16 - Klareis
*Klareis ist eine Form der Nebelfrostablagerung, das sich bei einer Lufttemperatur von 0 bis minus 3 Grad durch langsames Anfrieren von unterkühlten Nebelwassertröpfchen bildet. Die oft sehr fest anhaltende Eisablagerung ist glatt, kompakt und im Allgemeinen durchsichtig oder trübungsfrei, sie hat eine unbestimmte Form und eine unregelmäßige Oberfläche.
Song zum Kapitel: Dead End von Anna Clendening
J U L I A
Und so ging das Leben weiter. Hier war ich nun. In der Gegend in der ich groß geworden war. Liverpool. Alles war wie immer, nur dass es nicht mehr meine Freunde und ich waren, die mit hoch erhobenem Kopf die Straßen umher schlängelnden, nein, es war die nächste Generation an Kinder und Teenagern. Damals gab es für mich nicht besseres, als endlich erwachsen zu werden, um tun und lassen zu können, was auch immer ich wollte. Heute dachte ich anders darüber, wog sogar die Gedanken ab, wie es wohl wäre wieder sechs zu sein und in die Schule zu starten. Schon alleine die Aussicht auf Sommerferien, wäre das Lernen es wieder wert gewesen. Heutzutage war ich schon froh, wenn ich samstags frei hatte, um die Seele baumeln zu lassen.
Eine kühle Herbstbrise wehte mir durch die Haare, als ich mich abstieß und an der Schaukel hin und her schwang. Die Ketten rasselten, die Scharniere quietschten. Schnell, sehr schnell sogar, schaukelte ich so hoch, dass es sich anfühlte, als könnte ich jede Sekunde in den trüben Himmel greifen und nach Wolken angeln.
Noch immer lagen mir Georgina Lewis Worte in den Ohren. Es lag an mir eine Wahl zu treffen. Eine, die sich positiv auf mein Leben auswirken würde und eine, mit der ich auf den Gefühlen von jemanden herumtrampeln würde. Nialls Gefühle - wie auch immer diese wohl ausschauen sollten. Falls er mich gemocht hatte, fühlte er sich nun sicherlich verletzt. Vielleicht sah er aber auch ein das es besser so war. Irgendwann hätte ich ihm erzählen müssen für wen ich arbeite. Es wäre mit jedem Tag schlimmer geworden.
Gab es denn keinen anderen Weg? Gab es denn nichts, dass ich tun konnte, um Niall nicht ans Messer liefern zu müssen und ich trotzdem ein besseres ansehen bei Georgina erringen konnte?
Nun war es also an mir herauszufinden, wie egoistisch und selbstsüchtig ich war, wie weit ich gehen würde, um eine fixe Anstellung zu bekommen. Assistentin von der Klatschlegende hin oder her ... ich wollte mehr.
Mit den Beinen bremste ich die Schaukel ab, bis ich absteigen konnte. Vom Boden hob ich meine Handtasche auf, die ich achtlos auf den kalten Schotter geworden hatte. Meine Finger fühlten sich wie Eiszapfen an. Sie waren rot und brannten leicht. Ich rieb sie aneinander, schob sie aber kurz darauf in die Taschen meines Wintermantels. In der Kälte sah ich, wie mein Atem in Rauchschwaden in den Himmel tanzte.
Es war so verdammt kalt und der Geruch von Schnee lag in der Luft. Auch wenn man behaupten möchte, dass er nach nichts roch, so war ich mir sicher, dass er es tat. So wie man auch den Regen riechen konnte. Ich konnte auch dem Sommer riechen, denn da Lag immer der Duft von Chlor in der Luft. Chloe, meine Ex beste Freundin, hatte es auch immer wahrgenommen.
Ich verließ den verlassenen Spielplatz und ging zurück zur Straße. Sie war menschenleer. Doch das war um sieben Uhr morgens nichts, das mich erschreckte.
Die Ruhe war schön und die Kulisse traumhaft. Klareis überzog die Wiese und die Bäume.
In gemächlichen Schritten erreichte ich schließlich die Bäckerei, die seit zwanzig Jahren im Besitz meiner Eltern war. Von dort war ich auch vor einer Stunde gekommen. Um vier Uhr morgens stand ich heute schon mit meinem Vater in der Küche um ihm zu helfen. Es war etwas, das ich ganz und gar nicht vermisst hatte. Ich hatte ehrlich gehofft, nicht mithelfen zu müssen, wenn ich über das Wochenende zu Besuch kam, aber wenn ich mitessen wollte, musste ich auch mit anpacken. Meine Mum hatte nur mit dem Kopf geschüttelt, doch mein Vater war da hart.
Auch wenn mein Dad es nicht offen sagt, dass er von mir enttäuscht war, wusste ich es. Er hatte immer darüber geschwärmt, dass ich eines Tages die Bäckerei übernehmen würde und anschließend meine Kinder und dann deren. Da ich ein Einzelkind war, war es für ihn klar, dass es genauso laufen würde.
Nur so wird es nie kommen. Es war einfach nichts für mich. Es machte mich nicht glücklich.
Ich hatte ihn mit meinen Plänen, als Redakteurin für eine Zeitung zu arbeiten, vor den Kopf gestoßen. Ganze fünf Wochen hatte er kein Wort mit mir geredet. Auch nicht, wenn wir um vier Uhr morgens in der Küche standen.
Schon durch die große Fensterfront, sah ich, wie sich die Kunden auf die Füße stiegen, um das frische Brot zu bekommen. Beim Eintreten in den Laden klingelte ein Glöckchen. Einzig alleine meine Mutter schenkte mir ein flüchtiges Lächeln, bevor sie die nächste Kundin um ihren Wunsch fragte.
Ich schlängelte mich an den Menschen vorbei und zog schon den Mantel aus, als ich hinter die Theke trat. Ezra, eine Frau im mittleren Alter, die schon ewig und fünf Tage hier arbeitete, schnitt gerade einen Laib Brot in Scheiben auf. Sie war etwas pummeliger und kam ursprünglich aus Deutschland, was man auch an ihrem Akzent merkte.
Gerade der Kundenansturm morgens war am schlimmsten, da sich in der Nähe keine weitere Bäckerei befand und der nächste Supermarkt erst um kurz vor acht seine Türen aufsperrte.
Im Personalraum, legte ich Mantel und Handtasche ab, band mir mein Haar zu einem Zopf und schnappte mir meine Schürze, die mehr weiß vom Mehl war, als das originale Dunkelblau. Schon stand ich im Verkaufsraum und half mit. Den Großteil der Gesichter kannte ich mit Namen. Während ich bediente, hörte ich oft, wie getuschelt wurde, weil ich wieder im Laden stand. Mein Umzug nach London war nicht im Stillen verlaufen. Meine Mum war so stolz auf mich, dass sie es beinahe jeden Kunden auf die Nase band. Von den hochnäsigen Damen in der Umgebung wurden meine Zukunftspläne nur belächelt. Es war, als hätten sie es sich ausgemacht, dass aus mir nichts werden würde und meine Rückkehr schien ihnen der Beweis zu sein.
Da meine Miene von Minute zu Minute immer finsterer wurde, als das Getuschel weiter ging, stupste mich Ezra mit ihrer Hüfte an. Überrumpelt sah ich zu ihr, doch sie zwinkerte mir nur zu und das trieb mir ein Lächeln ins Gesicht.
Zusammen arbeiteten wir Kunde um Kunde ab, bis der Laden leer war und sich der Druck legte. Zu dritt waren frische Brötchen schnell im Ofen und von hinten kam Dad mit neuem Brot. Mum und Ezra gingen eine kurze Pause machen und vertrauen mir damit den Laden an. Ich bediente einen Mann und fegte anschließend den Boden.
Gerade brachte ich den Besen zurück an seinen Platz, als ich das Glöckchen an der Tür hörte. Bevor ich der Kundschaft Beachtung schenkte, wusch ich mir meine Hände und trocknete sie ab.
"Guten Morgen, was kann ich-", abrupt stoppte ich mitten im Satz. Meine Hände, die auf der Oberfläche der Verkaufstheke lagen, ballten sich zu Fäusten.
Chloe sah mich ebenfalls überrascht an. Sie sah aus wie immer. Ihr schwarzes Haar fiel ihr bis zur Hüfte, das Make-Up betonte ihre blauen Augen und ich könnte schwören, dass sie sogar noch etwas abgenommen hatte.
"Ich dachte, du bist in London", hörte ich sie sagen. Sie zog eine Augenbraue hoch.
"Steht irgendwo geschrieben, dass ich meine Eltern nicht besuchen darf?", keifte ich zurück.
Chloe zuckte mit der Schulter. "War doch nur eine Frage. Beruhig dich, Jules." Jules - der Spitzname den sie mir in der Vorschule verpasst hatte. Sie warf mit einem schnippischen Gesichtsausdruck zu. "Willst du mich nicht endlich fragen, was ich bekomme? Brandon wartet auf mich im Wagen."
Bei der Erwähnung meines Ex-Freundes, mit dem ich sie im Bett erwischt hatte, begann mein Blut zu brodeln. Dieses Miststück hatte wirklich die Nerven ihn zu erwähnen.
Es kostete mich alle Mühe nicht über die Theke zu klettern und ihr nicht die falschen Haare vom Kopf zu reißen. Stattdessen sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen: "Schlampen wie du und Arschlöcher wie er, werden in diesem Laden nicht bedient."
Chloe schüttelte den Kopf: "Bist du noch immer wütend? Ich habe dir doch von Anfang an gesagt, dass er nichts für dich ist."
"Klar", schnaubte ich verächtlich. "Aber für dich natürlich schon. Es ist ja nicht so, als wäre wir beste Freunde gewesen und-"
"Du wolltest doch sowieso gehen, warum machst du jetzt so ein Drama daraus? Komm darüber hinweg", schnitt Chloe mir das Wort ab.
Wir starrten und böse an. "Los!" Ich zeigte mit dem Finger auf die Tür. "Verschwinde und richte Brandon aus, dass er in der Hölle schmoren soll. Ihr zwei Lügner und Verräter passte eh viel besser zusammen!"
Chloe murrte noch ein: "Du wirst es nie zu etwas schaffen!" Doch sie ging und ließ mich und mein kochendes Blut abkühlen. Mum legte mir eine Hand auf den Rücken. "Ist was passiert? Dein Gesicht glüht ja!"
Ja, es glühte vor Zorn.
"Chloe war hier", merkte ich leise an und Mum nickte. Sie kannte die Geschichte. Die ganze. Irgendjemanden musste ich schließlich mein Herz ausschütten, wenn schon keine beste Freundin da war, mit der ich reden konnte. "Ich gehe nach oben."
Am Personalraum vorbei führte ein Flur, an dessen Ende eine Tür war, die nach oben führt in unsere Wohnung. Der Arbeitsweg führte meine Eltern genau eine Treppe nach unten, was so gesehen eigentlich nicht schlecht war, nur macht es das Haus kleiner. Oben die Räume waren allesamt kleiner, als die unten.
Nach einer langen und heißen Dusche, in dem ich mich von Mehl und dem Geruch der Backöfen befreite, ließ ich mich auf mein Bett fallen und nahm mein Smartphone in die Finger. Morgen Abend fuhr mein Zug zurück nach London und am Montag erwartete Georgina von mir eine Antwort. Entweder ich gab ihr alle Informationen, die ich über Niall wusste und erzählte ihr wie ich ihn kennengelernt hatte und was ich mit ihm gemacht hatte - sie versprach mir, mich dabei nicht namentlich zu erwähnen und mir eine Beförderung zu geben - oder aber sie würde sämtliche Bilder ins Netz hochladen und mich damit an den Pranger stellen und meinen Job einer anderen geben. Das was sie hier trieb, war ganz klar eine Erpressung!
Wenn ich nicht dafür sorgte, dass Georgina mich endlich respektierte und ernst nahm, hatte das hochnäsige Pack und Chloe gewonnen. Durch Georgina könnte aus mir etwas werden, ihre Methoden zum Erfolg lasse ich einfach mal beiseite, aber das, was sie tat, funktionierte. Sie machte ihren Job gut und dafür wurde sie von der Presse gefeiert und von den Promis gefürchtet.
Ich durfte diesen Job nicht verlieren!
Egal was es kostete, ich musste dranbleiben. Musste bei Georgina bleiben und es schaffen.
Ich würde es schaffen.
Ganz bestimmt sogar. Koste es, was es wolle.
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