#36 - Schluckauf
So wie ich mich gerade fühlte, müssten sie alle eigentlich gleich wieder das Interview schließen und sich denken: Was ist das denn für eine Nervensäge. Kommt aus Deutschland und meint, sie muss jetzt die Welt erobern oder was?
Zumindest würde ich das denken.
Aber ich war ja jetzt gerade, während ich auf der Couch mit dem Laptop auf meinem Schoß zusammengesunken dasaß und darauf hoffte, dass die Erde sich auftat und mich verschluckte (was im siebten Stock eines Penthouses ein wenig schwer war, aber okay...), auch nicht gerade wie der reinste Sonnenstrahl.
Trotzdem.
Naja.
Ich seufzte und versuchte, meine Konzentration zu bündeln.
Noch ein paar Minuten.
Das Telefon klingelte zum ungefähr achten Mal. Hatten sie nicht kapiert, dass ich entweder nicht da war oder nicht hingehen wollte?
Ich kannte Leo, der war sicher eh gerade auf dem Youtube-Channel von Ellen und würde das Video sofort öffnen. Wieso riefen sie mich also die ganze Zeit an?
Ich fuhr mir mit den Händen durch die Haare und starrte dann an die Decke.
Da erschienen sie schon wieder vor mir.
Seine Augen.
Sein Blick. Sein Blick, der ausdrückte, dass er sich durchaus bewusst war, dass es seine Schuld war. Ganz allein seine Schuld. Und der ebenfalls ausgedrückt hatte, dass er kapiert hatte, dass das Fass nun übergelaufen war und es jetzt nichts mehr nützen würde, wenn er mir durch die Weltgeschichte hinterherflog, so wie er es bisher immer getan hatte. Damit war Schluss.
Mein Handy vibrierte wieder und ich sah jetzt ausnahmsweise einmal drauf. Einfach weil ich das Gefühl hatte, dass es eine wichtige Nachricht war.
‚Bitte lass uns später nur ein wenig schreiben, okay? Irgendetwas ist bei dir passiert, das spüre ich doch. Du hast ihn gesehen, oder? Bitte, Spatz, ich bin für dich da! <3'
...und da wäre wieder der Beweis: Zwischen Caro und mir herrschte einfach eine seltene Verbindung. Wir waren seelenverwandt und das hatte uns beiden schon öfter den Hals gerettet.
Ich antwortete ihr nicht, aber ich glaube, das war auch nicht nötig. (Ich wollte eigentlich nur nicht online gehen, damit Jana – die ganz sicher die ganze Zeit auf meinem Chat war – das ‚Online' unter meinem Namen entdeckte.)
Noch eine Minute.
Ich aktualisierte die Seite tausendmal. Ich war so ungeduldig. Aber ich freute mich nicht einmal. Ich freute mich kein bisschen. Meine Mundwinkel hingen irgendwo in der Kelleretage und hatten dort wohl auch ein Zimmer gemietet, denn es fühlte sich nicht so an, als würden sie jemals wieder nach oben kommen.
Vorhin war ich noch mit bester Laune vom Interviewdreh gekommen, ich hatte mich darauf gefreut, ich war ein wenig hibbelig gewesen – und dann hatten diese zwei Idioten im Gang gestanden und... –
Puuuh.
Ich blickte an die Decke und blinzelte heftig. Nicht weinen. Nicht weinen.
Ich sah wieder auf den Bildschirm und quiekte auf, denn das Interview war da!
Die nächsten zwölf Minuten war ich komplett still und beobachtete mich selber, wie ich von mir und von meinem Job erzählte. Ich sah aus wie ein anderer Mensch, also verglichen mit meinem jetzigen Ich auf Papas Couch. Ich strahlte, ich hatte leicht gerötete Wangen und ich lächelte und lachte die ganze Zeit.
Ich bewunderte mich selber, wie locker ich das Ganze hinbekam.
Als das Video vorbei war, aktualisierte ich die Seite noch einmal und fing an, die Kommentare zu lesen, die die Leute schon verfasst hatten.
Und ich war komplett baff.
Ich switchte zwischen Twitter und Instagram am Handy hin und her, währenddessen las ich noch weiter die Kommentare unter dem Video, suchte nach mir selber in Google, las die Artikel – und war nicht in der Lage, etwas zu sagen oder irgendetwas zu tun.
Innerhalb kürzester Zeit stiegen meine Follower auf allen Netzwerken in den sechsstelligen Bereich. Unsere Videos wurden mehrere tausendfach in der Minute angeklickt.
Ich saß auf der Couch, hatte mein Handy schlaff in meiner Hand links neben mir auf dem Sofakissen und starrte einfach nur noch auf den Bildschirm des Laptops, ohne etwas dabei wirklich zu sehen.
Mein Handy vibrierte ununterbrochen.
Aber ich konnte nichts machen. Ich war nicht in der Lage.
Ich war gerade innerhalb weniger Minuten zu einem weltberühmten Menschen geworden.
Weltberühmt.
Jeder kannte mich. Auf jedem Kontinent kannte man mich. Nicht nur die Amerikaner und die Deutschen und die Österreicher und die Italiener kannten mich, nein, die Briten, die Chinesen, die Inder, die Südafrikaner, die Franzosen, die Mexikaner, die Russen, die Puertoricaner, die Neuseeländer ... – ich hätte die Liste noch ewig weiterführen können.
Überall schauten die Leute das Video.
Überall schauten die Leute unsere Tanzvideos.
Das konnte ich auf der Analyse-Seite von Youtube sehen. Dort wurde einem ja angezeigt, von wo man unsere Videos schaute.
Meine Mundwinkel überlegten es sich jetzt doch anders und kamen aus dem Keller gekrochen und katapultierten sich selber in den dritten Stock.
Grinsend saß ich nun da.
„Ha ha", machte ich und presste mir dann immer noch breit grinsend eine Hand auf den Mund. Mir stiegen Tränen in die Augen.
Mein größter Wunsch, mein allergrößter Wunsch – mein Herzenswunsch! – war in Erfüllung gegangen. Ich war eine bekannte und geschätzte Tänzerin.
Ich war bekannt und meine Arbeit wurde geschätzt. Mein Talent wurde geschätzt. Meine Crew und ich wurden endlich gehört, gesehen und bestaunt.
Und das alles hatte ich mir selber erarbeitet. Ich hatte keine Hilfe gebraucht. Wir hatten unsere Videos gedreht, ich hatte Rays Anfrage bekommen und angenommen und hatte mit Justin das Video gedreht.
Das Schicksal hatte wohl gemerkt, dass ich nun endlich einmal an der Reihe war, um ein wenig im Glück baden zu dürfen.
Das Glück war auf meiner Seite, und jetzt konnte mir keiner mehr das nehmen, was ich erreicht hatte.
Eine Träne lief mir über die Wange und ich nahm die Hand von meinem Mund. Ich schluchzte laut auf und lächelte immer noch.
Immer mehr Tränen kamen und ich kam nicht mehr hinterher, sie alle wegzuwischen. Also ließ ich sie einfach laufen.
Die ganze Anspannung der letzten Tage kam durch diese Tränen jetzt ans Tageslicht. Ich presste jetzt beide Hände vor mein Gesicht und ignorierte das Telefon zum fünfhundertsten Mal. Es fühlte sich an, als würde mein Kopf gleich explodieren. Ich nahm die Hände wieder weg und legte meine Handflächen an meine Wangen.
„Abgefahren", wisperte ich nur und schüttelte ungefähr eine Minute lang ganz langsam nur den Kopf.
„Abgefahren."
Ich weinte immer noch. Die Tränen wollten nicht aufhören.
Ich weinte laut. Sehr laut. Aber das war mir egal.
Irgendwann wandelten sich meine Tränen.
Ich merkte es überhaupt nicht, dass sie sich wandelten. Erst, als es zu spät war und ich weinte und der Schmerz mich gleichzeitig durchflutete wie ein Tsunami, raffte ich, dass das jetzt keine Freudentränen mehr waren.
Es waren Harry-Tränen.
Yippieh, endlich waren sie wieder da!
„Verdammt, ich will nicht weinen!!!"
Ich sprang von der Couch auf, wobei der Laptop auf den Boden segelte, aber Gott sei Dank auf einem Kissen dort landete. Ich raufte mir die Haare und drehte mich wie wild auf der Stelle hin und her.
Wenn mich jetzt jemand sehen würde, würde er mich zu einhundertfünfzig Prozent einweisen lassen. Langsam aber sicher drehte ich doch ein wenig durch.
„Scheiß Harry-Tränen!! Scheiß Harry!! Scheiß Liebe!!!", schrie ich aufgebracht (und natürlich immer noch weinend) und pfefferte mit voller Wucht das erste Kissen gegen die große Glaswand. „So ein Scheiß!!! Scheiße!!!!"
Ich bekam mich überhaupt nicht mehr ein.
Irgendwann sackte ich hinunter auf meine Knie und blieb dort zusammengesunken sitzen.
Ich hatte jetzt Schluckauf. Na super.
Ich bekam keine Luft mehr. Meine Luftröhre war vor lauter Schmerz wie zugeschnürt. Ich röchelte ein wenig und griff mir an den Hals.
Ich kniff die Augen zusammen und senkte den Kopf.
Okay, Sam, nicht durchdrehen. Nicht zusammenklappen, das fehlt gerade noch! Konzentrier dich! Kopf zwischen die Knie, aber sofort!
Ich brachte mich in eine sitzende Position und lehnte mich nach vorne, die Augen weiterhin zugekniffen.
Ich zählte bis dreißig und versuchte, gleichmäßig zu atmen.
Komm schon, komm schon...
Ich öffnete die Augen und merkte, dass der Rand meines Blickfeldes jetzt wieder scharf und nicht mehr schwarz und verschwommen war.
Langsam hob ich den Kopf. Ich blickte gerade aus durch die Glaswand.
Wieso war meine Sicht jetzt schon wieder unscharf?!?
Panisch griff ich zu meinen Wangen direkt unter meinen Augen – und spürte dann, dass es dort wieder nass war.
Ich stöhnte auf und verdrehte die Augen. Klar, und wieder weinte ich. Konnte ich nicht einmal meine Ruhe vor Herzschmerz und Harry-Tränen haben? Das war ja lächerlich! Ich hatte noch nie eine Beziehung gesehen, die von so viel Liebeskummer geprägt war! Da war Nico ja noch pflegeleichter gewesen!
(Okay, streicht das. Das war er sicher nicht.)
Ich richtete mich ein wenig auf und robbte zum Tisch rüber. Ich griff nach meinem Handy, das halb unter der Couch lag, und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Couch.
Der Schluckauf war immer noch da.
Ich scrollte durch die Nachrichten, die mir bei den Push-Benachrichtigungen angezeigt wurden, aber ich las keine einzige. Ich las nicht einmal, vom wem sie waren.
Ich hatte jetzt auch nicht mehr den Nerv, mich irgendwem zu stellen. Ich konnte einfach nicht. Es tat mir Leid und ich wusste durchaus, dass es nicht richtig war, wie ich mich jetzt verhielt. Aber ich wollte nur noch in mein Bett. Ich war nicht mehr in der Lage, mich Mom oder Caro oder Jana oder sonst wem zu stellen. Weder auf das Interview bezogen noch auf Harry bezogen. Besonders nicht, was ihn betraf.
Ich konnte nicht mehr.
Für heute war ich mit meinen Kräften am Ende und das mussten sie einfach verstehen.
Ich hievte mich in die Höhe und wischte mir über meine Wangen. Brachte aber nichts. Also gab ich es auf.
Ich schleppte mich hinüber ins Badezimmer und machte mich schlaffertig. In Zeitlupe putzte ich mir die Zähne und schlurfte dann in mein Zimmer rüber. Ich mied sein T-Shirt, das ich sonst immer zum Schlafen trug.
Dann kroch ich in mein Bett und stellte mir den Wecker auf viertel nach vier. Viel Schlaf würde ich jetzt eh nicht kriegen, das war mir gleich klar.
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