#55 - So viele Emotionen
Ich folgte ihm in das andere Zimmer.
„Bittesehr, fühlen Sie sich ganz wie zu Hause, Madame!", sagte er vornehm näselnd und deutete mit einer ausladenden Bewegung auf sein Bett. Der Fernseher lief halblaut und es kam gerade irgendeine britische Talkshow.
Ich legte mich auf sein Bett, das unglaublich weich war, und wäre am liebsten sofort dort eingeschlafen.
Auf einmal stiegen mir die Tränen in die Augen.
Ich versuchte, mein Gesicht von ihm wegzudrehen, aber ich war zu langsam. Er hatte die Tränen schon gesehen, die mir über die Wangen liefen.
„Hey... was ist denn los?", fragte Niall leise und setzte sich ebenfalls aufs Bett.
Ich war nicht in der Lage, ihm zu antworten. Ich schluchzte so heftig, dass ich schon Mühe hatte, überhaupt noch weiteratmen zu können. Ich drückte mir beide Hände auf den Mund, aber es nützte nichts.
„Sam...", sagte Niall bestürzt und zog mich zu sich rüber. Er umarmte mich ganz fest und ließ mich einfach in seinen Pulli weinen. Ich schloss die Augen, aber das machte das Ganze nur noch schlimmer. Tausend Bilder zogen vor meinem inneren Auge vorbei. Wie ich Harry das erste Mal sah. Wie wir getrennt wurden. Wie er an uns vorbeirannte zum Van hin, als der Amokläufer in der Olympiahalle war. Wie wir uns in Moms Büro bei der EMAs-Besprechung wiedergesehen hatten.
Alles zog an meinem inneren Auge vorbei.
Unser erster Kuss. Unser erster Streit. Das erste Mal, dass wir zusammen gelacht haben. Das erste Mal, dass er mich weinen gesehen hat. Als ich zu ihm aufs Empire State Building kam.
Alles.
Einfach alles.
So viele Emotionen und Erinnerungen prasselten auf mich ein, dass ich nicht mehr wusste, was ich denken sollte.
Ich weinte einfach nur noch. Niall wiegte mich leicht hin und her. Ich war so froh, dass er gerade hier bei mir war, und dass ich nicht irgendwo alleine in einem Hotelzimmer irgendwo in London saß.
„Schhhh...", machte Niall und ließ mich einfach immer weiter weinen. Ich konnte auch nichts Anderes tun. Ich konnte einfach nicht.
Ich richtete mich nach ein paar Minuten auf und wischte mir unter den Augen entlang.
„Ich... ich kann...nicht mehr. Ich..."
Unter Schluchzen bekam ich diese Wörter heraus, aber sie waren komplett unverständlich. Niall sah mich aus seinen ozeanblauen Augen so besorgt an, dass das mein kaputtes Herz noch mehr brach. Als würde ein Welpen einen besorgt ansehen und dabei leise fiepen.
Er drängte mich nicht dazu, endlich mit dem Weinen aufzuhören. Er drängte mich auch nicht dazu, mit ihm zu reden. Er ließ mich einfach neben sich dasitzen und weinen.
Irgendwann atmete ich einfach nur noch tief ein und aus. Ein und aus. Ein und aus.
Das half.
Die Tränen liefen weiter, aber ich konnte wieder atmen und schluchzte nicht mehr.
Mein Herz fühlte sich so schrecklich an. Es tat so sehr weh. Hatte ich überhaupt noch ein Herz? Ich wusste es nicht. Es fühlte sich nicht mehr so an. Es schmerzte so sehr.
Die Liebe konnte einen wirklich zerstören. Lieben heißt, sich in Gefahr bringen. Doch wie sehr man sich dabei in Gefahr brachte, das erfuhr man erst, als es eigentlich schon zu spät war und der Zug schon abgefahren war. Wenn man jemanden liebte, dann gab es keinen doppelten Boden wie im Zirkus. Die Artisten dort hatten es einfach. Wenn sie fielen, dann fing sie das Netz unter ihnen auf. Wenn man sich verliebte und denjenigen von ganzem Herzen liebte, hatte man diesen Luxus nicht. Entweder man blieb oben in der Luft und genoss die Aussicht und das Hochgefühl – oder man fiel. Man fiel in eine tiefe Schwärze. Und manchmal fiel man ewig. Das Fallen tat schon weh. Aber der Aufprall....
War ich jetzt aufgeprallt? War ich am Boden angekommen? Weinte ich deswegen so sehr? Konnte ich deswegen meinen Tränenfluss nicht mehr kontrollieren?
Ich wollte aufhören zu weinen, verdammt, ich wollte unbedingt! Aber es ging nicht. Ich konnte nichts machen.
„Lenk mich ab."
„Was?" Niall sah mich verdutzt an.
„Lenk mich bitte ab", wiederholte ich flüsternd. „Erzähl mir irgendetwas, das nichts mit ihm oder mir zu tun hat..."
Ich konnte ihm ansehen, dass er grübelte und angestrengt in seinem Hirn grub. Es war wohl nicht so einfach, etwas zu finden, in dem er nicht vorkam. Schließlich saßen sie 24 Stunden an sieben Tagen der Woche aufeinander, verbrachten jede Sekunde zusammen, deswegen war er gezwungenermaßen immer da, wenn irgendetwas Erzählenswertes passierte.
„Ehrlich gesagt, bin ich neidisch auf dich", fing er an.
Ich runzelte die Stirn. Sein Ablenkungsmanöver zog schon beim ersten Satz.
„Wie, neidisch?"
„Auf dich. Auch wenn es dir scheiße geht – aber du hast wenigstens ein Liebesleben. Bei dir existiert wenigstens eins." Frustriert hob er die Schultern und ließ sie wieder fallen. „Bei mir ist da nichts. Niente. Nada."
„Gibt es wirklich niemanden?", hakte ich nach und drehte mich zu ihm. Ohne es zu merken, wischte ich mir die letzten Tränen von den Wangen. „Was ist mit Demi? Selena? Ellie?"
„Oh Gott, hör mir mit der auf", stöhnte er, als ich den letzten Namen nannte. „Macht sich da voll an mich ran, aber hat gleichzeitig noch was mit Ed am Laufen?! Ich habe gedacht, ich spinne, als ich das erfahren habe!"
„Ich mochte die noch nie", fügte ich nüchtern hinzu. „Ich mag auch ihre Stimme nicht. Bah."
Es tat gut, über andere Leute herzuziehen.
Ich wollte schon beinahe von Taylor Swift anfangen, aber bremste mich dann doch, weil das Thema zu brenzlig war, dass wir doch wieder bei ...ihm landeten. Und das wollte ich auf Biegen und Brechen verhindern.
„Mh, ihre Stimme mag ich ehrlich gesagt auch nicht. Ich mag sie jetzt insgesamt überhaupt nicht mehr. Wieso mochte ich sie mal?", fragte er mich und ich gab ein Geräusch wie ein belustigtes Grunzen von mir.
„Das brauchst du mich nicht fragen, darauf kann ich dir sicher keine Antwort geben!", gab ich zurück.
Er verzog den Mundwinkel.
„Schade, ich dachte, vielleicht wärst wenigstens du so schlau, wenn es sonst schon keiner war."
„Ne, da muss ich dich leider enttäuschen, so klug bin ich dann doch wieder nicht", entgegnete ich.
„Louis sagt ja immer, sie ist eine Hexe", fing Niall an, aber ich unterbrach ihn entrüstet: „Also das ist dann doch ein wenig sehr unfreundlich!"
„Warte, ich bin ja noch nicht fertig", lachte er. „Louis behauptet, sie wäre eine Hexe. Sie verzaubert die männlichen Wesen in ihrer Nähe, sodass sie ihr verfallen, ob sie wollen oder nicht."
„Na, da habe ich aber das Gefühl, dass dann einige der Erdbewohnerinnen in Wirklichkeit Hexen sind", schnaubte ich. Meine Gedanken wanderten sofort zu Taylor Swift, die jeden um den Finger wickelte.
„Mir fällt da auf Anhieb auch schon die nächste Blondine ein", sagte Niall und ich wusste, dass er ebenfalls an Taylor dachte.
Ich rutschte in die Mitte seines Bettes und lehnte mich in sein Kissen. Er machte es sich neben mir bequem und schlug die Füße übereinander, die in weißen Tennissocken steckten.
„Ist dir noch kalt? Du kannst meine Decke haben", bot er mir an und zog sie sofort hervor, ohne dass ich überhaupt geantwortet hatte. Er legte sie über mich und ich zog sie mir bis zum Kinn hoch. Ich löste meinen Dutt und atmete den wunderbaren Geruch meiner halbtrockenen, frisch gewaschenen Haare ein.
Ich spürte jetzt, wie alles über mich hereinbrach und mir meine gesamte Kraft raubte. Der Jetlag, der Schlafmangel seit unzähligen Nächte, die Anstrengung des Tages, sowohl die körperliche als auch die geistige. Ich war so fertig.
Ich konnte Niall nicht einmal mehr zuhören. Ich wollte, aber ich hatte die maximale Gehirnkapazität eines Tages deutlich überschritten. Er plapperte die ganze Zeit vor sich hin. Es war ein wohltuendes Geräusch, das mich immer weiter beruhigte. Ich war mir sicher, dass er wusste, dass ich ihm nicht zuhörte. Ich rutschte zu ihm und bettete meinen Kopf auf seiner Schulter.
„Danke, Niall", murmelte ich.
„Ach, nicht der Rede wert."
„Doch." Mühsam öffnete ich meine Augen und richtete mich ein wenig auf. „Ich bin dir so unendlich dankbar. Ich würde immer noch dort in de Dunkelheit im Regen stehen, wenn du mich nicht abgeholt hättest. Ich bin dir so sehr dankbar."
„Du würdest das Gleiche für mich auch tun", entgegnete er schlicht. „Das weiß ich."
„Ja, das stimmt", pflichtete ich ihm leise bei und ließ meinen Kopf wieder auf seine Schulter sinken.
Inzwischen war ich komplett aufgetaut. Selbst mein kleiner Zeh war wieder warm. Und mein Inneres auch. Als ich vorhin aus der Dusche gestiegen war, hatte mein Körper zwar gedampft, aber meine innere Eisstarre wollte sich nicht vertreiben lassen.
Ich hatte so jemanden wie Niall gebraucht. Jemand, der einfach nur da war. Der neben mir war und mich gleichzeitig aber in Ruhe ließ. Ihm lag sicher ziemlich viel auf der Zunge, was er loswerden wollte, aber er hielt sich zurück, weil er sehen konnte, wie schlecht es mir gerade ging. Da konnte ich nicht noch eine Konfrontation mit ihm überleben.
Und dafür zollte ich ihm wirklich Respekt, dass er mich so behandelte. Nicht jeder war so selbstlos und überaus freundlich wie er. Er hätte mich auch einfach im Regen stehen lassen können, aber Niall war jemand, den man einen wahren Freund nennen konnte.
Ich konnte froh sein, dass ich ihn hatte kennenlernen dürfen.
Das war das Letzte, was ich dachte, bevor ich in einen ruhigen Schlaf glitt...
~~~
Mit einem Krachen wurde eine Tür zugeschlagen und im nächsten Moment saß ich senkrecht in Nialls Bett.
Entsetzt drehte ich mich um und starrte zur besagten Tür, die jemand hinter sich zugeschlagen hatte.
Niall war ebenso erschrocken herumgefahren wie ich. Er war aus dem Bett gesprungen und starrte den Eindringling genauso entgeistert an wie ich.
Die Welt blieb stehen.
Sofort.
Eine ziemlich heftige Bremse wurde in die Erdrotation gehauen.
Nichts bewegte sich mehr.
Seine grünen Augen funkelten mich an. Sein Blick sprang zwischen Niall und mir hin und her.
Ich sah an mir hinunter und dann wieder zu ihm.
Mein Herz sackte mir in die Jogginghose und mir verschlug es die Sprache.
Ich befand mich in Nialls Bett. Ich trug Nialls Pulli. Ich hatte seine Bettdecke um meinen Körper geschlungen. Ich hatte nasse und verwuschelte Haare. Und: ich hatte auf seinem Bett geschlafen – in seinem Bett geschlafen, wie auch immer – mit dem Kopf auf seine Schulter gebettet.
Ouh.
Shit.
Verdammter.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top