#46 - Vollpfosten

Mein Herz klopfte wie verrückt. Ich versuchte, den riesigen Kloß in meinem Hals, der schon wieder aufgetaucht war, runterzuschlucken, aber er bewegte sich keinen Millimeter. Genauso wie die Angst vor diesem Gespräch.

Naja, Angst war es nicht, es war eher.... ich konnte es nicht in Worte fassen, was es war. Hier stand gerade zu viel auf dem Spiel, und ich hatte Angst, dass ich das Hotelzimmer weinend und alleine verlassen würde.

Davor hatte ich Angst, nicht vor dem Gespräch selber.

Ich wollte nicht schon wieder verletzt werden.

Wieso machte er eigentlich nicht die Tür auf?!

Mir fiel jetzt gerade auf, dass sich noch nichts getan hatte.

Ich klopfte noch einmal, diesmal aber fester. Trotzdem aber immer noch leise genug, um die Bewohner der umliegenden Zimmer nicht zu wecken – sprich: die anderen Jungs höchstwahrscheinlich.

Ich runzelte die Stirn und spitzte die Ohren. Ich meinte, ein paar Geräusche hören zu können, aber vielleicht kamen sie auch woanders her und nicht aus Harrys Zimmer.

Die Tür blieb weiterhin verschlossen vor mir.

Hm, also so hatte ich mir das ehrlich gesagt ja nicht vorgestellt.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und überlegte. Ja schön, was machte ich jetzt?

Ich klopfte noch einmal, diesmal mit beiden Fäusten gleichzeitig.

„Harry", rief ich dazu noch leise. „Mach bitte auf, ich bin's."

Ich wusste, dass ich meinen Namen nicht dazu sagen musste. Wenn er meine Stimme hörte, wusste er sofort, wer hier vor der Tür stand und so einen Aufstand veranstaltete.

Hah, ja, WENN er meine Stimme hörte.

Nur gerade sah es irgendwie nicht so aus, als würde er sie hören.

„Das kann doch wohl nicht wahr sein", murmelte ich verwirrt.

Schlief er etwa wie ein Stein und hörte mich nicht?! Das konnte echt nicht wahr sein! Ich hatte schon oft genug neben ihm geschlafen, deswegen war es mir neu, dass er so einen unglaublich tiefen Schlaf hatte, aus dem man ihn partout nicht reißen konnte!

Ich stöhnte grummelnd auf und kramte in meinem Oberstübchen nach einer Idee. Mir fiel allerdings nichts ein.

Anrufen brauchte ich ihn nicht, er war nicht erreichbar, denn er hatte sein Handy nachts immer auf Flugmodus. Das wusste ich.

„Sam?"

Ich drehte mich um und sah Paul, der am anderen Ende des Ganges wieder aufgetaucht war. Er kam mit schnellen Schritten auf mich zu und sah mich verwirrt an.

„Wieso bist du denn immer noch hier?"

„Weil der Vollpfosten die Tür nicht aufmacht."

Paul öffnete seinen Mund, aber er kam nicht dazu, das zu sagen, was er mir mitteilen wollte – denn die Tür öffnete sich.

Allerdings nicht die Tür vor meiner Nase, sondern die Tür hinter mir, sprich die Tür, die sich genau gegenüber von Harrys befand.

Und heraus schaute ein ziemlich verschlafener Niall in einem weißen Tanktop und einer grauen Jogginghose. Er fuhr sich durch seine zerstrubbelten blonden Haare und kniff verpennt die Augen zusammen.

„Sam..?! Was machst du denn hier?", fragte er lahm und strich sich mit den Händen einmal übers Gesicht, um wach zu werden.

„Hi Niall. Was mache ich hier wohl. Ich wollte die Geschenke vom Weihnachtsmann abholen."

„Hä...?"

Okay, das war eindeutig zu früh für Mister Horan, um irgendwelche geistreichen Witze zu kapieren. Waren wir mal nachsichtig.

„Wieso macht er die Tür nicht auf?", fragte Paul jetzt und klopfte noch einmal gegen Harrys Zimmertür. „Harry!"

„Ähm... Paul..."

Wir drehten uns beide wieder zu Niall um. Er sah uns ein wenig zerknirscht an.

„Was?"

Pauls Blick verfinsterte sich.

Ihm dämmerte wohl schon, was Niall ihm jetzt sagen wollte.

„Nein."

Pauls Stimme war ganz ruhig, aber ich konnte genau sehen, wie er unter der Oberfläche wie ein Vulkan brodelte, der kurz vor dem Ausbrechen war.

Wie ein wütender Stier stieß er die Luft aus.Er schloss die Augen.

„Bitte sag mir, dass das nicht wahr ist."

Niall verzog nur den Mund.

„Niall. Bitte."

„Ich konnte nichts machen! Was hätte ich auch machen sollen? Ihn an den Bettpfosten fesseln?!"

Er raufte sich die Haare und sah zwischen Paul und mir hin und her. Ich stand nur sprachlos daneben und schaute blöd.

„Ich kann doch auch nichts machen, wenn er einfach zum Flughafen fährt, die nächstbeste Maschine nach München nimmt und Sam genau in dem Moment aber wieder nach New York fliegt!!"

....und damit hatte er das ausgesprochen, was mir dämmerte, seit Niall so zerknirscht geschaut hatte.

Harry war mal wieder seinem Lieblingshobby nachgekommen: Mir um den halben Globus nachfliegen, wenn wir Stress hatten.

Das konnte doch nicht wahr sein!

„Das ist jetzt nicht sein Ernst", war das Einzige, das mir einfiel.

Ich ließ mich auf meinen Koffer sinken. Wenn Paul mich nicht am Ärmel festgehalten hätte, wäre ich glatt umgekippt wie ein Sandsack, aber das merkte ich nicht einmal.

Ich konnte es einfach nicht glauben! Da war der Vollpfosten einfach in den nächsten Flieger gestiegen, ohne zu wissen, ob ich überhaupt in München war!

„Und du bist dir ganz sicher, dass er nach München geflogen ist?", fragte Paul Niall sachlich. Er hatte sich schnell wieder gefangen.

Also beneiden tat ich ihn wirklich nicht um seinen Job. Manchmal war das wohl wie Kleinkinder hüten...

„Ja, ganz sicher. Er hat bei mir gestern Abend geklopft und mir Bescheid gesagt."

„Und wieso hast du mir nicht Bescheid gesagt?!", fuhr Paul Niall jetzt an.

Okay, er hatte sich doch nicht so sehr gefangen, wie es gerade noch ausgesehen hatte.

Niall hob abwehrend die Hände.

„Woher soll ich denn wissen, dass das nicht mit dir abgeklärt war? Er hat nicht gesagt, dass er einfach so fliegt, und er hat auch nicht gesagt, dass ich meine Klappe halten soll! Ich dachte, du wusstest das! Erst, als du gerade gefragt hast, wo er ist, und an seiner Tür geklopft hast, kam mir, dass er sich wohl mal wieder heimlich, still und leise aus dem Staub gemacht hat", erklärte Niall und zuckte ratlos mit den Schultern. „Jetzt ist es eh schon zu spät. Er dürfte jetzt dann irgendwann landen. Am besten schreibe ich ihm, dass Sam hier ist und dass er wieder zurückfliegen soll."

„Nein, das wirst du nicht. Das werde ich jetzt mit ihm selber regeln."

„Sei nicht sauer, Paul. Er wollte doch nur zu Sam, um das Ganze zu klären", fing Niall an, Harry zu verteidigen, aber Paul schnitt ihm erbarmungslos das Wort ab.

„Danke, aber das kann ich immer noch selber entscheiden, Niall. Geh wieder schlafen. Wir müssen in ein paar Stunden zu dem Interview mit ...ich weiß nicht mehr, mit welcher Zeitschrift, ist ja auch egal, und danach fliegen wir. Also, hol dir noch eine Mütze Schlaf."

„Okay...", gab Niall klein bei. Er drückte mich einmal fest an sich und verabschiedete sich von mir: „Ciao, Sam. Wir sehen uns ja bald wieder, also am Wochenende meine ich."

„Ja, genau, da sehen wir uns", bestätigte ich und lächelte ihn leicht an. „Bis dann und schlaf noch gut!"

Er schloss seine Zimmertür leise und ließ Paul und mich zurück auf dem Flur.

„Tja, dann müssen wir wohl doch noch bis zum Wochenende warten, bis sich das Ganze geklärt hat...", murmelte Paul.

„Wo fliegt ihr denn später hin?", fragte ich.

Ich versuchte, meine Enttäuschung zu unterdrücken. Damit würde ich mich später auseinandersetzen können.

„Heim. Also nach London. Harry wird von München logischerweise gleich dorthin fliegen und nicht mehr hierher nach New York. Keine Sorge, Sam, ich werde ihm nicht den Kopf abreißen. Er wird jetzt halt beim Interview fehlen... – okay, dafür muss ich ihm doch den Kopf abreißen", meinte er schulterzuckend und blickte finster durch den Gang.

Ich ging nicht darauf ein. Das war ja auch nicht meine Angelegenheit, was bei One Direction passierte.

„Okay... also, ich gehe jetzt mal wieder, ich habe hier ja nichts... zu suchen oder ...nichts zu tun ...nicht zu ...besprechen...", versuchte ich, die richtigen Worte zu finden.

Paul nickte. „Wir sehen uns in wenigen Tagen wieder, Sam. Mach's gut und viel Erfolg dir weiterhin."

„Danke, halt du die Ohren steif bei dem Kindergarten" – er grinste das erste Mal breit – „und bis bald!"

Ich tigerte zurück zum Fahrstuhl und verließ das Hotel wieder auf dem Weg, wie ich hineingekommen war. Ich trug das Kinn weit nach oben, als ich an dem Security-Menschen vorbeiging. Ich würdigte sie keines Blickes.

Als ich mit dem Taxi zu Hause ankam, schniefte ich einmal und unterdrückte die Tränen. Nein, ich würde jetzt nicht weinen. Sicher. Nicht.

Wütend schlug ich auf die Sieben an der Fahrstuhlanzeige und fuhr nach oben zu Papas Wohnung. Ich ließ die Tür hinter mir ins Schloss krachen und stampfte erst einmal wie ein wütendes, kleines Kind mit dem Fuß auf.

„Was soll die Scheiße!!!", rief ich dann laut.

Die nächste Viertelstunde bestand eigentlich nur daraus, dass ich wie eine Verrückte durch die Wohnung lief und mich aufregte.

Ich regte mich darüber auf, dass Harry nicht da gewesen ist. Dass ich umsonst meinen ganzen Mut zusammen genommen hatte und bei ihm aufgetaucht war. Nur um dann feststellen zu müssen, dass der werte Herr nicht da war, sondern mir mal wieder hinterher geflogen war. Oder dachte, mir hinterhergeflogen zu sein.

Wieso zum Teufel hatte er das getan!! Er wusste doch, was für eine volle Woche ich vor mir hatte und dass sie sich nicht in München abspielte! Anfangs hatte noch gar nicht auf dem Plan gestanden, dass ich zu meiner Crew nach Hause flog, um ein Video zu drehen! Er hatte davon überhaupt nichts gewusst, wieso zur Hölle dachte er dann, dass er mich dort antreffen würde?! Er wusste doch, verdammt nochmal, dass sich mein Leben nicht mehr in München abspielte, sondern in den englischsprachigen Ländern! Herrgott nochmal, er war echt nicht dumm, aber er sollte manchmal einfach mal sein Hirn auch benutzen!!

Irgendwann ließ ich mich auf die Couch sinken. Mit einem Mal war ich unglaublich müde und wollte nur noch schlafen. Ich war nicht einmal mehr in der Lage, die Nachrichten zu lesen, die ich bekommen hatte.

Ich wusste ja eh schon, was drin stand. Sie schrieben sicher alle das Gleiche. Nämlich dass er bei uns zu Hause vor der Tür stand, während ich hier war.

Ich wollte die Nachrichten nicht lesen. Ich wollte das nicht noch mehr unter die Nase gerieben bekommen.

Stattdessen stellte ich mir meinen Handywecker auf halb elf, dann konnte ich jetzt noch ein wenig schlafen und hatte später aber auch genug Zeit, um duschen zu gehen, mich fertig zu machen und etwas zu essen.

Hoffentlich war überhaupt etwas im Kühlschrank... was ich ehrlich gesagt bezweifelte, denn....

Weiter ging mein Gedanke nicht mehr. Er verlief sich in einer gähnenden Leere, die mich in einen sanften, wohl verdienten Schlaf zog.

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