#64 - Hitting rock bottom
Bah, dieser Regen regte mich echt auf. Das war eindeutig ein Grund, wieso London eher weiter nach unten wanderte auf der Liste der Orte, wo ich meine Tanzausbildung machen konnte. Dieses Wetter brachte mich um, damit kam mein sonniges, italienisches Blut nicht zurecht. Hier würde ich wahrscheinlich eingehen wie ein armes kleines Pflänzchen ohne Licht und Wärme.
Niall schloss hinter uns die Tür ab.
„Auf einer Skala von eins bis zehn – wie scheiße sehe ich aus?", fragte ich ihn gerade heraus und er drehte sich zu mir um, den Schlüsselbund noch in der Hand.
„Was ist was?", hakte er nach.
„Eins ist ‚du siehst gut aus' und zehn ist ‚du solltest dich besser nicht aus dem Haus trauen, du Zombie'", erklärte ich.
Paul hupte ungeduldig.
„Drei", sagte Niall und stürmte durch den Regen zur geöffneten Autotür.
Drei?! War das ernst gemeint oder war das ein Scherz?! Ich hatte sicher Tränensäcke bis hinunter zu den Knien, einen verkniffenen Mund, Augenringe bis zur Nase und kleine Augen wie Murmeln.
Naah, ich war sicher keine Drei heute, ich war eher eine drei Milliarden irgendwas. Mindestens.
Aber andererseits glaubte ich nicht, dass Niall mich in der Beziehung anlügen würde. Das sah ihm nicht ähnlich und er wusste, wann man ehrlich sein sollte.
Oder... er flunkerte mit Absicht, damit ich mich nicht so schlecht fühlte.
Ich hatte, um genau zu sein, nicht in den Spiegel geschaut. Bewusst nicht.
Vielleicht hätte ich es doch tun sollen. Naja. Auch schon zu spät.
Ich schlüpfte neben ihn auf die hinterste Bank im Van und sagte nichts. Ich hielt den Blick gesenkt und murmelte nur ein kurzes Hallo, als Paul Niall und mich begrüßte.
Ich sah nicht auf. Ich konnte nicht. Ich konnte ihn nicht ansehen.
Ich hörte, dass die anderen Jungs sich unterhielten, aber ich hatte einen so lauten Tinnitus im Ohr, dass ich nicht mitbekam, worum es ging. Alle beteiligten sich am Gespräch, nur er und ich nicht. Ich wusste nicht einmal, wo genau er saß. Saß er am Fenster und blickte nach draußen? Saß er mit dem Rücken zu mir? Oder andersherum, sodass er mich anschauen konnte, wenn er wollte? Wie sah er heute aus? Was trug er? Hatte er einen Pferdeschwanz oder nicht? Hatte er Augenringe, weil er kaum geschlafen hatte? Oder strahlte er wie ein Honigkuchenpferd, weil endlich die Last dieser – unserer – ehemaligen Beziehung von ihm abgefallen war?
Ich blickte nicht auf.
Ich wollte es einfach nicht wissen. Nichts auf der Welt würde mich dazu bringen, mir extra selber noch mehr Schmerz hinzuzufügen. Und das würde passieren, wenn ich ihn ansah.
Wenn er traurig aussah, würde es mir das Herz zerreißen. Und wenn er glücklich aussah und lächeln würde, würde es mir das Herz genauso zerreißen.
Dann blieb ich lieber unwissend.
Manchmal stirbt man lieber dumm.
Den Spruch hatte meine Oma schon immer oft gesagt und ich hatte ihn bisher nie verstanden, sondern immer nur für einen Quatsch gehalten. Jetzt kapierte ich das erste Mal in meinen knapp neunzehn Lebensjahren, was er für einen zweiten Sinn hatte.
Selbstschutz. Reiner Selbstschutz war die zweite Bedeutung.
Ich sollte einfach nicht aufschauen, das war das Beste. Dann musste ich in dieser Hinsicht aber dumm sterben.
Ich sollte nicht aufsehen.
Meine Lider hoben sich und ich starrte nicht mehr hinunter auf meine Hände.
Fuck, fuck, fuck, ich wollte doch nicht aufsehen!
Aber jetzt war es auch schon zu spät. Im Bruchteil einer Sekunde hatte mein Blick das Innere des Wagens erfasst – und mit Erstaunen stellte ich fest, ...
.
.
.
...dass er ja gar nicht hier im Auto war.
Verblüfft starrte ich die vier abwechselnd an. Gott sei Dank senkte ich schnell genug meinen Blick, sodass sie nicht mitbekamen, wie verdutzt und verwirrt ich war. Und wie verletzt.
Er mied mich.
Er war mit Absicht nicht hier mitgefahren, weil er gewusst hatte, dass ich mich im selben Auto befinden würde wie er. Und er konnte meine Anwesenheit wohl nicht ertragen. Zumindest mutmaßte ich das. Anders konnte es nicht sein. Eine andere Bedeutung gab es für mich für seine Abwesenheit nicht.
Ich war froh, dass die anderen vier Jungs mich nicht ansprachen. So konnte ich in Ruhe meinen Gedanken und Grübeleien nachhängen.
Ich musste dabei aber höllisch aufpassen, dass ich den Traum, an den ich mich erinnern konnte, nicht mit reinmixte. Ständig dachte ich an seine Worte, aber sie waren nur eine Produktion meines Unterbewusstseins. Das Ergebnis meiner ständigen Angst.
Was sollte ich tun, wenn ich ihn sah? Gestern Abend, als er gegangen war, war ich noch der vollen Überzeugung gewesen, dass ich ihn zurückhaben wollte. Ich war ihm gefolgt, ich hatte ihn gesucht, aber nicht gefunden.
Heute ...war ich mir nicht mehr so sicher, ob das so eine gute Idee war. Wenn ich ihn heute auf dem Event sehen sollte, also von Nahem sehen sollte, dann wäre es das Beste, einfach die Klappe zu halten. Es machte keinen Sinn, das hatte Harry selbst auch gesagt.
Manchmal musste man das, was man liebte, loslassen.
Wie sagt man immer so schön... man soll dann aufhören, wenn es am schönsten war...
Dabei war es in letzter Zeit nicht mal am schönsten. Es war eigentlich schrecklich, weil es uns beide so kaputt gemacht hat.
Und genau das war der Punkt. Der riesige Punkt auf der Contra-Liste. Es zerstörte uns. Ihn weniger als mich, hatte ich so das Gefühl, aber das war auch schon egal. Jetzt war es schon zu spät.
Es hatte uns zerstört. Und es würde uns immer weiterzerstören, da war ich mir mehr als sicher.
Wir wurden immer weiter in einen Strudel hineingezogen. Wie ein Teufelskreis. Ein Strudel, der nur in eine Richtung ging – nämlich nach unten.
Und trotzdem liebte ich ihn über alles. Das half alles nichts, sämtliche Einsichten, dass es mich immer weiter runterzog...
Aber was redete ich überhaupt. Er hatte mir klargemacht, dass er nicht mehr wollte. Ich konnte mir den Kopf noch so sehr zerbrechen. Das brachte nichts.
Er hatte mich alleine in der Dunkelheit zurückgelassen. Im Regen. Am Tiefpunkt meines Lebens.
Ich wollte wenigstens noch einmal mit ihm über alles reden. Wie man das eben so machte nach einem Beziehungsende, wenn man sich wie erwachsene Menschen verhielt. Ich wollte darüber sprechen. Dann konnte ich vielleicht ein wenig akzeptieren, wie es jetzt war.
Paul hielt den Wagen an und ich stellte fest, dass er wirklich so lieb war und mich bis vor die Tür des Probengebäudes fuhr. Niall ließ mich an sich vorbei und ich stieg aus. Durchs Fenster bedankte ich mich bei Paul fürs Fahren.
Zayn war ausgestiegen und hatte mir auch die Tür aufgemacht.
Überrascht erwiderte ich seine Umarmung, als er mich in seine Arme zog.
„Es tut mir so unendlich Leid, Sam", murmelte er mit seinem unverkennbaren Akzent in mein Ohr. „Dieser Druck und die Öffentlichkeit sind kein Zuckerschlecken... wenn das jemand weiß, dann ich... Ich weiß, wie du dich fühlst, wie dich gerade alles förmlich erschlägt. Sag Bescheid, wenn du jemanden brauchst, mit dem du darüber reden kannst. Oder der dir einfach nur zuhört."
„Danke, Zayn", flüsterte ich und versuchte, den riesigen Kloß in meinem Hals runterzuschlucken, was mir absolut nicht gelang.
Er ließ mich los und strich mir sanft eine Träne von der Wange.
„Nicht weinen. Das Leben ist zu kurz und zu schön, um zu weinen", sagte er mit einem schiefen Grinsen.
Ich schniefte einmal und ging dann davon, nachdem ich den anderen durch die Autofenster zugewunken hatte.
Langsam ging ich auf die Glastür zu. Dort standen ein paar Tänzer, die rauchten und mich grüßten, als ich vorbeikam.
In ein paar Minuten startete die Generalprobe in der Arena drüben. Alle würden dort proben, nur wir nicht. Justin Biebers Performance wurde so lange geheim gehalten, wie es nur ging. Niemand durfte sie vorher sehen. Es war das erste Mal, dass er den Song live performte, deswegen diese Geheimnistuerei. Ich fand es immer noch lächerlich, Dani auch, aber naja, wir hatten ja nichts zu sagen. SO wichtig war es ja auch wieder nicht.
Kaum hatte ich die Tür zu unserem Raum geöffnet, in dem wir weiterhin proben würden, während alle anderen drüben waren, flog mir Dani schon in die Arme.
„Heeeey! Alles klar bei dir?"
Sie ließ mich los und zog scharf die Luft ein, als sie mein Gesicht sah. Ihre Augen kullerten ihr beinahe aus dem Kopf.
„Scheiße, wie siehst du denn aus? Hast du heute Nacht überhaupt geschlafen?!", fragte sie entgeistert.
Danke, Niall, also doch keine Drei. Hatte ich's doch gewusst!
Ich ging an ihr vorbei und stellte meine Tasche neben ihre. Die anderen Mädels waren dabei, sich gerade aufzuwärmen, weswegen laute Musik lief und sie uns also nicht hören konnten.
Justin war natürlich noch nicht hier.
„Sam", drängte mich Dani. Sie hatte sofort gerochen, dass etwas nicht stimmte.
„Ende Gelände", sagte ich nur und machte mit meinem Zeigefinger eine Geste, als würde ich mir die Kehle durchschneiden.
„Nein."
„Doch. War echt filmreif, hättest du sehen müssen. Ich erst im Bett seines besten Freundes, dann große Streitszene draußen im Regen, Rumgeschreie wie nochmal was, dann Kuss, dann er abgehauen, ich zusammengebrochen, er wieder da, wieder geküsst, er wieder abgehauen. Ich ihm nach mit Niall als Fahrer, aber er nirgends auffindbar", zählte ich in unglaublicher Schnelle auf. „Du hättest dabei sein müssen, ich hätte wirklich einen Oscar verdient, noch viel mehr als Leonardo di Caprio!"
Dani ging auf meinen Galgenhumor nicht ein, sondern starrte mich an, als hätte sie einen Geist, ein UFO und eine Fata Morgana in einem gesehen.
„Das ist nicht dein Ernst."
„Mh, doch, eigentlich schon."
Ich trank einen Schluck aus der Wasserflasche, die Niall mir gegeben hatte, und sah sie dann wieder an.
Danielle blinzelte nicht einmal mehr.
„Ja, und jetzt?!", fragte sie tonlos.
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