#38 - Immer weiter und weiter und weiter

Wir landeten in München. Ein wenig holprig, weil es doch sehr wehte, aber egal, wir hatten wieder Boden unter den Rollen.

Seufzend erhob ich mich von meinem Sitz. In dem Moment fragte ich mich, woher die Stewardess eigentlich wusste, dass ich hier wohnte. Weil sie ja „Heimfahrt" vorhin gesagt hatte. Komisch...

Als ich das Flugzeug verließ und mich noch einmal mit einem matten Lächeln bei ihr bedankte, kam mir in den Sinn, wieso sie das wusste. Ich hatte ja vor dem Abflug meinen Reisepass abgeben müssen, den ich jetzt gemeinsam mit meinem Koffer wiederbekam.

Ich war zu zermatscht in der Birne, um noch irgendetwas zu kapieren.

Wir wurden mit einem Bus vom Rollfeld gefahren. Ich war auf einem Sitz zusammengesunken und regte mich erst wieder, als die Leute um mich herum ausstiegen.

Ich hatte keine Ahnung, wo ich jetzt war oder wie viel Uhr es gerade hier in Deutschland überhaupt war – aber das war mir eigentlich auch sowas von schnurzpiepegal. Ich folgte den anderen aus dem Bus heraus und weiter einen gefliesten Gang entlang. Wie ein kleines Schäfchen. Ich stolperte dreimal fast über meine eigenen Füße, weil ich mir den Koffer in die Hacken rammte, aber auch das war mir komplett egal. Ich raffte inzwischen irgendwie gar nichts mehr.

Letztendlich war ich bei der S-Bahn angelangt. Na, Gott sei Dank.

Ich schob meinen Koffer in das Abteil und ließ mich auf einem Sitz nieder. Die S-Bahn war fast ganz leer, weswegen mir egal war, dass mein Koffer ständig zwei Meter von mir weg rollte.

„Ey, pass mal auf dein Zeug auf, Mädchen!", muffte mich ein Mittezwanzigjähriger von der Seite an. Er schob mir grob den Koffer direkt vor die Füße, sodass er nicht mehr wegrollen konnte.

Ich reagierte überhaupt nicht. Ich war so fertig mit der Welt. Ich wollte eigentlich mal nachschauen, wie viel Uhr es war, weil ich komplett das Zeitgefühl verloren hatte und ich jetzt eh in einer komplett anderen Zeitzone war, was man nicht vergessen durfte, und außerdem wollte ich eigentlich wissen, wie lange ich zu Hause schlafen konnte, bis ich heute Abend auf den neuen Dreh musste.

Ich war nicht nur körperlich ausgelaugt, sondern vor allem auch seelisch.

Aber besonders störten mich die Nackenschmerzen, die sich bis hinunter in meinen Rücken und hinauf in meine Schläfen zogen. Den Herzschmerz blendete ich erfolgreich aus, aber die körperlichen, nervlichen Schmerzen waren so präsent, dass mir die Tränen in meine glasigen, geröteten Augen stiegen.

Ich schniefte einmal.

Mir war es egal, ob die Leute mich ansahen, weil ich hier wie ein kleines Häufchen Elend saß. Erkennen konnte mich eh niemand. Ich hatte ein Sweatshirt an, dessen Kapuze ich mir tief ins Gesicht gezogen hatte. Außerdem lehnte meine Stirn auf meinen Armen, die ich auf der Oberseite meines Koffers verschränkt hatte. Mein Gesicht war also nicht einmal zu sehen.

Niemand konnte mich erkennen.

Ich ließ mich weiterhin durch mein Delirium treiben, bis mich die Stimme der S-Bahn-Ansagen unsanft wieder ins Hier und Jetzt riss, als sie den Pasinger Bahnhof ansagte – denn beinahe hätte ich verpasst, in Pasing auszusteigen, weil das war die letzte Möglichkeit für mich, in die richtige S-Bahn umzusteigen, mit der ich nach Hause kam.

Schnell rappelte ich mich auf und sprintete im letzten Moment durch die Tür, die sich piepend schon wieder schließen wollte.

Ich musste mich erst einmal an dem Geländer festhalten, das hier direkt neben mir war, weil ich viel zu schnell aufgesprungen war und mein Kreislauf nicht gerade begeistert von dieser überstürzten Aktion war.

Ich zog geistesgegenwärtig meinen Koffer zu mir heran, damit ich nicht wieder blöd angemacht wurde, dass ich ihn im Weg stehen ließ, und ließ mich darauf nieder.

Ich wollte einfach nur noch nach Hause in mein Bett.

Schlafen.

Und nicht mehr aufwachen.

Als die S-Bahn endlich da war, freute ich mich sogar ein wenig.

Die Freude wurde dann wieder in ihrem Kern erstickt, als sich die Türen öffneten und ich sah, wie voll die S-Bahn war. So ein Scheiß.

Da kam ich mit meinem Koffer ja nie rein!

Also blieb ich hier einfach sitzen. Und wartete auf die nächste S-Bahn – ich hatte ja sonst nichts zu tun! – die dann fast genauso voll war, aber das war mir egal. Ich würde hier sicher nicht noch weitere tausend Stunden sitzen bleiben, pfff!

Mit gesenktem Kopf und wunderbarster Laune quetschte ich mich also noch mit in das eh schon so überfüllte Abteil rein. Ich hob das Gesicht kein einziges Mal. Ich freute mich gerade darüber, dass meine Lockenmähne ungefähr siebzig Prozent meines Gesichts verdeckte. Fünfundzwanzig dann noch von meiner Kapuze und die restlichen zerquetschten brauchte ich noch, um darunter hervorlugen zu können.

Ich hasste es, mit Koffer S-Bahn zu fahren. Bei jeder Station musste ich mich rausquetschen, damit die Leute, die aussteigen wollten, auch wirklich rauskamen. Dann musste ich wieder samt Koffer rein und mich auf irgendwelche Füße stellen, damit ich auch ja selbst überhaupt Platz hatte.

Ich hasste es so sehr.

Aber die ganze Zeit über achtete ich darauf, dass ich nicht ein einziges Mal mein Gesicht hob, sodass jemand meine Augen sehen konnte.

Erleichtert stieg ich irgendwann an der Haltestelle aus, bei der ich rausmusste, und machte mich zu Fuß auf den Weg nach Hause. Endlich.

Als ich unseren dunklen Gartenzaun von weitem sehen konnte, fing ich an zu weinen. Ich weinte einfach lautlos. Ich zitterte inzwischen wie Espenlaub. Sturzbäche an Tränen liefen mir die Wangen hinunter bis in den Saum meines Sweatshirts. Ein lauter Schluchzer entschlüpfte mir, während ich in meiner Tasche kramte, um meinen Hausschlüssel zu finden, obwohl ich natürlich durch die Tränen rein gar nichts sehen konnte. Aber das war dann gar nicht mehr nötig, denn die Tür wurde vor meiner Nase ruckartig aufgerissen und ich starrte in die dunklen, weit aufgerissenen Augen von meinem Bruder.

„Was machst du denn hier?!", rief er ein wenig entgeistert, wartete aber keine Antwort ab, sondern umarmte mich einfach nur. Er hielt mich so fest und ich schluchzte hemmungslos in sein warmes Sweatshirt. Mein komplettes Gesicht verschwand in dem Stoff und ich atmete seinen vertrauten Geruch ein – was mich irgendwie nur noch mehr zum Weinen brachte. Ich schluchzte so sehr, dass ich nicht einmal mehr atmen konnte. Ich merkte, wie Leo sich stückchenweise nach hinten bewegte mit mir weiterhin in den Armen, die Haustür dann mit dem Fuß zukickte und meinen Koffer ebenfalls zur Seite bugsierte. Was für ein Multitalent.

„Sam, was ist?"

Er löste sich jetzt von mir, dafür kam jetzt Mom auf mich zugestürmt und umarmte mich fest. Ich weinte einfach so sehr.

„Ich muss schlafen. Dringend", bekam ich nur heraus.

„Sam, was ist passiert???", fragte Mom und sah mich durchdringend an. „Sam!"

Papa stand jetzt genau neben ihr, Leo immer noch neben mir.

„Ich kann jetzt nicht, ich muss schlafen, alleine sein, ich muss schlafen, ich...", murmelte ich und ging an den beiden vorbei.

Meine Tasche war zu Boden geglitten und ich ließ meinen Koffer an Ort und Stelle stehen. Ich ging an ihnen vorbei Richtung Treppe und stapfte mit schwerfälligen Schritten die Stufen nach oben.

Als ich bei der Hälfte der Treppe angekommen war, drehte ich mich nochmal um und sagte: „Könnt ihr mich um acht bitte wecken? Danke."

Dann ging ich einfach weiter. Ich zog mir  in meinem Zimmer eine Jogginghose und einen anderen dicken Pulli an, legte mich in mein Bett und war nach wenigen Sekunden schon eingeschlafen.

~~~

„Schatz, es ist acht..."

Eine Hand strich mir sanft über die Wange.

Ich regte mich leicht und brauchte weitere zwanzig Sekunden, bis ich in der Lage war, aufzuwachen. Ich richtete mich ein wenig auf und zwang mich dazu, die Augen zu öffnen.

So wie es sich anfühlte, hatte ich mich gerade in einer der tiefsten Tiefschlafphasen überhaupt befunden, als Mom hereingekommen war und mich geweckt hatte. Aber da konnte sie ja nichts dafür.

Ich setzte mich noch mehr auf und lehnte mich dann wieder in meinem Kissen zurück. Mom sah mich besorgt an, ich kannte diesen Blick viel zu gut.

Ich mied es, sie ebenfalls anzuschauen.

„Sam..."

„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht dass ich jetzt weltweit bekannt bin und das nicht fassen kann? Oder dass ich mich von Harry getrennt habe? Oder dass ich nervlich voll am Ende bin? Oder dass ich das Gefühl habe, ich werde wie ein Paket in ein Flugzeug gepackt und ständig nach Lust und Laune verschickt? Ich habe keine Ahnung, wo mir der Kopf steht."

Ich fuhr mir durch die Haare.

„Ich mache dir jetzt etwas zu essen, du gehst in der Zwischenzeit duschen und dann kommst du in die Küche und redest mit mir – oder eher uns, da du Papa, Leo und Caro ebenfalls an der Backe haben wirst – und dann-"

„Dazu habe ich keine Zeit, ich muss jetzt gleich schon wieder weiter", unterbrach ich sie und schälte mich aus meinem Bett.

Ich ging an Mom vorbei zu meiner Zimmertür.

„Samantha."

Mitten in der Bewegung, während ich nach der Türklinke griff, hielt ich inne.

Dieser Tonfall.

Oh oh, das hieß nichts Gutes.

Ich drehte mich langsam um.

„Du kannst nicht von uns erwarten, dass du hier wie ein Schlosshund weinend, todmüde und komplett fertig mit den Nerven reinplatzen kannst, ohne dass irgendwer weiß, dass du hierher zurückkommst – und dann sollen wir dich einfach wieder zu einem neuen Dreh gehen lassen, ohne dass wir wissen, was los ist? Vergiss das. Nein-", sie erhob sich von meinem Bett und hob auch ihre Stimme und ihre Augenbrauen, weil ich Anstalten machte, sie zu unterbrechen, „-vergiss es. In einer Viertelstunde unten. Ohne Widerrede."

Sie nahm mir die Klinke aus der Hand und ging mit in die Höhe gerecktem Kinn aus meinem Zimmer, ohne mich noch einmal anzusehen.

Verdammt, diese Frau war eindeutig meine Mutter.

~~~

Ich schlang die Spaghetti Bolognese in rekordverdächtiger Geschwindigkeit in mich hinein. Erst danach erzählte ich meinem vierköpfigen Publikum von den letzten Tagen und dass ich jetzt wirklich weiter musste.

„Ich komme mit", bot Leo mir an und ich nahm dankbar das Angebot an.

Wir fuhren mit seinem Auto zum Tanzstudio und ich wurde mit einem lauten Hallo und Hurra von meiner Crew begrüßt.

„Du musst jetzt lachen. Die ganze Zeit lachen. Alles ist perfekt", raunte mir Leo noch schnell ins Ohr, bevor sich meine Freunde auf mich stürzten und mich knuddelten.

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