#65 - Ein wunderschönes Grundgerüst

„Nichts jetzt. Das war's. Finito."

„Quatsch! Das war's nicht!", protestierte sie.

„Doch, Dani, das war's. Ich renne ihm nicht weiter hinterher, wenn er mir klar macht, dass es für ihn keinen Sinn mehr hat. Ich habe ihn gestern gesucht, er war nicht auffindbar. Niemand hat ihn gesehen, er war nicht erreichbar, gar nichts. Er hat sich bei niemandem gemeldet. Und heute ist er separat hierher gefahren. Er war nicht mit im Van. Paul hat uns abgeholt und die anderen vier saßen im Auto. Nur er nicht", erklärte ich ihr, aber weiter kam ich nicht, denn Tiffany, Francis und Irina kamen zu uns. Sie umarmten mich alle herzlich und begrüßten mich.

„Wie geht's dir? Alle Muskeln intakt? Bist du bereit, den Auftritt deines Lebens hinzulegen?", sagte Tiffany theatralisch und äffte somit Justin nach, der uns das die ganze Zeit eingetrichtert hatte, worüber Tiff sich schon seit Ewigkeiten amüsierte.

Sie breitete die Arme aus und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Sie brachte mich zum Lachen.

„Klar, Tiffy-Fiffy, bin ich bereit! Aber bist du es? Meinst du, du kannst die Aufgabe auf dich nehmen, so gut zu tanzen wie noch nie in deinem Leben?", sagte ich frech und legte ihr einen Arm um die Taille. Sie umarmte mich und drückte ihre Wange gegen meine.

„Ich bin froh, dass du den Weg zu uns gefunden hast, Sammy", sagte sie mit warmer Stimme, „ich hätte mir keinen besseren Neuling wünschen können." Sie ließ mich los und sah mich an. „Es ist nicht einfach, immer gut mit den Leuten klarzukommen, die neu zu AMCK kommen. Oftmals geraten wir ganz schön mit denen aneinander. Man kommt dann schon miteinander klar – muss ja sein, man ist ja irgendwie Kollegen – , aber es gibt sehr, sehr viele, die man einfach nicht mag."

Dani und Francis nickten, während Irina die Augen verdrehte.

„Es gibt einfach nur schrecklich eingebildete Tänzer", fuhr Irina fort, „ich weiß schon, warum Ray und Lucy uns sieben hier zu Justin verfrachtet haben. Wir kommen bestens miteinander klar und sind nicht anstrengend. Muss man so sagen."

Sie zuckte mit den Schultern und grinste mich an.

„Du wirst in den nächsten Wochen von uns mal in die Kunst des ‚wen mag ich und wen nicht'-Verhaltens eingeführt", lachte Tiffany jetzt.

„Ich kann's kaum abwarten", gab ich schmunzelnd zurück.

Leider wurde unser Gespräch an dieser Stelle unterbrochen, denn Justin kam herein. Wir begrüßten ihn alle (mich drückte er besonders lange, juhu...) und dann wärmten wir uns gemeinsam auf – eigentlich waren Justin und ich die einzigen, die sich bisher noch nicht aufgewärmt hatten.

Die Proben verliefen so gut, dass wir nach der Hälfte der Zeit nicht mehr wussten, was wir noch machen sollten.

„Ist ja langweilig, wenn ich gar nichts mehr sagen muss", lachte Lucy, aber ihre Augen strahlten stolz dabei. Sie sah auf ihre Uhr.

„In anderthalb Stunden müsst ihr in die Maske, Mädels. So lange könnt ihr noch machen, was ihr wollt. Ich muss jetzt noch ein paar geschäftliche Dinge erledigen gehen, aber in 85 Minuten bin ich wieder hier!"

Sie verschwand, bevor jemand noch etwas erwidern konnte.

Wir ließen uns auf den Matratzen nieder, auf denen wir gestern geschlafen hatten. – ...gestern??! Es kam mir so vor, als wäre es bestimmt schon eine Woche her. Wahnsinn, es passierte gerade zu viel in meinem Leben...

„Willst du drüber reden? Sollen wir woanders hingehen?", raunte Dani mir so leise zu, sodass niemand etwas mitbekam.

Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, ich möchte eigentlich nicht einmal daran denken, tut mir Leid..."

„Dafür brauchst du dich doch nicht entschuldigen!", unterbrach sie mich verständnisvoll. „Das kann wohl jeder bestens nachvollziehen."

„Mir ist langweilig", sagte Jill gerade und seufzte tief. Sie lehnte ihren Kopf gegen Laylas Schulter.

„Ich habe eine Idee", fing ich an und die anderen sahen mich alle sofort neugierig an. „Habt ihr Lust, dass wir ein Video für meinen Youtube-Channel drehen?"

Die Begeisterung der Mädels war gigantisch.

Also vertrieben wir uns die Zeit damit, dass wir auf Justins neuen Song Freestyle tanzten und es mit meinem Handy filmten. Das Ganze konnte ich dann am Laptop einfach ganz schnell zu einem Video zusammenfügen und fertig.

Ich liebte es, anderen Tänzern beim Freestyle tanzen zuzusehen. Jede von uns tanzte einzeln vor dem Spiegel, während ich mit dem Rücken dagegenlehnte und sie filmte. Jeder Tänzer tanzte anders, das war das Spannende an dieser Sportart, an dieser Leidenschaft, an dieser Ausdrucksweise. Denn das tat man. Man drückte durchs Tanzen auch seine Gefühle aus.

Ich ließ die anderen alle zuerst tanzen, dann nahm Dani mir mein Handy ab, setzte sich genau an die Stelle, an der ich die ganze Zeit gesessen hatte, und filmte mich.

Tiffany startete den Song noch einmal neu und ich ließ mich vom lauten, vibrierenden Bass durchfluten. Für eine Sekunde schloss ich die Augen und ließ mich innerlich fallen.

Ich tanze wie noch nie zuvor.

Erst, als der Song zu Ende war, blieb ich stehen.

Keiner rührte sich, dann stürmten sie auf mich zu und umarmten mich.

„Oh mein Gott, das war atemberaubend!"

„Krass, Sam! Wow!"

„Wo kam das denn her! So eine Choreo Freestyle zu tanzen schafft nicht mal der beste, ausgebildetste Profi!"

„Unglaublich!"

Ich war ein wenig benommen und setzte mich deswegen erst einmal auf die Matratze.

„Ohne es böse zu meinen für uns anderen, aber du solltest das einfach so, wie es ist, reinstellen. Also nur deinen Part. Einfach so ein Video. Ohne Schnitt, ohne Bearbeitung. Ich sag dir gleich, dass das so, so, SO gut ankommen wird", sagte Dani.

„Aber dann haben wir euch ja umsonst gefilmt?! Und das ist total egoistisch, wenn ich nur mich nehmen würde!", protestierte ich mit gerunzelter Stirn.

Sie lächelten mich alle an.

„Hä, was guckt ihr denn jetzt so?!", fragte ich verwirrt.

„Du bist einfach so süß. Deswegen gucken wir so", entgegnete Tiff.

„Kaum jemand würde so etwas sagen. Du bist so selbstlos. Einfach eine der Art, die immer an andere denken, bevor sie an sich selbst denken", fügte Jill hinzu.

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Musste ich aber auch nicht, weil dann Justin wieder hineinkam. Er war die letzten anderthalb Stunden verschwunden gewesen. Hatte mich nicht gestört. Ich brauchte jetzt kein männliches Wesen in meiner Nähe.

Lucy würde bestimmt auch jeden Moment kommen, da wir eigentlich in zwei Minuten in der Maske sein mussten.

Justin verließ den Raum schon wieder, ohne irgendetwas zu uns gesagt zu haben.

„Uuh, Mister Superstar hat heute aber eine wunderbare Laune drauf", kommentierte Tiffany mit einem Schnauben.

Eine Minute später kam Lucy hereingehetzt.

„Schnell, Mädels, umziehen, umziehen!"

Sie zog einen Koffer hinter sich her, in dem sich unsere Klamotten befanden.

Wir trugen, wie ich Niall vorhin ja schon erzählt hatte, alle schwarz und vom Stil her das, was Justin und ich im Video getragen hatte. Ich schlüpfte schnell in meine schwarze, lederne High-Waist-Hose und mein ebenso schwarzes Crop-Top. Dann zog ich wieder meine Supras an – mein Markenzeichen, wie alle inzwischen behaupteten.

Die anderen Mädels trugen die gleichen Hosen wie ich, aber dazu schwarze Tops mit einer kurzen schwarzen Lederjacke drüber. Sah auch geil aus.

„Los, los, los!", scheuchte Lucy uns aus dem Raum.

Genervt verdrehte Danielle die Augen, die neben mir lief. Ich konnte ihr nur zustimmen. Wenn Lucy so spät kam, konnten wir doch auch nichts dafür!

Wir liefen durch die Kälte draußen zur Halle rüber. (Es hatte aufgehört zu regnen, ich konnte es kaum glauben!) Ein Bauzaun, verdeckt mit schwarzem Stoff, schützte die Leute vor den Blicken der Zuschauer, die draußen vorbeiliefen. Das war gut, so konnte niemand schauen, wenn die Stars und Tänzer und wer nicht sonst noch alles von der Halle zu den Probenräumen rüberliefen.

Ich folgte den anderen in einen riesigen, hell ausgeleuchteten Raum hinein, der sich als der Visagisten-Raum herausstellte.

Ich wurde auf einen Stuhl bugsiert – und fand mich im nächsten Moment einem bekannten Gesicht gegenüber.

„Naaaa, Sam-Schätzchen!", begrüßte FreakyFee mich, der Visagist, der mich schon bei Justins Video geschminkt hatte.

Sofort entspannte ich mich und ließ ihn seine Arbeit machen. Ich wusste, dass er es draufhatte, deswegen döste ich ein wenig, während er sich um meine Haare und mein Gesicht kümmerte.

„Ich soll dir liebe Grüße von Lou sagen", informierte er mich, als er fertig war und direkt vor mir stand, sodass ich mein Spiegelbild noch nicht sehen konnte. Er hielt mir etwas Unförmiges, Schwarzes hin. „Das sind die Handschuhe, die du anziehen sollst."

„Oh, danke!!"

Ich schlüpfte hinein und machte die kleinen Knöpfe zu.

„Die passen perfekt dazu", sagte FreakyFee zufrieden. „Ich hatte Bedenken, ob sie wirklich passen würden, aber sie runden alles noch peeeerfekt ab."

Er ging endlich einen Schritt zur Seite und ich konnte mich selber sehen.

Wow.

Ich erkannte mich kaum wieder.

Ich hatte dunkle Smokey Eyes, die das Grün meiner Augen erstrahlen ließen. Mein ganzes Gesicht sah anders aus als sonst, von der Form her. Alles erschien weicher und harmonierte besser. Ich erkannte mich wirklich kaum wieder.

Meine Haare fielen mir in großen Wellen hinab bis zur Taille. Ich liebte es, wenn meine Haare so waren. Dann waren sie nicht nur um einiges länger als wenn sie in ihren normalen kleinen Locken waren, sie glänzten auch und schimmerten in allen möglichen Farbtönen.

„Wow", sagte ich einfach nur.

„Tja, mit einem wunderschönen Grundgerüst kann man eben so einiges anstellen!", erwiderte FreakyFee begeistert.

Er zog mich aus dem Stuhl heraus und drückte mir einen Kuss auf den Scheitel (mein perfekt geschminktes Gesicht rührte er natürlich nicht an, sonst würde er sein eigenes Werk zerstören). Er schob mich ein Stück von sich weg und betrachte mich von Kopf bis Fuß.

„Du siehst so unglaublich heiß aus, Sam."

„Ach, hör auf zu schleimen!", lachte ich und schlug ihm leicht gegen den Oberarm.

„Ich meine es ernst. Du bist mit einem engelsgleichen Aussehen gesegnet. Schade, dass ich mich am anderen Ufer befinde..."

Er wackelte anzüglich mit den Augenbrauen und ich lachte nur. Dani, die nur seinen letzten Satz mitgekriegt hatte, sah uns verwirrt an, was mich nur noch mehr zum Lachen brachte. Ich verabschiedete mich von diesem verrückten Visagisten und folgte Dani hinaus auf den Gang.

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