinem Kopf ab, als wäre ich selbst dabei.
‚Der gestrige Tag war ein wenig sehr ...krass', antwortete ich. Ich fasste alles zusammen: Die Proben, die Tatsache, dass ich im ersten Moment keinen Schlafplatz gehabt hatte, Harrys Hereinplatzen in Nialls Wohnung, die Szene draußen im Regen mit all ihren Tiefen (Höhen konnte man keine nennen, also: nur mit all den Tiefen), die Küsse, sein Verschwinden, Nialls und meine Suche.
Wenn ich mir das jetzt noch einmal so durchlas, kam mir alles so grotesk und bizarr vor. Als wäre das nur wie ein Alptraum an mir vorbeigezogen.
Dann erzählte ich noch kurz von heute und mehr nicht.
‚Ich weiß nicht, was ich sagen soll...', schrieb sie.
‚Macht nichts. Ist eh besser so, dann muss ich nicht drüber reden.'
Sie antwortete noch einmal, aber ich las ihre Nachricht nicht mehr. Ich kuschelte mich ganz tief in meine Decke und schaute mit halb geschlossenen Augen in den Fernseher. Miley Cyrus sang gerade ihren neuen Song Wrecking Ball.
I came in like a wrecking ball.
I never hit so hard in love.
All I wanted was to break your walls
– all you ever did was wreck me.
Yeah you, you wrecked me...
Eine einsame Träne rann mir über die Schläfe in meine Haare.
Alles, was ich wollte, war deine Schutzwände zu durchbrechen – alles, was du je getan hast, ist mich zu zerstören.
Du hast mich zerstört...
Ich schloss ergeben die Augen.
Ich kam hinein wie eine Abrissbirne. Ich hatte noch nie so eine starke Liebe gefühlt...
Es tat so weh, dass Miley mir direkt aus den Tiefen meines Herzens sang, aber ich machte den Ton trotzdem nicht aus. Ich hörte ihr mit geschlossenen Augen immer weiter zu. Die Leute konnten sagen, was sie wollten, über dieses Mädchen, aber ich mochte sie einfach. Und ich mochte ihre Stimme.
Und das Lied... es... es beschrieb mich einfach komplett. Ich konnte es nicht in Worte fassen.
Ich spürte, wie ich immer müder wurde. Mit halbem Ohr lauschte ich noch dem Interview von Rihanna, aber viel bekam ich nicht mit. Mein Handy vibrierte noch einige Male, aber ich war zu müde und zu fertig, um es wieder zu nehmen und die Nachrichten zu beantworten.
Ed Sheeran sang mich dann beinahe in den Schlaf. Ich vergötterte seine Stimme so sehr. Das anschließende Interview bekam ich nicht mehr mit. Ich schlief eigentlich theoretisch schon. Nur noch ein kleiner Teil meines Gehirns war wach und wartete darauf, mich wieder aufwecken zu können. Denn es gab nur einen Grund, wieso ich hier überhaupt noch auf Nialls Bett lag und mühevoll versuchte, wach zu bleiben.
Einen einzigen, verdammten Grund.
Einen.
Und schon schlug dieser kleine Teil meines Gehirns Alarm.
Ich war sofort hellwach, als die Moderationsstimme sagte: „Jaaa, ich weiß, ihr wartet schon den ganzen Abend darauf! Und endlich kommen sie! Die Besten der Besten! Hier sind sie, nur für euch ....One Direction!!!"
Ich richtete mich ein wenig auf und strich mir die Haare aus dem Gesicht.
Mein Handy vibrierte schon wieder.
‚Sam'
‚Sam, sie treten auf'
‚Sam, bist du wach??'
‚SAMANTHAAAAA'
‚Ja, bin ich', antwortete ich meiner Cousine.
Ich setzte mich jetzt aufrecht hin und bewegte mich die nächsten zehn Minuten nicht mehr. Sie begannen mit ‚Best Song Ever', sangen noch weitere zwei Songs und kamen dann zu ‚You and I'.
Heute hatte es das Schicksal aber auf mich abgesehen, ja holla!
Mein Blick hatte von Anfang an ihm geklebt, wie sollte es anders auch sein. Immer, wenn sie alle eingeblendet wurden, wurde mein Blick magisch von ihm angezogen. Ich konnte nicht einmal etwas dagegen machen, selbst wenn ich gewollt hätte!
Und er sagte, ich würde ihn nicht lieben.
Da konnte ich nur drüber lachen.
Bevor Niall überhaupt mit der ersten Strophe von ‚You and I' begann, liefen mir die Tränen in Sturzbächen über die Wangen.
Als er dann anfing, erinnerte ich mich zurück zu den BRIT Awards. Als ich den Song das erste Mal gehört hatte.
Damals war es mir auch scheiße gegangen, aber das war nichts im Vergleich zu jetzt...
Ich schniefte laut und erbärmlich und wischte mir am Kinn entlang, von wo aus die Tränen auf meine Bettdecke tropften.
Es nützte alles nichts, ich weinte einfach so sehr. Ich weinte mir all den Kummer, all den Schmerz, all die Verwirrung und Verletztheit von der Seele.
Als Harry den Refrain sang, konnte ich nicht mehr. Ich presste mir beide Hände auf mein Brustbein und starrte ihn an, während die Kamera ganz nah an sein Gesicht heran fuhr und er direkt hineinblickte.
Er sah direkt in die Kamera. Es fühlte sich so an, als würde er in meine Seele blicken. Sein dunkelgrünes Hemd, das er trug, betonte die Farbe seiner Augen noch mehr. Er zwinkerte nur ein einziges Mal.
Es war wirklich, als würde er nur mich anblicken.
„Ach, hör auf damit, Sam", knurrte ich leise. Ich musste aufhören, mir das alles einzureden! Es war vorbei, verdammt nochmal, wieso ging das nicht in meinen Kopf rein?!?
So schwer war das nun auch nicht zu kapieren!!
Nein, zu kapieren nicht, aber zu akzeptieren...
Das stimmte. Das war der Punkt. Ich würde es niemals akzeptieren können... Ich konnte es mir einreden, dass ich es akzeptierte, aber das würde immer eine Lüge bleiben. Irgendwann würde ich lernen, damit umzugehen, denn die Zeit heilte wirklich Wunden, aber sie würde niemals komplett heilen. Diese Wunde nicht. Sie würde immer wieder aufgehen, sich entzünden, sie würde niemals heilen.
Eigentlich traurig, wie sehr man ausgeliefert war, sobald man jemanden aufrecht liebte....
Das war nicht fair. Absolut nicht.
Als die Band mit ihrem Zwischenspiel loslegte, bekam ich eine Gänsehaut. Zayn hoher Ton war dann noch der Overkill. Er war zu perfekt, um wahr zu sein.
Er löste irgendeinen Knoten in meiner Brust, sodass ich noch mehr weinte.
Herrgott nochmal, hör auf, Sam! Das ist ja erbärmlich! Diese Harry-Tränen bringen dir auch nichts!
Aber wie sagt man seinem Herz, dass es aufhören sollte, zu schmerzen?
Kopf und Herz, der altbekannte Kampf...
‚Sam?<3 :('
Ich warf meinem Handy nur einen Blick zu, aber rührte es nicht an. Selbst als Manu mir schrieb, rührte ich es nicht an.
Ich legte mich wieder hin und schloss die Augen. Jetzt konnte ich eigentlich getrost schlafen...
Ja, Pustekuchen.
Nachdem die Jungs die Bühne verlassen hatten (ich hatte meine Augen wieder geöffnet), folgte das nächste Interview.
Und welche Pappnase saß natürlich in der „Interview-Box".
Richtig. Das Nagetierchen.
„Erst einmal, herzlichen Glückwunsch zu dieser tollen Performance, Justin!", lobte die Interviewerin ihn und warf ihre blonden Haare von der Schulter auf ihren Rücken.
...jedes Mal das gleiche Klischee mit diesen Interviewerinnen. Seufz.
„Dankesehr!"
„Erzähl uns doch mal vom Videodreh, wie lief das ab, wie bist du mit Sam klargekommen?"
Und täglich grüßt das Murmeltier... Langsam konnte ich meinen eigenen Namen nicht mehr hören. Es wunderte mich eigentlich schon ein wenig, dass sie mich nicht einmal selbst in diese blöde Fragen-Box eingeladen hatten! Naja, aber ich war eben nur eine Tänzerin. NUR. Hoffentlich würden sie mich dann auch irgendwann in Ruhe lassen und Sam Sam sein lassen.
„Sam ist der Wahnsinn! Mit so jemandem habe ich noch nie zusammengearbeitet!", fing er strahlend an.
Und dann legte er erst richtig los. Bei jedem Satz, den er sagte, zog ich die Decke noch höher, bis nur noch meine Augen herausschauten. Ich atmete tief ein und aus unter der Decke, um nicht die Nerven zu verlieren.
Super, das freute mich ja, wenn er mich so toll fand! Würde er mir jetzt offiziell einen Heiratsantrag machen?!
Die Tatsache, dass ich mich am Ende von der Performance weggedreht hatte und er deswegen nur meine Wange geküsst hatte, unterschlugen sie beide.
Er schwärmte und schwärmte und schwärmte von mir. Ich konnte förmlich Danielles Gesicht vor mir sehen, wie sie sagte: „Naja, mal sehen, ob Selena dich jetzt immer noch so toll und nett und begabt findet. Oder ob sie dir nicht lieber doch den Kopf abreißen und auf einer Lanze vor Biebers Haus stellen möchte."
Das war mir sowas von herzlich egal. Wenn sie ein Problem miteinander hatten, dann sollten sie das unter sich klären und mich gefälligst da rauslassen. Ich war keine Figur in einem Schachspiel, meine Güte.
Mein Handy meldete sich wieder.
‚Macht er dir jetzt einen Heiratsantrag?'
Die Nachricht war von Manu. Ich entsperrte mein Handy und antwortete ihm: ‚Das gleiche habe ich mir gerade auch schon gedacht hahahaha'
‚Sag mal, wie war das am Ende von seinem Auftritt bitte, wollte er dich da küssen?!?'
Mein Herz setzte einen Schlag aus.
‚Scheiße, hat man das so genau gesehen????', fragte ich ihn.
‚Nee eigentlich nicht. Ich kenne meine Cousine aber inzwischen ein wenig länger und deswegen ist es mir aufgefallen. Oder es ist mir aufgefallen, weil ich nur auf dich geachtet habe. Jeder andere hat sicher nicht so wie ich auf den Bildschirm gestarrt und jede Bewegung von Bieber beobachtet.'
Aha.
Da kam wieder der gute alte Wachhund in ihm raus. Man könnte meinen, er wäre Leo – also mein Bruder und nicht nur mein Cousin. Naja, aber er war ja gleichzeitig noch mein bester Freund, da war es normal, dass er so auf mich aufpasste.
‚Ich würde den Antrag sicher nicht annehmen. Bei aller (nicht vorhandenen) Liebe nicht. Der Kerl ist nicht mein Fall', antwortete ich und ging auf Justins Fast-Kuss mit Absicht nicht ein. Wieso sollte man darüber auch noch diskutieren.
‚Du hast nur einen Fall...'
Ja, da hatte mein Teuerster den Nagel sehr genau auf dem Kopf getroffen. Ich drehte mich auf den Rücken und starrte an die Decke.
Ich lauschte Beyoncé, wie sie einen wunderbaren Song nach dem anderen hinausschmetterte und die Welt tief in ihrem Herzen traf. Sie war in New York schon die Letzte gewesen, deswegen wusste ich, dass nur noch der gemeinsame Song von allen Stars folgte und dann war das Konzert vorbei.
Aber vorher folgte natürlich noch ein Interview. Wie sollte es anders sein.
Und wenn ich es mir recht überlegte.... fehlte nur noch ein einziges Interview.
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