3 - Nimbostratus
*Nimbostratus entstehen durch Aufgleitbewegung an einer Warmfront. Es bestehen zum Teil aus unterkühlten Wassertröpfchen, Eis- und Schneekristallen.
J U L I A
Es war Montagmorgen und ich stand unentschlossen in Unterwäsche vor meinem Kleiderschrank. Vielleicht hätte ich mir doch bereits gestern Gedanken machen sollen, was ich heute anziehen wollte. Schließlich arbeitete ich ab heute nicht einfach irgendwo.
Die Daily Star Redaktion befand sich sieben Subway Haltestellen von mir entfernt, weshalb ich mich nicht nur schick, sondern auch warm anziehen musste. Um einer Situation wie letzten Donnerstag zu entkommen, hatte ich mir am Wochenende einen kleinen Regenschirm besorgt, der in meine Handtasche passte.
Bei dem Gedanken an letzten Donnerstag schlich sich doch tatsächlich ein Lächeln in mein Gesicht. Wann war das letzte Mal gewesen, dass mich ein Mann auf einen Drink eingeladen hatte? Wie ich herausfand, kam die Aktion nicht ganz freiwillig von ihm, doch dennoch hatte er versucht mir seine Aufmerksamkeit zu schenken. Gewissensbisse nagten an mir. Vielleicht wäre es doch von Vorteil gewesen ihm mein Telefonnummer zu geben? Oder hatte ich richtig gehandelt?
James. Ob das wohl sein richtiger Name war? Oder hatte er ebenfalls geflunkert? Wenn ja, könnte ich es ihm nicht verübeln, schließlich hatte ich mit dem Lügen begonnen.
Aus meinen Kleiderschrank schnappte ich mir eine meiner Lieblingsjeans und einen passenden Gürtel. Als Oberteil entschied ich mich für eine weinrote Bluse, weil ich Heels in derselben Farbe besaß. Da mir langsam die Zeit davonlief, beeilte ich mich mit dem Make-Up und band meine Haare zu einen einfachen hohen Pferdeschwanz zusammen.
Am Weg zur Subway kam ich an einem Dunkin Donuts vorbei. Nach kurzem Grübeln fand ich es eine gute Idee, als Begrüßungsgeschenk meinerseits, Donuts mitzunehmen. Ein paar Pluspunkte konnten mir zu Beginn nicht schaden.
Es tummelten sich sehr viele Menschen im Underground. Gerade noch schaffte ich es in die Subway einzusteigen. Ich hatte Mühe mich auf den Beinen zu halten, so quetschte ich mich durch die Masse bis ich einen freien Platz neben einer alten Lady für mich beanspruchte.
Eine halbe Stunde später befand ich vor dem Glasgebäude auf dem in Leuchtschrift Daily Star stand. Vor dem Eingang postierten zwei Wachen. Sie kontrollierten die Ausweise der Mitarbeiter. Ich hatte meinen bereits zu Hause in die Tasche meines Mantels geschoben. Es war eine rechteckige Karte mit einer Schnur und einer Klammer daran. Man konnte ihn entweder an einer Hose, an der Tasche eines Hemdes oder um den Hals tragen. Ich hatte mich für ersteres entschieden.
Beim Eingang zeigte ich einen der Männer meinen Ausweis. Er scannte ihn mit seinem Smartphone, wartete kurz bis etwas auf seinem Display leuchtete und ließ mich schließlich eintreten.
Mehrere Menschen flitzen an mir vorbei. Einige hektisch, andere gemütlich mit einem Kaffee in der Hand. Mit dem Aufzug fuhr ich wie bei meinem Vorstellungsgespräch hoch in den vierten Stock. Mit einem "Bling" schoben sich die Türen auf. Ich atmete tief durch und versuchte dabei nicht über meine eigenen Beine zu stolpern.
Ich ging einen breiten Flur entlang. Mehrere ältere Titelblätter in Bilderrahmen schmückten die ansonsten kahlen Wände. Eine junge Frau stöckelte an mir vorbei. Sie gestikulierte wild, als sie versuchte ihrem Gesprächspartner am Telefon etwas zu erklären. Beinahe am Ende des Flurs, bog ich nach links ab und betrat einen Büroraum. Er war groß. Mehrere Tische mit Computern und Trennwänden standen parallel zueinander. Und wenn man mittendurch ging, erreicht man das Büro von Georgina Lewis. Ihre Wände bestanden aus Glas, weshalb ich ihren roten Lockenschopf schon von weitem leuchten sehen konnte.
Ich hielt weiterhin den Karton mit Donuts fest und machte mich auf den Weg zu ihr und an den Schreibtischen vorbei. Wie wild wurde auf die Tasten eingeschlagen. Die nächste Ausgabe stand kurz vor der Veröffentlichung.
Georginas Tür stand offen, doch dennoch klopft ich an. Sie sah hoch. Ein strenger Blick traf mich. Sie hob ihre Hand und deutete mir einzutreten. Georgina Lewis schloss ihr Notizblock und stand von ihrem Drehstuhl auf.
Es war das erste Mal, dass ich ihr höchstpersönlich gegenüberstand, da ich mein Vorstellungsgespräch bei einen anderen Herrn geführt hatte. Ich nahm an, dass er aus der Personalabteilung stammte.
"Ms Lewis. Es freut mich Sie kennen zu lernen. Ich heiße Julia Cornwell und bin ab heute ihre Assistent-"
"Was ist das?", unterbrach sie mich abrupt. Sie sah mit ihrer spitzen Nase auf mein Begrüßungsgeschenk.
Mir rutschte bei ihrem schroffen Ton das Herz in die Hose. Da ich mir nichts anmerken lassen wollte, schluckte ich und öffnete den Deckel der Dunkin Donuts Packung.
Missbilligend schob sie ihre Augenbrauen zusammen. "Donuts? Und was ist ... das?" Sie kam einen Schritt näher und begutachtet den einen Cupcake, den ich mir für mich selbst mitgenommen hatte. "Ein einziger Cupcake?", hackte sie nach.
Mochte sie keine Donuts? Um die Situation zu retten erwiderte ich: "Sie können ihn gerne haben, Ms Lewis."
Georgina rümpfte die Nase. "Sind der Cupcake und die Donuts vegan? Glutenfrei? Palmölfrei?"
"Ich ähm-" Mir blieb die Stimme weg. "K-keine Ahn-. Ich-ich weiß es nicht."
"Du weißt es nicht?!", herrschte sie mich an. Jetzt verstand ich wohl, weshalb man einen neuen Assistenten gesucht hatte. Ich hatte noch keine zwei Sätze mit der Frau getauscht und wäre am liebsten bereits wieder aus dem Büro geflüchtet.
Die Klatschtante sah von der Verpackung hoch in mein Gesicht. Sie schloss seufzend die Augen und rieb sich die Schläfen. "Hör zu, Cupcake. Für die Zukunft, keine mitgebrachten Speisen mehr, um sich bei mir und den Kollegen einzuschleimen. Und wenn du es doch nötig hast, dann achte auf meine angeführten Punkte."
"M-mein Name ist J-Julia", brachte ich nur abgehackt über meine Lippen. Ich wollte es verhindern, aber unwillkürlich begannen meine Hände leicht zu zittern. Georgina sah auf die zitternde Verpackung, dann sah sie mir in die Augen und nahm mir den Karton ab. Er landete zwei Meter weiter im Mülleimer.
Die leckeren Donuts ...
Mein Cupcake ...
Mein Frühstück ...
Georgina kehrte mir den Rücken um sich wieder auf ihren Platz zu setzen. Dann öffnete sie eine Schublade an der rechten Seite und legte etwas vor sich auf den Tisch, das sie in meine Richtung schob. Es war die Verpackung des neuesten iPhones. "Das ist für dich, Cupcake. Pass darauf auf und sei immer erreichbar. Meine Visitenkarte müsstest du schon bekommen haben."
Ich nickte fassungslos. Ein. Brand. Neues. iPhone. Ich hatte noch nie das neueste Modell. Es war mir nie wichtig gewesen. Hauptsache mein Smartphone erfüllte seinen Zweck.
"Hier habe ich noch etwas." Sie übergab ein Blatt Papier an mich. "Bitte überprüfe deine persönlichen Angaben noch einmal. Insbesondere deine Telefonnummer ist mir wichtig, denn wie soll ich meine Assistentin sonst erreichen?"
Nachdem ich aufmerksam meinen Personalbogen durchgelesen hatte, speicherte sich Georgina meine Telefonnummer ein. Dann bat sie mich ihr zu folgen. Als sie sagte, sie wolle mir meinen Schreibtisch zeigen, machte mein Herz einen Sprung.
Ich bekam einen eigenen Schreibtisch? Durfte ich doch schon etwas-.
Stopp. Moment.
Beinahe lief ich in Georginas Rücken, als sie stehenblieb und mit ihrer Hand auf einen freistehenden Tisch zeigte, der etwas abseits von den anderen Schreibtischen der Redakteure stand. "Hier, das hier ist dein Arbeitsplatz, Cupcake."
Ich sah auf den quadratischen Pausentisch. Drei Drehstühle standen um ihn herum. An der hinteren Ecke stand eine Thermoskanne und eine benutzte Tasse, die wohl jemand zu faul war, in die Personalküche zu bringen.
"Das ist doch ein Pausentisch oder nicht?", hackte ich nach.
Georgina schien verwundert über meine plötzliche Frage zu sein. Sie räusperte sich: "Im Büro wird nichts gegessen. Halte deinen Tisch sauber. Richte dein neues Telefon ein und warte, bis ich nach dir rufen lasse."
Sie drehte sich um, ging drei Schritte und wandte sich nochmals an mich: "Ah, Cupcake, bevor ich es vergessen. Niemand mag Arschkriecher und Klugscheißer."
Dieser letzte Satz traf mich vollkommen unerwartet, weshalb ich ihr mit offenem Mund nachstarrte, bis sich in ihrem Glasbüro verschwunden war.
Was hatte diese Frau gegen mich? Wir kannten uns noch keine halbe Stunde und schon meinte sie mich erniedrigen zu müssen. Ich hatte die Geste mit den Donuts doch nur gut gemeint! Verdammt teuer waren sie dazu auch noch gewesen ...
Erst als ich mich gesetzt hatte, merkte ich die Blicke der Anderen auf mir. Manche grinsten belustigt, andere mitfühlend.
Willkommen in der Hölle, las ich von den Lippen einer Frau, die wohl im selben Alter wie ich sein musste. Ich wandte den Blick ab und rieb mir frustriert über die Stirn. Es stand nicht außer Frage, dass ich nicht versuchen wollte das Beste aus der Situation zu machen. Jeder begann mal klein. Auch eine Georgina Lewis hatte mal klein begonnen. Es munterte mich zwar nicht auf, aber es half meiner Motivation. Schon vorher hatte man mich gewarnt, dass Georgina unterkühlt und wie Eis war. Ich musste nur versuchen eine Warmfront zu werden, um ihr Eis zu schmelzen. Ich musste versuchen Nimbostratus zu erzeugen. Eine Art Schleier, in dem ihr klar werden würde, dass man seine Mitmenschen mit Freundlichkeit behandelte. Man konnte auch mit netten Worten sein Ziel erreichen.
Wie bestellt und nicht abgeholt hockte ich nun schon seit zwei Stunden auf meinem Stuhl und wartete darauf gebraucht zu werden. Mein brandneues iPhone war inzwischen aufgeladen und bereit benutzt zu werden.
"Schönen ersten Arbeitstag, Julia!", hatte mir meine Mutter auf Whats App mit einen passenden Daumen hoch geschickt.
Niedergeschlagen von dem plötzlichen Gefühl, wie sehr ich sie vermisste, kaute ich an einen meiner Fingernägel herum. Was würde wohl meine Mutter in meiner Situation machen?
"Bewahre einen kühlen Kopf, Julia. Die Arbeit wird sich auszahlen. Du wirst schon sehen", hörte ich ihre Stimme. Ich drehte mich um, doch mir war klar, dass es bloß Einbildung war.
Der Piepton meines Smartphones riss mich aus den Gedanken. Eine neue Nachricht.
Absender: Georgina L.
> Komm in mein Büro, Cupcake. <
Ich sprang wie von einer Tarantel gestochen vom Stuhl auf. Endlich eine Aufgabe! Gäbe es nicht zu viele Augenzeugen hätte ich gerne einen kleinen Tanz aufgeführt. Ich war meiner Chefin nach ihrer Aussage von vorhin noch immer sauer und leicht aufgekratzt gegenüber, aber ich hatte mir in den letzten beiden Stunden Gedanken darüber gemacht. Ich redete mir ein, dass sie versuchte mich aus der Reserve zu locken, um zu testen, wie viel ich wohl aushalten könnte. Und da ich nach zwei Stunden, in denen sie mich ignoriert hatte, noch immer hier war, wollte sie mir endlich eine Chance geben.
"Mr Lewis?", fragte ich ins Büro. Die Augen meiner Chefin klebten förmlich am Desktop ihrer PCs, während ihre Finger über die Tastatur zu schweben schienen.
"Einen Caffe' Latte Grande mit Sojamilch und zwei Stück Kandis für mich und was auch immer du willst", orderte sie.
Blinzelnd sah ich sie an. Ich verharrte an Ort und Stelle und versuchte ihre Worte in Gedanken zu wiederholen.
Sie stöhnte auf und ich sah, wie sie die Augen verdrehte. "Besser du beginnst aufzupassen was ich dir sage. Für den Anfang würde ich dir einen Block ans Herz legen." Wie heute schon mal, öffnete sie eine Schublade an der rechten Seite ihres Tische und gab mir einen kleinen Notizblock und einen Kugelschreiber, auf dem Daily Star graviert war.
Dankend nahm ich den Block und den Kugelschreiber entgegen und notierte mir, wie eine Kellnerin, ihre Bestellung. Nun war es wohl amtlich, ich war das Mädchen für alles.
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