Kapitel 4 | Manson
Das Echo der Schulklingel war schon lange verklungen, als ich mich endlich dazu aufraffen konnte von der Mauer aufzustehen. Wie festgewachsen hatte ich hier verweilt, selbst nachdem alle anderen Schüler in den Unterricht gegangen waren. Doch das Gespräch mit Noah wollte mir einfach nicht aus dem Kopf gehen und ich konnte nicht anders als die Geschehnisse wieder und wieder Revue passieren zu lassen. Dabei kam ich immer wieder zum gleichen Schluss. Diese Situation war von vorne bis hinten abgefuckt.
Obwohl es vielleicht auf den ersten Blick anders aussah, blieb mir keine echte Wahl. Es war klar, was zu tun war, wenn ich nicht wollte, dass mein Ruf vor aller Augen durch den Dreck gezogen wurde. Auch wenn mir der Ruf meiner Mutter vollkommen egal war, wehrte sich mein Ego krampfhaft dagegen unberechtigterweise als Vergewaltiger abgestempelt zu werden. Trotzdem hasste ich die einzige Möglichkeit, die mir blieb, um das zu verhindern. Auch wenn ich zugeben musste, dass Noahs Zusicherung seiner Unterstützung mich ein wenig beruhigte. Denn mit einer Sache hatte er recht. Selbst wenn ich nicht in London war, konnte ich mich darauf verlassen, dass er hinter mir stand. Dass er hinter der ganzen Sache steckte, war unmöglich. Oder doch nicht?
Ich schüttelte den Kopf wie, um den Gedanken abzuschütteln und bewegte mich gemächlich auf die Steinstufen zu, die zur Eingangspforte führten. Ich war nicht sonderlich erpicht darauf, irgendwem außer meinen Freunden zu begegnen. Neugierige Blicke hatten mich verfolgt, seit ich einen Fuß auf das Schulgelände gesetzt hatte und obwohl sie mir für gewöhnlich nichts ausmachten, fiel es mir heute merklich schwerer, sie einfach zu ignorieren. Normalerweise erntete ich Aufmerksamkeit von Verehrern oder Neidern, wenn ich mich durch die Gänge bewegte. Mich beschlich die Ahnung, dass sich, das nun schlagartig ändern würde. Zu spät zu kommen, würde meinem Fall vermutlich nicht helfen, doch das könnte mich an diesem Morgen nicht weniger interessieren.
Mit mehr Schwung als beabsichtigt stieß ich die schwere Eingangstür auf und fand den Flur dahinter glücklicherweise leer vor. Momentan war ich dankbar für jede Minute, in der mich niemand angaffte. Meine Sohlen quietschten auf dem Boden, als ich mich auf den Weg zu Mr. Fitz' Englischunterricht machte.
Als ich um die erste Ecke biegen wollte, blieb ich jedoch abrupt stehen. Einige Meter von mir entfernt lief eine kleine Blondine im Gang auf und ab, den Blick schweifend, als würde sie jemanden suchen. Ich fürchtete, ich wusste auch wen.
„Manson", ihre Stimme trieb mir beinahe die Galle die Kehle hinauf. Abrupt fuhr sie ganz zu mir herum, kaum hatte sie mich ins Auge gefasste, als wäre ich sie das Raubtier und ich ihre Beute. Eine Vorstellung, die völlig falsch war, wenn ich das mal so anmerken durfte. Sah die Situation scheiße für mich aus? Ja. Würde ich mich deshalb geschlagen geben? Sicher nicht.
„Linette", gelassen schlenderte ich auf sie zu, auch wenn ich am liebsten einfach an ihr vorbeigegangen wäre. Meine Mutter würde mir vermutlich die Hölle heiß machen, wenn sie erfuhr, dass ich sie nicht einfach ignorierte. Doch ich weigerte mich den Schwanz einzuziehen und diesem Mädchen das Gefühl zu geben, dass sie die Oberhand hatte.
„Was gibt's?", nonchalant strich ich meine dunkle Uniformjacke glatt, als würde ich unsichtbare Knicke ausbügeln. In Gedanken begann ich bereits herunterzuzählen. 3 ... 2 ...
Bevor ich bei eins einkommen konnte, hatte sie die Distanz zwischen uns geschlossen und mich am Arm gepackt: "Komm mit. Ich will mit dir im Privaten reden."
Ich musste mit mir kämpfen, um das Grinsen zurückzuhalten, was sich auf meine Lippen zu schleichen drohte. Viel Aufmerksamkeit hatte ich Linette nicht geschenkt. Dafür hatte sie mich zu sehr gelangweilt. Trotzdem war mir nicht entgangen, dass das Schlimmste, was man ihr antun konnte, war ihr keine Aufmerksamkeit zu schenken. Sie verzehrte sich regelrecht danach beachtet zu werden und war gleichzeitig fast schmerzhaft schlecht darin, ihre Emotionen zu verbergen.
So entging mir die Röte nicht, die in ihre Wangen stieg, als sie an meinem Ärmel zog und mich in irgendeine Richtung davon zu ziehen versuchte. Wenn sie dachte, dass ich nochmal freiwillig mit ihr irgendwohin verschwand, war sie dümmer als ich erwartet hatte.
„Lass mich nicht kurz überlegen", ich tippte mir für einen Moment nachdenklich gegen das Kinn, bevor ich den Kopf senkte, um ihr in die Augen sehen zu können: "Wie wäre es mit Nein?"
Da sie mir sowohl was die Größe als auch die Kraft betraf, unterlegen war, fiel es mir leicht mich aus ihrem jämmerlichen Griff zu befreien.
„Aber, Mans", setzte Linette mit vor Verzweiflung triefender Stimme an, doch ich rollte nur demonstrativ mit den Augen. Gott, ich war echt ein Arschloch, aber für mich gab es keinen Grund meine Gefühle in Bezug auf dieses Mädchen zu verbergen. Dass sie jetzt einen Spitznamen benutzte und glaubte mit mir reden zu können, als hätte sie mich nicht in aller Öffentlichkeit als Vergewaltiger hingestellt, hätte mich sprachlos zurückgelassen, wenn ich jemand anderes wäre. Glücklicherweise war ich das nicht.
„Kein Aber. Du hast mich brav neben deinen Daddy gestellt und gehorsam genickt, als deine Familie mich vor aller Öffentlichkeit mit einem gefälschten Video als Vergewaltiger betitelt hat", meine Stimme zitterte vor zurückgehaltener Wut gefährlich: "Dein Anblick macht mich krank und wenn ich noch ein Wort aus deinem Mund hören muss, kommt es mir hoch."
Es interessierte mich nicht, dass umliegende Klassenzimmertüren offen stehen könnten. Genauso wie es mich nicht interessiert, ob meine Worte sie verletzen. Jegliches Mitleid, das ich für sie gehabt haben könnte, war verpufft, als meine Mutter mir das Video gezeigt hatte. Wenn es nach mir ging, konnte Linette gerne in die Hölle zurückkehren, der sie offensichtlich entsprungen war.
„Das war doch gar nicht meine Idee", flüster-schrie sie, als ich Anstalten machte mich an ihr vorbeizuschieben. Offensichtlich war sie selbst nicht sonderlich erpicht darauf, dass jemand mitbekam, was sie zu sagen hatte.
Ein ersticktes Lachen entglitt meiner Kehle, bevor ich es zurückhalten konnte: "Ja, ich weiß."
„Was? Woher?", sie sah so ungläubig aus, dass ich am liebsten ein Foto geschossen hätte.
„Weil ich im Gegensatz zu dir nicht dämlich bin", ein einziger Schritt in ihre Richtung reichte, um mich bedrohlich über ihr aufzubauen: "Ich weiß, dass die Idee nicht von dir kam. Du bist nicht nur eine armselige Lügnerin, sondern auch auf das erstbeste Angebot angesprungen, dass dir gemacht wurde, als dir klar wurde, dass ich dich nicht will."
Sie taumelte zurück, als hätte ich sie geschlagen. Dabei war ich mir sicher, dass ihr die Erkenntnis, dass ich keine ernsthafte Beziehung mit ihr anstrebte, bereits selbst gekommen war. Spätestens als sie aufgewacht war und mich nicht neben sich vorgefunden hatte. Natürlich hatte ich ihr nie Hoffnungen darauf gemacht, doch offensichtlich war Linette desillusionierter, als ich erwartet hatte.
Die Blondine reckte ihr Kinn und blickte mich mit vorgeschobenem Kinn an: "Das war die Idee meines Vaters."
Ich schüttelte bloß den Kopf. Ihr Vater mochte deutlich gerissener sein als seine Tochter, doch ich glaubte für keine Sekunde, dass er dahinter steckte. Er mochte auf die Idee angesprungen sein, als Linette sie ihm unterbreitet hatte. Auf der Party war er jedoch bestimmt nicht gewesen und somit musste irgendwer anders das Video angefertigt und anschließend geschnitten haben, wie es ihm passte. Die Idee stammte zweifellos von dieser Person. Zu blöd, dass die halbe Schule dafür infrage kam.
„Wenn du das sagst", ich machte eine abwehrende Handbewegung. Je weniger sie von meinen Vermutungen wusste, desto besser. Im Gegensatz zu ihr ließ ich mir nicht so einfach in die Karten zu schauen. Dafür hatte ich viel zu oft mit Bullshit zu tun. Wenn auch meistens mit meinem Eigenen.
Ich schob mich an ihr vorbei und setzte mich wieder in Bewegung, um endlich in den Unterricht zu gehen. Die verächtlichen Blicke meiner Mitschüler waren mir dann doch lieber als jegliches Gespräch mit Linette.
Kaum hatte ich zwei Schritte gemacht, erklang ihre nervtötende Stimme zu meinem Leidwesen ein weiteres Mal: "Sei mit mir zusammen und ich nehme alle Anschuldigungen öffentlich zurück."
Ich kam so abrupt zum Stehen, dass meine Schuhe ein lautes, unangenehmes Geräusch auf den Fliesen hinterließen. Ohne mich umzudrehen, sagte ich: "Sag das nochmal."
„Ich ...", setzte sie unsicher an, bevor sie sich räusperte und dann mit fester Stimme wiederholte: "Ich nehme alles zurück, wenn du zustimmst mit mir zusammen zu sein."
Nun drehte ich mich doch zu ihr um. Einige stille Sekunden lang starrte ich sie an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen. Mein Herz schlug wütend in meiner Brust, während mir das Blut heiß vor Wut durch die Adern rauschte. Rote Flecken bildeten sich am Rande meines Sichtfeldes, als sie mich mit gereckter Nase und vor der Brust verschreckten Armen ansah. Sie glaubte wirklich daran, dass sie mich erpressten konnte. Nein, sie glaubte es nicht nur. Sie war sich sicher mich in der Hand zu haben. Dabei wusste sie nicht einmal, welches Damoklesschwert dank der Drohung meiner Mutter über meinem Kopf schwebte.
Ich wollte zweifellos nicht nach Cinder Bay und wenn sich eine andere Lösung präsentieren würde, würde ich sie dankend mit beiden Händen ergreifen. Doch dieses Angebot würde ich sicher nicht annehmen. Da verrottete ich lieber für den Rest meines Lebens in dieser langweiligen Kleinstadt. Allein der Gedanken, mit ihr zusammen zu sein, drohte bereits meinen Schwanz verschrumpeln und abfallen zu lassen.
„Du hast echt einen Schaden, Mädchen", ein tiefes Grollen lag in meiner Stimme, als ich ihr die Worte entgegenschleuderte: "Ich würde dich nicht mal mehr mit einer Stange aus 10 Metern Entfernung anfassen. Selbst wenn du die letzte Frau auf diesem Planeten wärst."
„Das meinst du nicht ernst", sie verschränkte die Arme fester vor der Brust, wirkte dabei aber eher, als würde sie sich selbst umarmen wollen.
„Todernst", war das Einzige, was ich dazu zu sagen hatte.
„Ich werde dir das Leben zur Hölle machen", rief sie mir hinterher, doch ich hatte mich bereits zum Gehen gewendet. Dieses Mal ließ ich nicht zu, dass ihre Worte ihr erneut meine Aufmerksamkeit einbrachten.
Stattdessen schallte mein Lachen durch den Flur: "Viel Spaß bei dem Versuch."
Ich machte lediglich eine abwinkende Handbewegung in ihre Richtung, während ich um die letzte Ecke bog, die mich noch von Mr. Fitz' Klassenzimmer trennte.
Offensichtlich hatte sie keine Ahnung, welch eine Hölle mein Leben bereits war. Vor ihr hatte ich keine Angst und ihre Drohung brachte mich lediglich auf den Gedanken, dass für dieses Schauspiel etwas Popcorn angebracht wäre. Nein, Angst machte mir die Person, die Linette als Schachfigur für ihr eigenes Spiel nutzte. Mir blieb kein Zweifel daran, dass der Unbekannte nicht fertig mit mir sein würde bis ich den Vergewaltiger – Stempel auf ewig aufgedrückt hatte.
Linettes Vater würde dabei vermutlich unbewusst zu seinem Komplizen werden. Auch wenn ich meiner Mutter ungern recht gab, war mir nicht entgangen wie gerne er unsere Familie bluten sehen wollte. Das hier war der perfekte Anlass dafür meine Mutter ein für alle Mal zu vernichten.
Ich blieb also bei dem, was ich Noah bereits gesagt hatte. Meine Entscheidung stand fest. Auch wenn sie mich alles andere als glücklich machte. Fürs Erste war es besser die Anwälte meiner Mutter die Schlammschlacht mit Linettes Vater austragen zu lassen. So konnten mir mein ‚loses Mundwerk' wie meine Mutter es gerne nannte – offensichtlich hatte die Frau bloß keinen Humor – wenigstens keinen Strich durch die Rechnung machen. Aus Cinder Bay heraus würde ich mit Noahs Hilfe so gut es ging herausfinden, wer dahinter steckte. Vielleicht half mir etwas Abstand dabei die Sache neutraler zu sehen.
Zumindest war es das, was ich mir einredete, als mir die Finalität dieser Sache klar wurde. Ich würde zum ersten Mal seit Jahren nach Cinder Bay zurückkehren. Eine Stadt, in der nichts und niemand auf mich warteten.
So Long, London.
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