Kapitel 1 | Manson

M a n s o n

Es war, als wäre ein Laster über meinen Kopf gedonnert, als ich meine schweren Lider langsam aufschlug. Fuckkkk! 
Für einen Moment verschwamm meine Sicht und ich blinzelte mehrmals, bevor meine Sinne ihren Streik aufgaben. Das grelle Licht, das von oben auf mich hinab schien, machte meine Kopfschmerzen jedoch nur noch schwerer auszuhalten. Verdammter Alkohol.

Mit einer Hand fuhr ich mir übers Gesicht und stieß ein genervtes Seufzen aus. Ich brauchte eine Kopfschmerztablette. Dringend. Sonst gingen meine Chancen darauf, diesen Tag einigermaßen gut gelaunt zu verbringen, gegen null. Wie schnell die Euphorie der vergangenen Nacht doch vergehen konnte, wenn der Einfluss des Alkohols nachließ, war immer wieder erstaunlich.

Langsam versuchte ich mich auf meine Ellenbogen hoch zu stützen. Dabei vergruben sich meine Hände in etwas Weichem und ich ließ den Blick durch den Raum wandern, den ich jetzt erst richtig wahrnahm. Meine Finger hatten sich in den samtigen Fasern eines Teppichs verfangen, der vor der Party vermutlich einmal leuchtend weiß gewesen sein musste. Nun hatte irgendwer einen riesigen gelben Bierfleck auf der einen Seite hinterlassen, während sich dunkle Schuhabdrücke über den Rest zogen. Lincs Eltern würden ihn umbringen, wenn sie das sahen. Gut, dass das nicht mein Problem war. Und wäre es mein Teppich, würde es meine Mutter vermutlich sowieso nicht interessieren. Nichts interessierte Nancy Whitlock mehr als ihre Firma. Auch nicht ihr eigener Sohn.

Als mein Blick nach rechts fiel, konnte ich das Bild, das sich vor mir bot, im ersten Moment nicht einordnen. Langes, blondes Haar ergoss sich über den dunklen Marmorboden des Wohnzimmers. Das dazugehörige Mädchen lag mit dem Gesicht im Teppich vergraben neben mir. Nackt.

Erinnerungen der letzten Nacht schossen mir durch den Kopf und trotz des pochenden Kopfschmerzes schlich sich ein kleines Grinsen auf meine Lippen. Wie war ihr Name noch gleich? Irgendetwas mit N musste es gewesen sein. Nina? Nadine? Natalia? Egal.
Der Sex war zweifellos gut gewesen, aber es würde sowieso kein zweites Mal geben. Nicht nur, weil ich aus den wenigsten One-Night-Stands eine Gewohnheit machte. Sie hatte sich auf der Party auch so sehr an mich heran geschmissen und mich regelrecht um Sex angebettelt, dass ich keinen Grund gesehen hatte, nein zu sagen. Schlecht sah sie schließlich bei weitem nicht aus.

Trotzdem kannte ich Mädchen wie sie, die sich krampfhaft in meine Sphäre drängen wollten, um etwas von der Anerkennung abzubekommen, die ich in der Londoner High Society genoss. Nicht zuletzt dank meines Namens und meiner Fähigkeit, fantastische Partys zu schmeißen. Sie war nicht die Erste und würde sicher auch nicht die Letzte sein, die sich am liebsten als feste Freundin in mein Leben drängen und irgendwelche Besitzansprüche stellen würde, um damit ihre eigene Position zu stärken. Da gab es nur ein Problem. Je höher ich dich fliegen lasse, desto tiefer wirst du fallen, Darling.

Langsam erhob ich mich nun vollständig auf die Füße und lief an dem Mädchen vorbei auf die Tür zu. Irgendwer würde sie schon von hier verscheuchen. Sie war schließlich sicher nicht der einzige Partygast, der hier übernachtet hatte. Erfahrungsgemäß würde ich genug verkaterte Übernachtungsgäste finden, wenn ich einen Blick hinter die Türen der zahlreichen Schlafzimmer des Luxusappartements riskieren würde.

Stattdessen schüttelte ich lediglich mein eingeschlafenes Bein aus und lief geradewegs über den Gang auf die breite, pompöse Treppe zu. Oft genug war ich hier nach einer langen Partynacht aufgewacht, um meinen Weg selbst im Halbschlaf und mit dröhnenden Kopfschmerzen in die Küche finden zu können. Trotzdem griff ich lieber nach dem Geländer, als ich die Stufen hinunterstieg.

Aus der Ferne hörte ich bereits die Stimmen meiner Freunde, die immer lauter wurden, je näher ich der Küche kam. Mit einer Hand fuhr ich mir übers Gesicht, um den letzten Schlaf aus meinen Augen zu reiben, bevor ich die angelehnte Tür ohne zu klopfen aufstieß und wie gewohnt auf die Kücheninsel zuging.

„Manson", Noah war der Erste, der mich bemerkte, und damit alle anderen auf mich aufmerksam machte: "Hey, wir dachten, du wärst schon abgehauen."
„Oder hättest eine zweite Runde mit Linette gestartet?", Trevor drehte sich mit einem süffisanten Grinsen zu mir um. Sein blondes Haar war vom Schlaf geplättet und unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Schatten ab. Doch bisher hatte ich keinen Kater erlebt, der schlimm genug war, um Trevors gute Laune zu schmälern.

Linette? Ups. Ich hätte schwören können, ihr Name würde mit N anfangen. Dann war das wohl eine Andere. 
„Du weißt, dass ich keine Wiederholungen mache", murmelte ich mit rauer Stimme und ließ mich zwischen Trevor und Lincoln auf meinen üblichen Platz sinken. Merkwürdigerweise war Lincoln, einer meiner längsten und besten Freunde, an diesem Morgen ungewöhnlich still. Bevor ich ihn darauf ansprechen konnte, stellte jemand allerdings bereits geräuschvoll ein Glas vor mir ab. Als ich aufsah, bemerkte ich Noah, der eine Tablette aus dem Blister drückte und mir vor die Nase hielt: "Ich glaube, die brauchst du gerade am Dringendsten."

„Danke", ich streckte die Hand aus, um die Tablette von dem großgewachsenen Dunkelhaarigen entgegenzunehmen. Noah war einer der begabtesten Fußballspieler im Team der Privatschule, die wir alle gemeinsam besuchten. Würde er weniger feiern und mehr trainieren, hätte ihm vermutlich jedes englische Elitecollege bereits einen Headhunter auf den Hals gejagt. Glücklicherweise interessierte das Noah deutlich weniger als seinen Eltern lieb war. Doch mir sollte es recht sein. Ohne ihn wären unsere Partys nicht das Gleiche. Er war ein fester Teil unserer Gruppe, auf den nicht einfach verzichtet werden konnte.

Ohne zu überlegen, legte ich mir die Kopfschmerztablette auf die Zunge und nahm einen beherzten Schluck Wasser, um sie hinunterzuspülen. Während ich mir mit dem Handrücken über den Mund wischte, wanderte mein Blick über die anderen Anwesenden.
„Habe ich gestern irgendwas Spannendes verpasst?", hakte ich nach. Wie für gewöhnlich hatten wir die Party gemeinsam begonnen, bevor jeder dann früher oder später mit irgendeinem Mädchen irgendwohin verschwunden war. Dabei war ich normalerweise der Letzte.

Linette hatte sich jedoch bereits den ganzen Abend an mich herangemacht, als wüsste sie genau, welches Ende sie sich für die Nacht wünschte. Kaum eine Minute konnte ich mit meinem Freunden alleine sein. Geschweige denn mit anderen Frauen. Ein weiterer Grund, wieso ich selbst kein Interesse an ihr hätte, wenn ich daten würde. Sie war anhänglich und deshalb in der letzten Nacht nicht nur kurz davor mir den letzten Nerv zu rauben. Noah ständiges Augenrollen, wenn sie den Mund aufgemachte, war mir nicht entgangen.

„Du meinst, weil du dich gestern so schnell von diesem Mädchen abschleppen lassen hast?", neckte Trevor grinsend. Noah rollte daraufhin nur mit den Augen: "Damit hat uns Manson einen Gefallen getan. Ich glaube, ich hätte ihr nerviges Gelaber nicht den ganzen Abend ausgehalten, ohne den Alkoholschrank von Lincs Vater aufzubrechen. Ich weiß echt nicht, wie du das die ganze Nacht ausgehalten hast."

Er klopfte mir mit verzogenem Gesicht auf die Schulter, als wollte er sein Mitleid bekunden, was mir ein Grinsen entlockte: "Ganz einfach, ich habe sie einfach nicht zum Sprechen kommen lassen. Mit einem Mund kann man so viel bessere Dinge tun."

Aus Noahs Kehle dran ein tiefes Lachen, während er sich auf der Küchentheke aufstützte, aber keine Anstalten machte, mir zu widersprechen. Nicht sonderlich überraschend. Was mich überraschte, war das verächtliche Schnaufen aus Lincolns Richtung. Das erste Geräusch, das ich an diesem Morgen überhaupt von ihm vernahm. Mit hochgezogenen Augen wandte ich mich ihm zu, doch bevor ich ihm einen fragenden Blick zuwerfen konnte, legte er bereits los.

„Könnt ihr mal aufhören so über sie zu reden", stieß er mit angewidertem Gesichtsausdruck aus: "Noah, die Frauen, mit denen zu sonst was hast, sind nicht nur deutlich nerviger als Linette, sondern auch dazu noch wahnsinnig hohl. Und Manson, wenn du sie so schlimm findest, wieso schläfst du dann überhaupt mit ihr? Bist du so verzweifelt?"

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Trevor neben mir fragenden den Kopf hob, um von seinem Handybildschirm aufzusehen. In seinem Gesicht stand die Überraschung geschrieben, die mich bei Lincolns Worten überkam. Kurz warf ich einen Blick zu Noah, der die Arme vor der Brust verschränkt hielt. Sein Kiefer hatte sich kaum merklich verspannt. Eins war klar. Wenn ich ihm zu Wort kommen ließ, würden hier gleich die Fetzen fliegen. Auch wenn ich in diesem Fall wenig dagegen hätte. Denn ich verstand genauso wenig wie die Anderen, was plötzlich in meinem besten Freund gefahren war.

„Weil sie sich den ganzen Abend schon an mich rangemacht hat und ich einfach etwas Spaß wollte", nahm ich Noah trotzdem die Möglichkeit auf Lincolns Frage zu antworten: "Wenn ich mich nicht vertue, hast du das auf jeder Party in den letzten Monaten getan, auf der wir gemeinsam waren."
„Nur, dass ich dabei nicht so ein Arschloch bin wie du", Lincolns Stimme hatte einen beißenden Tonfall angenommen. Seine Finger schlossen sich fester um das Glas in seiner Hand, während er sich in seinem Stuhl gerader hinsetzte und sich zu mir herüber lehnte.

Meine Zähne malten. Lincoln überragte mich um ein paar Zentimeter und könnte auf jeden anderen Mann in meiner Situation vermutlich bedrohlich wirken. Während ihm das normalerweise eher unabsichtlich gelang – er war sich seiner Größe nicht immer bewusst – schien genau das gerade seine Intention zu sein.

„Ach nein? Wieso benimmst du dich dann gerade wie eins?", schoss ich ohne zu überlegen zurück: "Wenn du ein Problem hast, dann spuck es aus und hör auf dich wie ein Idiot aufzuführen. Oder willst du mir ernsthaft erzählen, dass dir irgendein Girl in der letzten Nacht ihren Feminismus eingevögelt hat?"

Wut rauschte heiß durch meine Venen, während ein unangenehmer Schmerz nach wie vor hinter meinen Schläfen pochte. An jedem anderen Morgen nach einer Party redete Lincoln auf die gleiche Art wie wir über die Ereignisse und jetzt plötzlich wollte er einen auf weißer Ritter machen, den die Gefühle irgendwelcher Mädchen interessierten? Bullshit. 
Da war noch was anderes. Die Frage war nur was.

Lincolns Kiefer verkrampften sich, während mich seine blassblauen Augen mit Eissplittern durchbohrten. Eine Antwort konnte er jedoch nicht hervorpressen.  Trevor war geräuschlos von seinem Platz aufgestanden und winkte mit der Hand zwischen unseren miteinander verflochtenen Todesblicken hin und her, als könnte er damit den Bann brechen.
„Jetzt beruhigen wir uns mal alle wieder, in Ordnung?", versuchte Trevor es mit Worten, als sich keiner von uns regte: "Ihr steigert euch da nur in was rein."

Erst als er uns mit den Händen voneinander wegdrückte, fiel mir auf, dass ich Lincolns Verhalten kopiert und mich ebenfalls bedrohlich in seine Richtung gebeugt hatten. Für einige Sekunden mussten wir fast Stirn an Stirn da gesessen und einander nieder gestarrt haben. Langsam löste ich die Hände, die ich ohne es zu merken zu Fäusten geballt hatte, und schüttelte den Kopf, als könnte das die heiß-kalten Wellen der Wut zum Verebben bringen, die noch immer über mich rollten.

„Wir haben alle einen Kater und ihr seid beide heute Morgen wohl mit dem falschen Fuß aufgestanden", versuchte Trevor beide Seiten zu besänftigen, blieb aber zwischen uns stehen, als wartete er nur darauf, dass einer auf den anderen losging. 

Ich musste mir einen provokanten Kommentar verkneifen. Ich war sicher nicht der, der schon mit schlechter Laune aufgewacht war. Immerhin war Lincoln auch Noah verbal angegangen. Grundlose miese Stimmung konnte nicht der Auslöser sein. Zumal seine Laune noch nie so abrupt umgeschwungen war. Noah war für gewöhnlich der Wechselhafte von uns.

Linc hatte ein Problem und früher oder später würde ich es herausfinden. Die weitaus wichtigere Frage war eher aus welche Weise. Während ich ungern die Fäuste gegen Freunde erhob, verriet mir Lincolns Blick, dass er mir gerade am liebsten einen zweiten Grund für Kopfschmerzen verpassen würde.

„Können wir das Thema einfach wechseln, damit sich alle wieder beruhigen können?", schlug Trevor, dessen Hand noch immer auf Lincolns Schulter lag, vor. Dieser stieß lediglich ein Lachen aus: "Wenn sich die beiden entschuldigen."

„Wofür?", meinte Noah verächtlich: "Vielleicht hast du das vergessen, weil du zu beschäftigt damit warst, dich mit Manson zu streiten, aber Mädchen wie Linette rennen Typen wie Manson nur wegen seines guten Namens hinterher. Das hast du schon mal erlebt und wir anderen auch. Vergiss das also nicht, wenn du dich deshalb mit Manson prügelst."
Noah verzog das Gesicht und setzte einen sarkastischen Tonfall auf, als er weiter sprach: "Deine arme, arme Linette rennt Manson in der Schule doch schon seit Wochen hinterher und von der Nacht wollte sie genauso ihren Vorteil ziehen wie er. Sie hatten beide ihren Spaß und Linette hat gehofft, sich durch ihn und seinen Namen eine bessere Position zu verschaffen. Vergiss das besser nicht, während du sie hier verteidigst, als wäre sie ein Engel, den Manson ausgenutzt hat."

Lincoln sprang von seinem Stuhl auf, bevor Trevor überhaupt Anstalten machen konnte, ihn aufzuhalten. Mit der flachen Hand schlug er auf die Küchenplatte: "Raus! Ihr alle. Verpisst euch."

Ich warf Noah und Trevor der Reihe nach einen kurzen Blick zu, bevor ich mich ebenfalls schulterzuckend erhob: "Gut, dann gehen wir."
Zweifellos wusste Lincoln genauso gut wie alle anderen Anwesenden, dass Noah recht hatte. Nicht zuletzt, weil die gleichen Worte oft genug aus seinem eigenen Mund gekommen waren. Aus unerklärlichen Gründen schien er sich plötzlich aber etwas anderes einreden zu wollen. Ernsthaft, was war los mit ihm? Ich konnte das Gefühl einfach nicht loswerden, dass ich irgendwas Wichtiges verpasst hatte.

Mit ihm weiter zu diskutieren, würde heute Morgen jedoch nichts mehr bringen. Das war mittlerweile überdeutlich. Es gab nichts, was einer von uns sagen könnte, um ihn daran zu erinnern, dass er selbst bisher die gleiche Meinung vertreten hatte wie wir, ohne sich einen Kinnhaken einzufangen. Sollte er uns doch rauswerfen. Wenn er wieder bei klarem Verstand war, würde er es sein, der mit eingeklemmtem Schwanz zurückgekrochen kam.

Ich nahm mein Handy von der Küchenplatte und ließ es in meiner Hosentasche verschwinden. Die anderen waren bereits in Richtung Aufzug gegangen. Über die Schulter warf ich einen letzten Blick zu Lincoln, der mir jedoch den Rücken zugewandt hatte und mich nicht mehr eines Blickes würdigte, bevor ich den anderen wortlos hinaus folgte.

Als ich den Ausgang erreichte, hatte sich Noah bereits mit genervtem Gesichtsausdruck an die Aufzugwand gelehnt, während Trevor den Arm zwischen die mechanischen Türen hielt, damit ich dazu kommen konnte. Kaum war ich eingestiegen, trat Trevor zurück und ließ den Aufzug zu gleiten. Mit einem leisen Surren setzte sich die Kabine in Bewegung und Noah ergriff das Wort: "Du hättest zulassen sollen, dass sich die beiden prügeln, Trevor. Vielleicht wäre Lincoln wieder zu sich gekommen, wenn ihm Mansons die Nase gebrochen hätte. Er weiß ganz genau, dass die meisten Mädchen entweder auf seine Partys gehen, um Drogen zu nehmen, ohne dass es ihre Eltern merken, oder um etwas mit einem Typen anzufangen, von dessen Namen sie sich Vorteile erhoffen."
„Ich werde sicher nicht zulassen, dass sich die beiden unnötig prügeln", warf Trevor kopfschüttelnd ein: "Das ist es nicht wert."

Während die beiden weiter diskutierten, warf ich zum ersten Mal seit dem Aufwachen einen Blick auf mein Handy. Es war bereits nach Elf und auf meinem Display blitzten mehrere verpasste Anrufe meiner Mutter auf. Meine Stirn legte sich in Falten. 

Für andere Mütter mochte es typisch sein, ihre Söhne anzurufen, wenn sie ohne Erklärung einfach mehrere Nächte nicht nach Hause gekommen waren. Aber sicher nicht meine Mutter. Solange ich nicht in irgendeiner Gasse abnippelte und damit schlechte Schlagzeilen verursachte, könnte es sie nicht weniger interessieren, was ich in meiner Freizeit tat. Vermutlich könnte ich mir problemlos jeden Abend Lines von den Ärschen irgendwelcher Prostituierten ziehen, solange die Presse davon nichts mitbekam.

Irgendwas konnte also gehörig nicht stimmen, wenn sie mich so dringend zu erreichen versuchte.
Will ich überhaupt wissen, was los ist?
Vermutlich nicht. Aber besser, ich fand es schnell heraus, als mich von ihr unvorbereitet erwischen zu lassen.

Als der Aufzug im Erdgeschoss zum Stehen kam, verabschiedete ich mich kurz abgebunden von meinen Freunden und lief durch die Lobby auf den Ausgang zu. Kaum schalte ich meine mobilen Daten ein, erschien ein Schwall neuer Nachrichten auf meinem Display. Der Nachrichtenton meines Smartphones kam kaum hinterher und ließ es beinahe verzweifelt klingen. Ein kurzer Blick auf die Benachrichtigungen verriet mir, dass der Großteil ebenfalls von meiner Mutter stammte.

Während ich sie grob durchging, stieß ich ein trockenes Lachen aus. Die ersten Nachrichten klangen so besorgt, dass ich fast glaubte, sie hätte ihr Handy verloren und es wäre von einer guten Mutter gefunden worden. Dann kehrte sie jedoch zu ihrem üblichen Tonfall zurück. Dem Befehlston. 

Offensichtlich wollte sie mich dringend zu Hause wissen. Für mich also ein Grund mehr, nicht dorthin zu gehen.

Gerade als ich mich Handy wegstecken wollte, leuchtete ihr Name auf meinem Bildschirm ein weiteres Mal auf. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Musste sie um diese Zeit nicht schon längst auf ihrer geliebten Arbeit sein?

Einen Moment lang überlegte ich sie einfach wegzudrücken, doch das würde sie merken und dann vermutlich zu drastischeren Mitteln greifen.
Ob sie mich wohl als Kind gechippt hat? Zutrauen würde ich es ihr ja.
Da ich das jedoch lieber nicht in Erfahrung bringen würde, nahm ich einen tiefen Atemzug und drückte den grünen „Annahme" – Button.

„Manson", donnerte ihre Stimme aus den Lautsprechern und ich nehme das Telefon schnell ans Ohr, damit nicht alle Passanten auf der Straße mitbekommen, was sie mir zu sagen hat: "Wo warst du? Und wieso bist du nicht ans Telefon gegangen? Ich habe dich unzählige Male angerufen."
„Ich war unterwegs", antwortete ich einfach nur schroff. Es interessierte sie sowieso nicht wirklich, was ich machte. Aus ihr sprach lediglich das Missfallen daran, dass ich mich nicht wie einer ihrer Angestellten rumscheuchen ließ.

„Was willst du?", fügte ich hinzu, um so schnell wie möglich zum Thema zu kommen.
„Komm nach Hause. Sofort", umging sie meine Frage: "Schreib meinem Fahrer, wo du bist. Er wird dich abholen und hierher bringen. Wir müssen reden."
„Hmm", ich tippte mir gespielt nachdenklich an die Unterlippe, auch wenn ich wusste, dass sie nichts davon sehen konnte: "Wie wäre es mit Nein? Ich hab Wichtigeres zu tun. Wir hören uns."

Wenn sie nicht sofort damit herausrückte, konnte es nicht wichtig sein, und falls sie plötzlich Mutter – Sohn – Zeit verbringen wollte, war sie damit zehn Jahre zu spät dran.

„Wichtigeres? Das kann ich mir nicht vorstellen", antwortete sie verächtlich und erinnerte damit subtil erneut daran, dass sie im Gegensatz zu mir wusste, worum es ging.
„Dann sag mir doch endlich, was du willst", knurrte ich ins Telefon. 

Erst Lincoln, der fast grundlos auf mich losgegangen wäre, und dann auch noch meine Mutter, die mich herumzukommandieren wollte wie ein Schoßhündchen. Schlimmer konnte dieser Tag echt nicht mehr werden. Dachte ich zumindest. Ihre nächsten Worte brachten diese Vermutung jedoch rasant ins Wanken.

„Das werde ich mit dir nicht am Telefon besprechen, Manson. Dafür ist dieses Thema zu ernst", flüsterschrie sie und ich konnte mir regelrecht vorstellen wie die Vene auf ihrer Stirn hervortrat: "Entweder du reißt dich jetzt zusammen und kommst augenblicklich nach Hause oder ich friere dir all deine Konten weiterhin ein, bis du dir nicht mal mehr die Kopfschmerztabletten leisten kannst, die du nach der Party, auf der du gestern bestimmt wieder herumgehangen hast, sicher brauchen wirst."

Mir wäre fast das Handy aus der Hand gefallen. Das konnte sie doch nicht ernst meinen?! Nichts, was bisher zwischen uns passiert war, hatte sie dazu gebracht, jemals damit zu drohen.

„Weiterhin?", brachte ich hervor und versuchte die Wut zurückzuhalten, die sich in meine Stimme zu mischen drohte. Die ganzen Jahre über hatte sie sich kaum für mich interessiert und nun, da ihr plötzlich etwas nicht in den Kram passte, griff sie zu solchen Mitteln?

„Ich habe heute Morgen mit der Bank gesprochen. Ich wusste, dass ich anders keine Chance habe dich nach Hause zu kriegen", gab sie zu und ich bemerkte etwas in ihrer Stimme, das ich nicht ganz zuordnen konnte. Verzweiflung vielleicht?
„Das lässt sich alles ganz einfach rückgängig machen. Ich erwarte nur, dass du sofort hierherkommst und mir glaubwürdig versicherst, dass es nicht stimmt, damit ich eine Lösung finden kann. Hast du mich verstanden?"

„Dass was nicht stimmt?", fragte ich verwirrt in die Leitung hinein.
Wovon zum Teufel redete meine Mutter? 
„Lösung? Wofür? Wovon sprichst du?", stammelte ich. Das Gefühl, nicht ganz mitzukommen, habe ich schon immer gehasst.
„Komm einfach nach Hause. Jetzt."

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