26 | Schmetterlingseffekt

„Kommst du heute allein zurecht?", fragte Grandma, ehe ihr Blick auf meine Schuhe fiel. „Geht es dir gut, Schätzchen?"

Ich nickte langsam und rückte meine Hosen so zurecht, dass sie den Großteil der Wanderschuhe bedeckten. Ich musste üben, hatte Johnny gesagt, also tat ich das nun auch. Außerdem hatte ich heute noch einen etwas längeren Spaziergang vor mir und da war es womöglich von Nutzen, wenn ich nicht in hochhakigen Schuhen durch die Gegend marschierte.

„Natürlich. Ich probiere lediglich einige neue Dinge aus."

Grandma nickte langsam, offensichtlich etwas skeptisch. „Du musst nichts tun, was dir nicht passt, hörst du?"

Sie war selbst ebenfalls gerade dabei, sich für ein Treffen mit ihren Freundinnen bereitzumachen und trug dabei eine der Blusen, die ich für sie gefertigt hatte. „Ich weiß. Aber ich brauche neue Inspiration und ich möchte Johnnys Kurs eine Chance geben."

„Dem Feuerwehr-Kurs?"

Ich nickte. Ich hatte schon viel zu lange nicht mehr mit meiner Grandma gesprochen. In letzter Zeit verpassten wir uns ständig. Ich war an meiner Nähmaschine, sie in einem Yoga-Kurs, ich war in der Schule, sie bei ihren Freundinnen, ich war im Wohnzimmer, sie im Bett.

„Das finde ich gut, Schätzchen. Selbst wenn du da nicht unbedingt mitmachen willst, hat der Kerl dir immerhin dein Leben gerettet."

„Ja, das stimmt." Ich schenkte ihr ein halbes Lächeln. Ich vergaß viel zu oft, dass Johnny mich aus diesem Haus geholt und mir danach verboten hatte, wieder zurückzukehren. Ich wusste es natürlich, aber irgendwie realisierte ich noch immer nicht, wie viel sich dadurch verändert hatte, nur schon durch den Schmetterlingseffekt.

Es war verrückt, wie sehr ein kleiner Moment ein ganzes Jahr, wenn nicht sogar ein ganzes Leben verändern konnte. Wie viel von wenigen Sekunden abhing.

„Grandma?", fragte ich, etwas unsicher, wieso sich dieses Gespräch merkwürdig anfühlte.

„Ja, Schätzchen?"

„Dir geht es gut, nicht wahr?" Ich wusste gar nicht, warum ich fragte. Es war eine lächerliche Frage, oder vielleicht die Angst in mir, die mich jedes Mal überwallte, wenn ich sie zuließ. Ich wusste, dass meine Großmutter im Gegensatz zu anderen in ihrem Alter mehr auf ihre Gesundheit achtete, sowohl mental als auch körperlich. Sie sah gesund aus und vital, aber ich konnte mich nicht erinnern, wann ich ihr die Frage zum letzten Mal gestellt hatte und es fühlte sich falsch an, einfach anzunehmen, dass jemand in Ordnung war.

Grandmas Lippen verzogen sich zu einem sanften Lächeln, als hätte ich gerade jeden einzelnen meiner Gedanken laut ausgesprochen. Sie nahm sich eine Tasche von ihrer Kommode direkt neben der Tür und tätschelte meine Wange liebevoll. „Natürlich geht es mir gut, Liz."

Ich nickte langsam. „Das ist sehr gut."

„Du musst dir keine Sorgen um mich machen."

„Ich-...ich weiß." Ich atmete tief durch und zwang ebenfalls ein Lächeln auf meine Lippen. Natürlich wusste ich das alles. Es war nur so, dass ich für eine lange Zeit nur an mich selbst gedacht hatte und was mit mir geschah. Genau genommen war ich also genau das Gegenteil von Johnny, der versuchte, auf alle zu achten. Ich hatte nur mich selbst wahrgenommen und wie die Handlungen anderer Menschen mich beeinflussten.

Ich hatte mich nie gefragt, wieso Willa grundsätzlich sehr leise war und sich nur selten traute, aus ihrem Schneckenhaus zu kriechen. Ich hatte mich nicht gefragt – ich hatte sie nicht gefragt – wie es ihr ging. Und natürlich hatte ich Recht damit, dass sie mich vielleicht nicht fair behandelt hatte, aber ich hätte mir zumindest ihre Perspektive anhören können. Ich konnte den Moment noch immer nicht aus meinem Gedächtnis brennen, als ich gesehen hatte, wie sie versuchte, sich von Nash zu lösen. Als sie sich nicht getraut hatte, mich um Hilfe zu bitten.

Sie war vielleicht nicht immer eine gute Freundin zu mir gewesen, aber wer gab mir das Recht, über sie zu urteilen, wenn ich mich selbst nicht besser verhielt?

Ich hatte mich nie gefragt, wie es Johnny ging. Wieso er Herzchen hasste. Ich fragte mich nie, wie es Amara ging oder Robin, obwohl sich beide auch für mich interessiert hatten. Ich hatte bis vor Kurzem nie mit Elias gesprochen oder mit Leo und das war nicht nur ihre Schuld, sondern auch meine. Es musste schließlich einen Grund geben, wieso alle Angst davor hatten, sich mit mir zu unterhalten.

Es war schwierig einzuschätzen, ob Grandma ebenfalls davon betroffen war, aber ich wollte mich mehr in ihr Leben einbringen, und damit meinte ich nicht, dass ich ihr meine Probleme aufbürden wollte, sondern dass ich mehr Zeit mit ihr verbringen wollte, wenn es möglich war. Sie war die einzige Person, die immer für mich da gewesen war, unabhängig davon, wie ich mich gerade verhielt. Sie war die einzige Person, auf die ich mich seit Jahren ausnahmslos verlassen konnte.

„Mach dir nicht zu viele Gedanken, Liz", holte mich Grandma sanft aus meinen Überlegungen. „Was auch immer dich gerade bedrückt...es hat nicht so viele Gedanken verdient. Versuch, dein Leben zu leben. Manchmal ist das wertvoller als alles andere. Vor allem, wenn du dadurch andere Menschen kennenlernst."

Ich nickte. Natürlich hatte sie Recht. Nur war es manchmal schwierig, solchen Worten auch mit Taten zu folgen. Aber heute würde ich endlich einmal den ersten Schritt machen.

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Ich klopfte an der dunkelblauen Haustür. Ich war schon tausendfach hier gewesen. Ich hatte schon tausende Mädels-Abende hier verbracht, aber ich fühlte mich dennoch wie eine Fremde, die nicht hierhergehörte. Vielleicht, weil man sich einen Platz verdienen musste und ich meinen verschenkt hatte.

„Liz! Das ist aber eine Überraschung!", begrüßte mich Willas Mutter, als sie die Haustür für mich öffnete. Ihre Augen waren gleich dunkelbraun wie die von Willa, aber die Wärme, die sich früher in ihnen für mich versteckt hatte, war wie erloschen. Ich schluckte tief.

„I-ich wollte sehen, wie es ihr geht", brachte ich leise hervor. Ich hielt den Kaffeebecher und den Apfelkuchen, den ich extra für Willa gebacken hatte, in die Höhe.

„Das ist ihr Lieblingskuchen", bemerkte Willas Mom, Julianne, während sie mich kritisch musterte.

„Ich dachte, sie würde sich vielleicht darüber freuen, eine Ablenkung zu haben."

„Ich sehe nicht ein, inwiefern du eine Ablenkung wärst", sagte Julianne. Ich zuckte tatsächlich ein bisschen zusammen. Es war nicht so, als hätte ich die Worte nicht verdient, ich hatte nur nicht erwartet, dass Willas Mom sie laut aussprechen würde.

„Es tut mir leid", brachte ich also nur hervor. Die Worte waren schwieriger auszusprechen, als ich erwartet hatte. Ich konnte kaum an etwas anderes denken als an meine Schuldgefühle, aber das laut zuzugeben war noch einmal eine andere Geschichte.

„Was tust du hier, Elizabeth? Ich habe es ernst gemeint, als ich gesagt habe, dass ich dich lange nicht mehr gesehen habe. Willa hat mir zwar erzählt, dass du ihr geholfen hast und dass sie dir sehr dankbar ist, aber sie hat mir auch erzählt, dass es dein Ex-Freund war."

Also war es meine Schuld?

„Ich konnte nicht wissen, was geschehen würde", versuchte ich mich zu verteidigen.

„Mom, wer ist an der Tür?", kam aus dem Inneren des Hauses. Das war Willas Stimme. Ihre Mutter warf mir einen warnenden Blick zu.

„Ich bin gleich wieder da, mach dir keine Sorgen."

Sie wollte mich nicht hereinlassen.

„Kann ich ihr wenigstens den Kuchen geben?", fragte ich etwas niedergeschlagen. Ich hatte nicht erwartet, dass man mich gut gelaunt begrüßen würde, aber das hier entsprach auch nicht ganz meiner Vorstellungskraft.

„Liz? Was machst du hier?" Willa, die ihrer Mutter offensichtlich nicht geglaubt hatte, dass alles in Ordnung war, bewegte sich in mein Blickfeld.

„Ich...habe dir einen Kuchen gebacken", stammelte ich.

Julianne warf mir einen bösen Blick zu, der mir deutlich mitteilte, wo ich mir meinen Kuchen hinschieben sollte.

„Mom, wieso hast du sie nicht reingelassen?", fragte Willa an ihre Mutter gerichtet, ehe sie mich am Ärmel packte und ins Haus hereinzog. Sie sah normal aus. Sie war so gekleidet wie immer und sie lächelte wie immer und sie zog mich in ihre Arme wie immer. Nur hatte ich die tiefen Ringe unter ihren Augen gesehen und dass ihre Augen rot und verquollen waren. Sie klammerte sich länger als sonst an mich und zum ersten Mal ließ ich es zu.

„Du bist hier", stellte Willa fest, als sie sich von mir löste. Sie sah mich an, als könnte sie ihren Augen nicht recht glauben.

„Ich dachte, dass dieser Besuch schon längst überfällig wurde. Außerdem musste ich meine neuen Schuhe ausprobieren."

Willas Augenbrauen schossen in die Höhe, während sie meine Wanderschuhe betrachtete. „Ich habe nicht realisiert, dass man dich dafür begeistern kann."

Ich zuckte mit den Schultern. „Es hat sich viel verändert in den letzten Monaten."

„Vielleicht-...vielleicht wir nicht."

Ich schenkte Willa ein trauriges Lächeln. „Vor allem wir. Aber ich habe gelernt, dass man gewisse Dinge manchmal neu anfangen muss, wenn sie nicht mehr funktionieren wie zuvor. Innovation oder so etwas Ähnliches. Genau genommen ist das historisch gesehen auch eine sehr menschliche Sache und-..."

Willa zog mich in ihre Arme und schon wieder war alles anders als zuvor. Ich hatte sie oft umarmt, aber es war eine andere Sache, wenn es Gewohnheit war oder wenn man sich zum ersten Mal erlaubte, dankbar für die Nähe zu sein. Ich drückte sie eng an mir, denn das war mehr als nur eine Umarmung, es war ein Friedensangebot voller unausgesprochener Sachen, ein Moment, den ich vermutlich nie wieder vergessen würde.

„Ich hätte darauf beharren müssen, mit dir zu sprechen", sagte sie schließlich, als sie sich von mir löste.

Ich schüttelte entschieden den Kopf. „Nein. Du warst-...du bist meine Freundin, Willa. Ich war zu wütend, um dir zuzuhören, aber ich habe dir auch danach keine Chance gegeben." Ich wusste, dass ich nur Angst gehabt hatte, ihr zu vergeben, denn ich wusste genau, dass die Liz von vor ein paar Monaten ihr ohnehin nicht geglaubt hätte. Ich hatte nicht einmal gesehen, was direkt vor meinen Augen war und ich hatte alles ignoriert, was mir nicht gepasst hätte. Vielleicht hätte ich Willa von mir gestoßen, vielleicht nicht, vielleicht hätte sich die Situation mit Nash schlussendlich verhindern lassen.

Aber nur waren wir hier und ich sah es in ihren Augen, dass wir beide nur einen Neuanfang wollten. Mehr gab es da nicht. „Es wird nicht mehr so sein wie früher. Kiki war auch ein fester Bestandteil unserer Freundesgruppe. Es gab noch mehr Leute, aber sie war die wichtigste. Wir drei waren die wichtigsten, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr vergeben kann." Willa sah aus, als wäre da noch mehr, als hätte sie noch eine weitere Auseinandersetzung mit Kiki gehabt, aber sie äußerte sich nicht weiter dazu.

„Dann ist es ja eine gute Sache, dass wir uns beide verändert haben. Sonst könnten wir uns gar nicht neu kennenlernen. Und wenn du über sie reden willst, dann können wir das auch tun. Ich bin hier, Willa."

Sie musterte mich eine Weile lang schweigend. „Danke", sagte sie dann. „Dass du gekommen bist. Aber können wir einfach nur den Kuchen essen und Brettspiele spielen? Ich bin mir nicht sicher, ob ich einen weiteren Moment dieser unerträglichen Stimmung aushalte, zumindest nicht für die nächsten paar Stunden. Es...mein Kopf ist im Moment kein angenehmer Ort", gab sie zu und mein Herz brach schon wieder ein Stückchen, aber ich wollte heute stark sein. Für Willa.

„Dann ist es ja eine gute Sache, dass ich die absolute Königin bin, was Ablenkungen und Spaß angeht", erklärte ich mit einem Grinsen. Ich hörte nur, wie ihre Mutter hinter mir seufzte.

Sooo hier melde ich mich wieder mit einem kleinen Füllkapitel 🤭

Habt ihr die Geschichte vermisst?

Was sind eure Vorsätze fürs Neue Jahre?

Irgendwo habe ich gelesen, dass jetzt statt 202four the plot nun 202thrive angesagt ist 🤭😌

Also nachträglich ein schönes Neues Jahr und wir lesen uns bald wieder 💖

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