„Okay, passt das so? Oder sollen wir nochmal?"

Ich fragte das nicht den Kameramann, den Ray uns organisiert hatte (und der es wirklich draufhatte, das wollte ich gar nicht bestreiten!), sondern meinen Bruder, der mindestens genauso viel Ahnung hatte wie der Kerl da neben ihm, dessen Name ich irgendwie nicht mitbekommen hatte. Oder sogar mehr Ahnung.

Leo nickte zufrieden.

„Ja, das war sehr gut. Eure Farben wirken in dem dunklen Licht besonders gut."

Er deutete auf mein dunkelrotes Top, das ich damals im Italienurlaub gekauft hatte, auf Ilonas hellblaues und Ivys knallgelbes Oberteil.

Ray hatte mir gestern Abend mitgeteilt, dass er sich mit Ilona und Rafaele in Verbindung gesetzt und mit ihnen abgesprochen hatte, dass wir heute unbedingt ein neues Video drehen mussten. Ray wollte nämlich nicht, dass meine Crew und ich uns voneinander entfernten. Also er wollte nicht, dass meine Bekanntheit einen Keil zwischen uns trieb und es so aussah, als würde ich sie vernachlässigen, und für diese Entscheidung und auch diese Erkenntnis war ich ihm mehr als nur dankbar. Der Mann wusste einfach, was gut war. Und inzwischen kannte er mich doch ein wenig.

Ich liebte diese verrückten Leute einfach so sehr, die sich gerade die letzten zwei Stunden die Seele aus dem Leib getanzt hatten. Wir waren alle mit der gleichen Leidenschaft dabei, auch wenn Ilona immer sagte, dass das nicht stimmte und dass ich diejenige war, die am härtesten von allen arbeitete. Das konnte ich weder bestreiten noch zustimmen. Ich tanzte einfach für mein Leben gerne und mehr interessierte mich nicht. Ich verglich mich nicht mit anderen, ich machte einfach mein eigenes Ding, so wie ich es wollte.

Dadurch, dass wir die letzte Zeit nicht gemeinsam trainiert hatten und deswegen keine unserer Choreos zu 100 Prozent so perfekt und synchron saß, dass sie wirklich komplett videotauglich war, hatten wir einfach spontan entschieden, dass wir ein Freestyle-Video drehten. Jeder konnte so all seine Moves zum Besten geben, die er draufhatte. Ilona, Ivy und ich hatte uns für eine halbe Stunde zurückgezogen und einen Teil aus der Hit Me Baby One More Time-Choreographie perfektioniert, sodass wir wenigstens kurz eine richtige gemeinsame Choreo im Video hatten. Rafaele überredete mich dann noch dazu, einen Teil von Out Of Town Girl mit reinzunehmen. Eine der aufreizendsten Choreos, die wir je entwickelt hatten. Aber sowohl Leo, die Crew als auch der Kameramann waren alle begeistert von dem, was Rafaele und ich in ein paar Minuten ablieferten.

Wir tanzten auf einen Song, den Ray uns zugeschickt hatte. Es war eigentlich eine Demo von Calvin Harris, die er aussortiert hatte, aber der Song war zu gut, um ihn einfach so verschwinden zu lassen. Deswegen war unser Video jetzt das offizielle Musikvideo des neuen Songs von Calvin Harris.

Als wir fertig waren, wusste ich schon dreimal nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Ich kapierte überhaupt nicht mehr, was in meinem Inneren überhaupt gerade geschah.

Einerseits fühlte ich mich so gut. Ich hatte getanzt, ich hatte die Leute wieder gesehen, die ich über alles liebte – also meine Familie und meine Crew – und wenn ich tanzte, schaltete ich mein Hirn aus. Das war die letzten zwei Stunden so gewesen, und ich hatte es in vollen Zügen genossen. Wenn ich tanzte, interessierte mich nichts mehr. Es war wie Balsam für meine geschundene Seele. Mir konnte es noch so schlecht gehen – es brachte mich jedes Mal wieder ein bisschen mehr ins Gleichgewicht zurück. Es war mein Anker.

Nichtsdestotrotz pochte immer noch in meinem Hinterkopf die Erinnerung an ...gestern Abend. Gestern Abend? Oder schon vorgestern? Oder heute? Wie viele Stunden waren überhaupt vergangen, seit ich die Tür vor seiner Nase zugeschlagen hatte?! Ich hatte absolut keine Ahnung. Ich hatte keinen Schimmer, wie viel Uhr es hier gerade war. Oder wie viel Uhr es in mir war, also wie meine innere Uhr gerade tickte. Ich hatte eher so das Gefühl, dass sie stehen geblieben war und nur noch auf der Stelle schwach tickte.

Ich war der reinste Roboter. Alles, was ich tun musste, war funktionieren. Das tun, was man mir sagte. Dort hinfliegen, wo ich hingeschickt wurde. Die Bewegungen vor der Kamera machen, die ich machen musste.

Kopf aus, Körper an.

Nicht denken, tanzen.

Ich wusste nicht, wie lange ich das noch durchhalten sollte.

Ich wusste nicht, wie lange ich das noch durchhalten konnte.

Und ich hätte niemals gedacht, dass das so krass werden würde.

~~~

„Er hat den Link geschickt."

Ich hatte Leos Zimmertür aufgestoßen und setzte mich neben Caro auf sein Bett. In den Händen hielt ich meinen Laptop, meine Haare hingen noch halbnass über meiner Schulter, aber das war mir egal. Leo rückte sofort näher zu mir heran und ich rief den Link auf, den Ray mir geschickt hatte.

Wow, derjenige, der das Video geschnitten hatte, war ein Profi. So schnell das gegangen ist, konnte das nur ein Vollprofi sein.

Es war mal wieder ein als privat eingestellter Youtube-Link. Als ich das Video aufmachte und wir es uns ansahen, staunten wir nicht schlecht.

„Geiler Scheiß", kommentierte Caro als erste.

Und da traf sie den Nagel direkt auf dem Kopf.

Das Video war der Hammer. Schnelle Schnitte zwischen den einzelnen Personen hin und her, immer wieder Gesichter, mit konzentrierten und leidenschaftlichen Ausdrücken, Bewegungen in Perfektion eingefangen, die Lichtspiele – einfach grandios.

Das Einzige, was mich störte, war, dass ich unübersehbar in den Mittelpunkt gerückt worden war.

Als ich das anmerkte, kam von Leo nur: „Eigentlich finde ich das gar nicht so. Und selbst wenn: Ja und. Du bist eben der Star unter ihnen. Sie haben alle gesagt, sie lassen das als Hobby und sie unterstützen dich bei allem, was du tust. Sie haben dich dazu ermutigt, das Jobangebot anzunehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Crew-Mitglieder sauer sein werden."

Caro bestätigte das Ganze mit einem kräftigen Nicken und ich ließ mich dann doch von den beiden überzeugen.

Es war jetzt viertel vor elf abends – zumindest auf der Uhr auf Leos Nachttisch, in meinem Inneren herrschte immer noch das zeitlose Gefühl.

„Das Video soll jetzt noch online gestellt werden, hieß es", erklärte ich und erhob mich von Leos Bett. „Also Ray stellt es online, sodass ich es auf unserem Youtube-Channel rüberziehen und hochladen kann."

Ich verschwieg, dass er Justin und einige andere Stars – unter anderem natürlich Ellen – dazu angeheuert hat, unser Video zu teilen. Irgendwie war es mir nicht soo sonderlich angenehm, das zuzugeben. Ich konnte nicht erklären wieso, aber ich hielt einfach meine Klappe.

Ich trollte mich wieder rüber in mein Zimmer und erledigte das Ganze.

Das Video stand jetzt online.

Meine Crew freute sich gerade einen Ast. Mein Handy vibrierte nur noch, da die Whatsapp-Gruppe gerade überhäuft mit Nachrichten wurde.

‚Wisst ihr, was ich besonders geil finde?', schrieb Ilona gerade.

‚Hm?'

‚Was?'

‚Ne aber du wirst es gleich sagen! :P'

‚Dass Sam einerseits ein wenig in den Mittelpunkt gerückt wird, also so kommt es einem vor, aber irgendwie auch nicht! Ich kann das nicht erklären. Aber ich finde, es wirkt ein bisschen so, was ich mega cool finde – aber wir anderen sind in dem Video genauso wichtig wie sie! Das wurde richtig genial geschnitten!'

...also kapiert hatte ich das gerade ehrlich gesagt nicht, musste ich zugeben. Aber Ilonas Logik musste man auch nicht kapieren.

‚Ich finde gar nicht, dass Sam in den Mittelpunkt gerückt wird! Das ist perfekt so wie es ist! :)'

Die Reaktionen fielen alle so aus, worüber ich mehr als froh war.

‚Sag mal, wann warst du eigentlich das letzte Mal in Instagram oder Twitter?', meldete sich jetzt meine Lieblingscousine zu Wort.

Sie musste lernen und Hausaufgaben machen, deswegen hatte meine Tante ihr vehement verboten, hier bei uns aufzukreuzen. Jana hatte so sehr geplärrt und sich geweigert, dass Manu – nett wie er war – ihr beigestanden hatte und deswegen auch nur für sie darauf verzichtet hatte, zu mir zu kommen. Wahre Geschwisterliebe!

‚Gestern Abend in New York, wieso?', antwortete ich.

Ich ging aus Whatsapp raus und tippte auf die Instagram-App.

‚Weil du ein paar Follower dazugekriegt hast', las ich Janas neue Nachricht als Push-Benachrichtigung oben am Rand des Bildschirms, aber ich wurde zu sehr von Instagram abgelenkt.

Meine Kinnlade fiel nach unten und ich riss die Augen auf.

Ich war auf meinem eigenen Profil und starrte die Followerzahl an. Ich traute mich überhaupt nicht, sie vorzulesen.

Das war... das war.. ...das war einfach nur krank! Voll krank!

‚Bitte sag mir, dass das nur ein Witz ist.'

‚Wieso?!? Das ist ULTRAMEGAHYPERGEIL!!!!!', kam postwendend als Antwort.

‚Ich habe 2,3 Millionen Abonnenten in Instagram.

Zwei.

Komma.

Drei.

MILLIONEN.'

Ich switchte wieder rüber zu Instagram und konnte das überhaupt nicht fassen. What?!

‚In Twitter sind es ein bisschen weniger', informierte mich Jana.

‚Übrigens solltest du euer neues Video auf den ganzen Plattformen teilen, damit ihr noch mehr Klicks kriegt! Ich hab dir schon ein perfektes Bild erstellt!'

Sie schickte mir ein Foto von meiner Crew von einem der Fotoshootings, die wir mal gemacht hatten, und sah, dass sie den Titel des Videos und unseren Crew-Namen The DreamBeastZ mit draufgeschrieben hatte.

Es sah echt geil aus.

‚Oh du bist ein Schatz!'

Ich teilte das Video erst einmal und scrollte dann durch meine Timeline auf Twitter. Nicht nur Justin hatte das Video geteilt, auch Cody Simpson, sogar Selena Gomez?!, oha! ...dann noch ....Kendall Jenner?! Bitte was?!

Ich lachte laut vor mich hin, während ich weiter mit dem Daumen scrollte.

Liam hatte es auch geteilt. Ich lächelte. Wie süß von ihm.

Aber einer...ein bestimmter Mensch hatte sich nicht dazu geäußert.

Aber das war mir egal. Oder zumindest sagte ich mir das.

~~~

„Sam. Schatz, wach auf."

Ich regte mich ein wenig und drehte mich dann schwerfällig um. Ich öffnete ein Auge halb und versuchte, meinen Blick scharf zu stellen.

Mom saß auf meiner Bettkante, direkt hinter ihr standen Leo und Papa. Ich runzelte die Stirn und richtete mich schlaftrunken auf.

„Mhh...?", machte ich und strich mir meine Locken aus der Stirn.

Im ersten Moment sagte keiner was.

„Bitte... bitte fall jetzt nicht in Ohnmacht, okay?"

Scheiße, was war jetzt schon wieder passiert?!?!