Kapitel 3 | Manson
„Arschloch", brüllte ich dem Taxifahrer hinterher, der geradewegs durch die riesige Pfütze neben mir. Gerade noch so war es mir gelungen reflexartig aus dem Weg zu springen und damit einer verfrühten Dusche zu entgehen. Drecksregen! Die einzige Sache, die an Cinder Bay besser war als an London, war das Wetter. Vermutlich pisste es dort nicht bereits seit letzter Nacht als hätte Gott eine Blasenschwäche.
Aber als wäre das Grund genug, um mich dort hinzulocken. Ich meinte, was ich meiner Mutter gesagt hatte. Es war wahrscheinlicher, dass die Hölle zu fror, als dass ich an diesen Ort zurückkehrte. Seit Jahren hatte ich kaum noch Kontakt mit meinem Vater und wenn ich nach mir ging, würde ich mich nicht einmal freiwillig in die gleiche Zeitzone begeben wie er. Und nun sollte ich bei ihm leben? Sehe ich aus als hätte ich einen Clown gefrühstückt oder wieso will mich heute jeder verarschen?
Mein Blick wanderte von rechts nach links, als ich mit ihm die Autos verfolgte, die auf der Straße an mir vorbeihuschten. Obwohl mich nur noch wenige Meter von der Privatschule trennen, zu der ich sonst chauffiert wurde, könnte meine Laune nicht mieser sein. Nachdem der schwarze Aston Martin, der mich sonst pünktlich zur Schule brachte, heute Morgen nicht vor dem Penthouse gewartet hatte, war mir eins klar geworden. Meine Mutter hatte ihre Drohung ernst gemeint und sie, kaum war ich eine Minute aus ihrem Büro verschwunden, in die Realität umgesetzt.
Um einen Besuch beim Direktor nicht zusätzlich ihrer mentalen Lister meiner Vergehen hinzuzufügen, war ich also notgedrungen in die U – Bahn gestiegen. Die schlimmste Erfahrung meines Lebens. Wenn ich nie wieder neben einem halbnackten Mann mit Rauschbart, der mich verdächtig an einen nuttigen Weihnachtsmann erinnerte, sitzen musste, wäre das immer noch zu früh. Als wäre das nicht qualvoll genug gewesen, war ich in der Bahn wohl in etwas Klebriges gewesen, was entweder Apfelsaft oder Pisse war, und mich nun bei jedem Schritt an diesem Albtraum erinnerte. Bei der Erinnerung während mir beinahe eine Reihe von Wörtern über die Lippen gerutscht, die mir bei neunzig Prozent meiner Lehrer Nachsitzen beschert hätten.
Kaum hatte ich eine passende Lücke zwischen den Autos gefunden, huschte ich über die Straße und verfluchte mich dafür nicht einfach geschwänzt zu haben. Doch ich wollte nicht erfahren, welche Hölle sich meine Mutter als Nächstes einfallen ließ.
Bei den Schultoren angekommen, richtete ich die dunkle Weste, die zur Uniform der Privatschule gehörte – und mich nebenbei bemerkt phänomenal aussehen ließ – und fuhr mir mit einer Hand durch das rabenschwarze Haar. Mich brachte man nicht aus der Fassung. Und wenn doch, würde ich es mir zumindest nicht anmerken lassen. Diese Regel hatte ich von Kindesbeinen an perfektioniert.
Nur deshalb gelang es mir an diesem Scheißtag erhobenen Hauptes über das Schulgelände auf den Eingang zuzuspazieren, als hätte mir Linette mit ihren Lügen nicht vor aller Welt die Pistole auf die Brust gesetzt. Gespielt gelangweilt warf ich einen Blick auf die dunkle Omega an meinem Handgelenk. Ich war nicht einmal so viel später, als für gewöhnlich. Das ausgerechnet an einem Tag, an dem ich mich am liebsten in irgendeinem leeren Klassenzimmer mit meinen Jungs betrinken oder irgendeine Prügelei anfangen würde. Ist mir egal was von beidem, solange es mir half diese beschissene Situation zu verdrängen.
„Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?", Noahs Stimme war das Erste, was ich vernahm, bevor ich ihn aus dem Augenwinkel auch schon auf mich zukommen sah und den Kopf vom Ziffernblatt hob, auf das ich gedankenverloren gestarrt hatte.
„Was meinst du?", fragte ich, während ich zu ihm schlenderte. Noah war womöglich der Einzige, dessen Anblick ich heute ertragen könnte.
„Du schaust, als würde du am liebsten jemanden verprügeln", erklärte er schulterzuckend, als er vor mir zum Stehen kam: "Bei dem, was ich gesehen habe, ist das aber vermutlich auch angebracht. Also, wem polieren wir zuerst die Fresse?"
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, ließ er die Knöcheln knacken.
Obwohl mir bis vor einer Minute danach zumute war, huschte mir bei seinen Worten ein kleines Grinsen über die Lippen. Wenn es einen meiner Freunde gab, der mir bei einem Kampf den Rücken stärkte, war es Noah.
„Niemandem", presste ich hinter zusammengebissenen Zähnen hervor: "Fürs Erste zumindest."
Was ich tun würde, wenn ich Linette hier irgendwo entdeckte, konnte ich allerdings nicht sagen. Nur, dass es vermutlich nichts Gutes sein würde.
„Ich kann es nicht fassen, dass sie wirklich öffentlich solche Lügen über dich verbreitet hat", stieß Noah aus und fuhr sich mit einer Hand durch die dunklen Strähnen, die ihm in die Augen zu hängen drohten: "Entweder ist sie sehr mutig oder einfach nur sehr dumm. Ich bin noch nicht sicher, was von beidem es ist."
Für einen Moment tippte er sich nachdenklich ans Kinn, während wir auf eine niedrige Mauer in der Nähe der Eingangstür zugingen. Dabei entgingen mir nicht die Blicke meiner Mitschüler, die mich unverhohlen anstarrten. Offensichtlich hatte sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet. Fantastisch!
„Das ist nichts als Dummheit in ihrer reinsten Form", beantwortete ich seine Frage, ohne groß darüber nachzudenken. Langsam ließ ich mich auf den zusammen gemauerten Stein sinken und stützte mich mit den Ellenbogen auf meinen Oberschenkeln ab: "Dieses Mädchen ist die Verkörperung von Verzweiflung."
Erneut verfluchte ich mich dafür, das nicht vorher erkannt zu haben. Natürlich hatte ich gewusst, dass sie mir bereits seit Wochen hinter rannte. Trotzdem hätte ich nie vermuten können, dass wir auf die Idee kommen würde, eine fucking Vergewaltigung zu faken. Bei dem Gedanken breitete sich eine unangenehme Hitze über meinen ganzen Körper aus, brodelte bis in meine Fingerspitzen und heizte meine Wut an. Meine Kiefer verspannten sich schmerzhaft. Möglicherweise steckte ein Funken Wahrheit in den Worten meiner Mutter. Hatte jemand Linette die Idee geschickt? Wie konnte sonst so plötzlich und rein zufällig ein passend geschnittenes Video auftauchen? Sie selbst konnte es offensichtlich nicht gemacht haben.
„Ja, das wird es sein", stimmte Noah nickend zu, während er sich neben mich sinken ließ und die langen Beine ausstreckte: "Schließlich können wir alle bezeugen, dass sie sich schon vorher pausenlos an dich rangemacht hat. Am Abend der Party hat sie dir schon, bevor wir überhaupt an den Alkohol ausgepackt haben, praktisch den Gürtel aus der Hose zu ziehen versucht. Und letztendlich war sie es, die dich aus dem Raum gezerrt hast, als du dich endlich auf ihr stundenlanges Geflirte eingelassen hast. Wären nicht so viele Leute anwesend gewesen, hätte die sich doch sogar locker vor uns auf deinen Schwanz gesetzt, wenn du es zugelassen hättest."
Er zog den Saum seiner eigenen Uniformjacke zurück und zog eine Zigarettenschachtel aus seinem Hosenbund.
„Das ist alles so absurd", murmelte er, während er mir die Packung hinhielt. Ich schüttelte jedoch nur den Kopf, woraufhin er mit den Schultern zuckte und sich stattdessen selbst eine Zigarette zwischen die vollen Lippen klemmte.
„Ich weiß", erwiderte ich gedankenverloren: "Einfach abgefuckt."
Mit einem Klicken seines Feuerzeuges zündete er die Zigarette an, zog einige Sekunden lang kräftig daran und stieß den Rauch wieder aus, als er erneut die Stimme erhob: "Was willst du jetzt machen? Wir wissen beide, dass sie lügt, aber das zu beweisen wird nicht so einfach. Selbst für die Anwälte deiner Mutter. Falls sie dir hilft."
Durch den Rauch konnte ich erkennen, wie Noah den Kopf in meine Richtung wandte und mich verstohlen musterte.
„Wird sie nicht", ich ließ den Kopf in den Nacken zurückfallen und sog scharf die Luft ein.
„Was?", Noahs Augen weiteten sich, während er den Rauch mit der Hand weg fächerte, um mich klar ausmachen zu können. Seine Augen huschten über mein Gesicht, als würde er es nach einer Lüge absuchen: "Wie meinst du das?"
„Es gibt ein Ultimatum", bei dem Gedanken verzog ich instinktiv das Gesicht. Alleine die Worte zu denken war die reinste Folter. Geschweige denn sie auszusprechen. Noch immer konnte ich nicht ganz glauben, dass sie mich tatsächlich vor solche eine Wahl stellen würde.
„Entweder ich gehe zu meinem Vater nach Cinder Bay, verhalte mich dort wie der brave Kleinstadtloser und lasse sie hier alles regeln oder ich bleibe hier und sie entzieht mir alle Mittel. Sowohl ihre Anwälte und ihr Geld, als auch jede andere Hilfe ihrerseits. Kurz gesagt, ich bin am Arsch."
„Verdammte Scheiße", stieß Noah kopfschüttelnd aus. Mit einem Finger schnippte er die noch immer vor sich hin glimmende Zigarette zur Seite und zertrat sie mit seinen dunklen Boots.
„Könnte man so sagen", erwiderte ich, während meine Laune immer weiter in den Keller sank.
Einige Sekunden lang schwiegen wir beide, hingen unseren Gedanken nach. Noah war es, der zuerst die Stille zerbrach: "Und? Hast du schon entschieden, was du tun willst? Gehst du nach Cinder Bay oder bleibst du hier und riskierst es?"
„Ich weiß es noch nicht", erwiderte ich seufzend. Meine Gedanken kreisten um diese Frage, seit meine Mutter mich vor die Wahl gestellt hatte. Trotzdem war ich bisher zu keiner Lösung gekommen, bei der ich nicht am Arsch wäre.
Einerseits würde ich auf keinen Fall zu meinem Vater nach Cinder Bay zurückkehre. Dafür war seit dem letzten Mal zu viel passiert. Zu viel Zeit vergangen. Innerlich wusste ich, dass dort all die Jahre niemand auf mich gewartet hatte. Dass ich vor dem Nichts stehen würde, wenn mich tatsächlich für Cinder Bay entschied. Andererseits war ich mir genauso im Klaren darüber, dass meine Mutter nicht scherzte. Wenn ich hier blieb, stände ich genauso alleine da wie in Cinder Bay. Zwar hatte ich hier auch meine Freunde, würde dafür aber auch zur neuen Lieblingsattraktion der Londoner High Society werden. War ich dazu bereit? Und würde ich mich überhaupt selbst davor bewahren können völlig ungerechtfertigt, als Vergewaltiger verurteilt zu werden? Selbst wenn, wäre mein Ruf vermutlich für immer dahin. Egal, wofür ich mich entschied. Bei einem war ich mir sicher. Für mich würde das eine Nullnummer werden.
„Ich sage das nicht gerne, aber vielleicht wäre es wirklich besser, wenn du tust, was deine Eltern verlangen und für eine Weile verschwindest", meinte Noah schulterzuckend: "So können sie alles regeln und du läufst keine Gefahr in noch mehr Schwierigkeiten geraten. Wenn Linettes Lügen aufgedeckt wurden, kannst du einfach zurückkommen und alles wird, wie es einmal war."
Ich presste die Kiefer so fest aufeinander, dass sie zu schmerzen begannen: "Dann sieht es aus, als würde ich mich verstecken und alle werden es als Zugeständnis sehen. Außerdem bekommt so das Arschloch, das dieses Video gefaked hat, was es will. Dass ich verschwinde. Und aus Cinder Bay kann ich nicht herausfinden, wer es war."
„Ach nein?", Noah legte den Kopf grinsend schief: "Als hättest du nicht genug Augen und Ohren hier."
Mit einer Hand fuhr er an sich auf und ab: "Sehe ich aus, als würde ich dich im Stich lassen? Und Linc und Trevor? Wir stehen alle auf deiner Seite und können helfen die Person zu finden, die dafür verantwortlich ist, auch wenn du nicht hier bist. Wenn du willst, kannst du jeden fertig machen, egal wo du dich auf der Welt heraustreibst. Aber dafür musst du die Macht behalten, die du durch deine Mutter hast. Wenn du ihre Unterstützung verlierst, wird es schwieriger. Nicht unmöglich, aber immer noch zu einem Problem. Vor allem, wenn sie allen klarmachen sollte, dass sie nicht mehr auf deiner Seite steht. Dann bist du vogelfrei für alle, die noch eine Rechnung mit dir offen haben."
Einige Sekunden lang starrte ich in den blauen Sommerhimmel über mir und verfluchte sie alle. Meine Mutter. Meinen Vater. Linette. Mich selbst dafür, dass ich auf sie hereingefallen war. Und das Arschloch, das mich mit aller Kraft aus dem Weg räumen wollte. Denn ich zweifelte keine Sekunden daran, dass sie darauf niemals alleine gekommen wäre. Es musste jemand sein, der mich kannte. Meine Stärken und die Schwachstellen in meinem Auftreten. Ich würde vorschlagen, dass du rennst, Verräter. Denn wenn ich dich in die Finger kriege, werde ich dich ruinieren bis du dich davon nie wieder erholst.
„Dann ist klar, was ich tun muss, nicht wahr?"
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