34 - Yamase
Yamase ist die japanische Bezeichnung für einen extremen Kälteeinbruch, der allgemein unter dem englischen Ausdruck Blizzard bekannt ist. Die kalten Polarwinde werden auf ihrem Weg in Richtung der japanischen Inseln durch keine Landmasse oder Ähnliches aufgehalten, darum können Yamases das Land mit voller Wucht treffen. Sie sind wie Blizzards durch hohe Windgeschwindigkeiten und große Schneemengen definiert und dauern meist mehrere Stunden an.
J U L I A
Ächzend schob ich das Sofa vom Wohnzimmer hinaus in den Flur. Gerade so passte es noch durch den Türrahmen. Ich wischte mir den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn, ehe ich mich einmal im leer geräumten Raum umsah. Ohne die Möbel wirkte er viel größer.
Durch den tragbaren Lautsprecher, der mit meinem iPhone verbunden war, hörte ich Musik, um mich von meinen eigenen Gedanken abzulenken. In den vergangen vier Tagen quälten mich grauenhafte Kopfschmerzen, die durch meine eigenen Gedanken entstanden waren. Mein Kopf wollte einfach nicht abschalten. Ein 'was, wäre wenn' Szenario nach dem anderen schoss mir durch den Kopf.
Wann hörte das denn endlich auf?
In meinem Kopf begann es abermals zu arbeiten, doch ich versuchte, das Gefühl von Erschöpfung zu übergehen. Stattdessen machte ich mich an die Arbeit und legte den Boden mit einer Plane aus. Anschließend trug ich einen der beiden Farbeimer mit viel Mühe ins Wohnzimmer.
Dieses Mal entschied ich mich gegen das Blau, das alles veränderte. Gestern Nachmittag, als mir die Idee erneut kam, fiel meine Wahl auf ein helles Flieder.
Vorsichtig dosierte ich die Tönung, die ich den Eimer l weiße Farbe mischte. Mit einem Holzstock rührte ich, bis der gesamte Inhalt die Farbe annahm, die mir gefiel.
Der starke Geruch der Farbe stieg mir in die Nase. Mir würde etwas übel von dem Gestank, weshalb ich ein Fenster öffnete und nach Luft schnappte. Die frische Luft machte den Geruch erträglicher.
Ich tunkte den Farbrolle in die Farbe und rollte ihn über einem Gitter ab, um die überschüssige Farbe loszuwerden. Während ich mich aufrichtete und zur linken Wand ging, verlor ich dicke Tropfen der Farbe. Kurz hielt ich inne, bevor ich mit dem Streichen begann. Ich hatte bisher noch nie einen Raum gestrichen, aber so schwer konnte das schon nicht sein, oder?
Um die oberen Ecken zu erreichen, holte ich mir aus der Küche einen Stuhl. Einige Kleckse Farbe landeten auf ihn, was mich fluchen ließ. Um mehr Schaden zu verhindert, schnitt ich einen schwarzen 110 L Müllsack auf und stülpe ihn über den Stuhl.
Es war schon ziemlich riskant, auf der nun rutschigen Oberfläche des Stuhls zu stehen. Ich streckte mich, setzte die Rolle an und rollte sie in regelmäßigen Bewegungen über die Wand. Mein nervöses Herz schlug schneller, weil mir bewusst wurde, dass ich nun nicht mehr aufhören konnte. Egal, was ich hier fabrizierte, ich musste es zu Ende bringen.
Erst als ich merkte, dass nicht mehr genügend Farbe an der Rolle war, stieg ich vom Stuhl, tunkte sie wieder in den Farbeimer und machte mich weiter an die Arbeit. Dabei sang ich lauthals zu meiner Playlist mit. Es war mir egal, ob man mich bis auf die Straße hören konnte. Sobald ich hochschwanger war, würde man mich und meinen Babybauch sowieso anstarren. Und wenn man erst herausfand, wer der Kindsvater ist, dann war eh alles vorbei.
Vorbei würde mein normales Leben sein. Auch meine Privatsphäre wird Geschichte sein.
Eigentlich ein ziemliches Karma.
Zuvor half ich, die Privatleben öffentlicher Personen zu enthüllen, und nun wird mein eigenes bald der Vergangenheit angehören.
Noch immer konnte ich nicht glauben, dass ein Lebewesen, ein Baby, in mir heranwuchs. Etwas, dass zum Teil aus Niall bestand und zum anderen aus mir.
Panik, vollkommene Panik hatte mich fest im Griff gehalten, als die Ärztin mir am Monitor zeigte, was für meine Übelkeit und Stimmungsschwankungen verantwortlich war. Ich dachte an meine Eltern, die enttäuscht sein würden. An meinen Job, den ich sicherlich verlieren würde. An Niall, der definitiv keine Zeit für ein Kind hatte. Schlussendlich dachte ich an mich, wie ich alleine in meiner Wohnung saß und ein Kind von einem Promi aufzog, der nie zu Hause war. Der mir nur mit Geld zeigen würde, dass es ihm auch noch gab.
Ich strich die linke Wand fertig. Es sah gar nicht mal so übel aus. Ein Profi im Streichen war ich bei weitem nicht, aber man konnte es lassen. Nach einer kurzen Teepause machte ich mich an der gegenüberliegenden Wand zu schaffen.
Meine Gedanken trieben mich so weit, dass ich ein N mit der Rolle auf die weiße Wand malte. Als ich es realisierte, strich ich hektisch darüber.
Ein Gespräch mit besagtem N blieb nicht mehr lange aus. Er musste es wissen. Nur musste ich mir erst klar werden, wie ich es ihm sagte. Einfach gerade heraus? Oder doch etwas einfühlsamer? Vielleicht ließ ich ihm beim nächsten Mal meinen wachsenden Bauch berühren und er würde es von selbst merken. Jedoch war er ein Mann. Vermutlich würde er schlicht denken, dass ich zu viel gegessen hatte.
Egal wie, ich fürchtete mich vor seiner Reaktion.
Das alles war nicht geplant gewesen. Irgendwann wollte ich vielleicht ein Kind haben, aber nicht jetzt, wo es halbwegs gut für mich lief.
Ich befand mich jetzt in der dreizehnten Woche. Wie konnte mir selbst das alles nicht auffallen? Das war auch die Frage, die ich der Ärztin stellte. Der Stress Rund um die Arbeit mit Georgina hatte wohl dazu geführt.
Zumindest gehörte ich nicht zu den Frauen, die erst bemerkten, dass sie ein Baby bekamen, wenn die Wehen einsetzten.
Oh Gott.
Wehen. Stundenlange Schmerzen. Gebären, während ich vor Qualen heulen würde und die Menschen um mich herum nur auf meine intimste Stelle starren werden.
Die alleinige Vorstellung an das, was noch kommen würde, machte mir Angst. Ich war mir nicht sicher, ob ich das alles konnte. Laut Google war das Einzige, das noch mehr schmerzte, als ein Kind zu gebären, bei lebendigem Leib verbrannt zu werden.
Das waren keine guten Aussichten.
Ein Klingeln an meiner Tür unterbrach meine Gedankengänge. Stirnrunzelnd legte die Rolle ab und wischte mir an einem Tuch die Farbe von den Fingern.
Ich warf einen kurzen Blick auf meinen schlabbrigen Look. Umziehen würde ich mich bestimmt nicht, jedoch wollte ich mich so auch niemanden zeigen.
Mit Hoffnung darauf, dass es der Postbote war, der mir mein Paket mit den bestellten Büchern brachte, kletterte ich über das Sofa, das mir den Weg versperrte.
„Hallo?", fragte ich in die Sprechanlage.
Ich hörte leises Atmen. Dann ein genervtes Seufzen. „Hier ist Georgina Lewis. Dein Boss."
Vor Schreck fiel mir der Hörer aus der Hand.
Was zum Teufel wollte sie hier?
Am Kabel zog ich den Hörer wieder hoch und presste ihn wieder an mein Ohr.
„Geo-Georgina, was wollen Sie hier?"
Sie schnaubte. „Lass mich doch endlich rein, Cupcake! Ich bespreche mich doch nicht über die Sprechanlage mit dir."
„Ähm, also", murmelte ich, ohne zu wissen, was ich machen sollte. Ich sah hinter mich, sah das Sofa an, das den Weg versperrte. Sah mich an und meinen unmöglichen Look.
Georgina wurde ungeduldig. „Machst du mir nun endlich auf? Ich bin extra hergekommen und ich bin nicht jemand, den man vor der Tür stehen lässt."
„Ja, na gut", erwiderte ich etwas leiser. Ich setzte den Hörer zurück an seinen Platz und öffnete per Knopfdruck die Haustür. Auf Georgina wartete ich in meinen Türrahmen, gegen den ich mich lehnte. Die, vor der Brust verschränkten Arme, sollte ein Zeichen darauf sein, dass ich skeptisch war.
Georgina war außer Atem, als sie auf mich traf. „W-wie k-kann man nur i-in einem H-Haus ohne Lift w-wohnen?"
„Was wollen Sie?", fragte ich schroff. Nicht jeder besaß das Geld, um in einem solchen Haus zu wohnen, wie sie es tat.
Sie holte einige Atemzüge und musterte dabei kritisch meine Aussehen. Ich konnte den Tadel von ihrem Gesicht lesen, doch sie verbiss sich jeden Kommentar. Was auch besser war, ansonsten hätte ich ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen.
„Ich bin hier, um zu reden."
Ich stieß mich vom Türrahmen ab und versperrte Georgina den größten Blick auf meinen Flur. „Wenn Sie denken, ich würde Ihnen irgendetwas über Niall erzählen, dann haben Sie sich getäuscht!"
Zu meiner Verwunderung winkte Georgina ab. „Ach, nein. Wo denkst du hin. Das Thema hätte ich vielleicht kurz angeschnitten, aber nichts weiter. Versprochen. Es geht um etwas anders."
Konnte ich ihr das wirklich glauben? Nachdenklich stieg ich von einem Bein auf das andere.
„Was wollen Sie dann?"
„Lass uns das doch drinnen besprechen." Mit einem kurzen Nicken deutete sie hinter mich in meine Wohnung.
Es kostete mich eine Überlegung, bis ich zustimmte. Meine Nachbarn ging das alles nichts an. Mit einer Handbewegung bat ich Georgina in mein zu Hause. Ich machte mir erst gar nicht die Mühe, das Sofa aus dem Weg zu schieben.
Wie zuvor auch schon kletterte ich darüber und ging in die Küche, wo ich das schmutzige Geschirr zusammen sammelte und die die Spüle stellte.
Georgina fluchte hinter mir leise, doch auch sie schaffte es über das Hindernis.
„Setzen Sie sich", sagte ich und bot ihr einen Stuhl, aber nichts zu trinken an.
„Warum riecht es hier so nach Lack?", fragte sie, während sie an mir vorbei ging und mit einer Hand vor ihrer Nase wedelte.
„Falls Sie es noch nicht an den Farbflecken an mir gesehen haben ... ich streiche gerade. Oder dachten Sie, dass ich immer so herumlaufe?"
Georgina stellte ihre Tasche ab und setzte sich. „Ich war mir nicht sicher. Hätte doch gut möglich sein können. Die Jugend von heute, ist eben etwas ... offener was Stil angeht."
Ein klarer Diss.
Ich wandte mich zum Kühlschrank um, verdrehte die Augen und nahm mir eine Flasche Eistee heraus, den ich mir in ein Glas füllte. Dann stellte ich die Flasche wieder zurück und machte einen Schluck davon.
Georgina verzog den Mund. „Da ist etwas viel Zucker im Getränk. Findest du nicht, Julia?"
Trotzig trank ich das Glas nach ihrer Frage in einem Zug aus und stellte es hinter mich auf die Arbeitsfläche. „Ach, von mir aus, könnte der Eistee noch etwas süßer sein."
„Kein Wunder, dass die Schneiderin vier Zentimeter annähen musste", hörte sie murmeln, während sie zeitgleich den Kopf schüttelte.
„Sie befinden sich in meinen vier Wänden. Wenn Ihnen nicht passt, was ich trinke, dann wissen Sie, wo die Tür ist." So langsam hatte ich die Nase voll. Ich musste mir das nicht mehr gefallen lassen. Mir war schon klar, dass sie hier war, um mich endgültig rauszuwerfen. „Sagen Sie schon endlich, was Sie wollen oder verschwinden Sie wieder. Ich habe noch Besseres zu tun, als das."
Georgina schmunzelte leicht. Dann holte sie hörbar Luft und überschlug die Beine. „Ich bin hier, um mich für die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen."
Das unausgesprochenen „Was?", schien sie mir vom Gesicht ablesen zu können.
„Du hast schon richtig gehört, Julia. Ich entschuldige mich. Meine Tochter ist etwas zu weit gegangen. Ich - und das weißt du - schrecke nicht vor viel zurück, aber auch ich ziehe irgendwo die Grenze. Sich in einem Hotel in eine fremde Suite Zugang zu verschaffen, war nicht gerade ... legal." Sie unterbrach für einen Augenblick den Blickkontakt mit mir, um in ihrer Handtasche etwas zu suchen. Etwas, das sich als USB-Stick entpuppte. „Auf diesen Stick sind die einzigen Kopien der Fotografien von Pamela." Sie hielt in die Höhe und legte ihn schließlich auf den Tisch. „Er gehört dir. Mach damit, was du willst."
Also ob, sie mir einfach so die Kopien geben würde. Zudem leben wir im einundzwanzigsten Jahrhundert. Kopien befanden sich nicht nur Sticks, sondern in der Cloud, auf Smartphones, Festplatten und so weiter. Hier könnte man noch dreißig weitere Möglichkeiten aufzählen.
Ich nahm den schwarzen Stick in Augenschein. „Sie glauben doch noch nicht, dass ich Ihnen das abkaufe."
Georgina zuckte mir der Schulter. „Besser wäre es, denn es ist die Wahrheit."
„Selbst wenn es dir Wahrheit ist, warum? Warum tun sie das?"
Georgina blieb gelassen und setzte ihr gewinnendes Lächeln auf. „Weil ich hier bin, um dir etwas anzubieten."
„Mein Schweigen, gegen dieses Fotos?", war das Erste, was mir in den Sinn kam. In den Monaten, in denen ich für diese Frau gearbeitet habe, hatte ich so einiges gesehen. Für vieles davon könnte man sie vor ein Gericht schleifen.
Georgina lachte auf. „Nein. Das wäre aber eine gute Idee gewesen. Mir gefällt, wie du inzwischen denkst, Julia." Sie kramte erneut in ihrer Handtasche und zog dieses Mal eine schmale Mappe heraus, die sie auf den Tisch legte und aufklappte.
Ich machte einen Schritt auf sie zu, um einen Blick auf das Dokument zu werfen.
Georgina drehte ihren Kopf wieder zu mir. Ich sah das Funkeln in ihren Augen, als sie fragte: „Wie klingt San Francisco für dich? Nach einem Abenteuer, oder?"
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