24 | Zwei Millionen Jahre

„Du schaust in die Vergangenheit", informierte mich Johnny, der sich neben mich in das Gras zwischen unseren Häusern legte. „Sterne sind so weit entfernt, dass zwei Millionen Jahre dauert, bis ihr Licht uns erreicht. Wenn wir es sehen, sind sie meistens schon gestorben."

Mein Blick war auf die Sterne über uns fixiert, aber ich konnte trotzdem nicht anders, als zu Johnny zu sehen. „War das eine Metapher?"

Er schluckte tief und obwohl ich in der Dunkelheit nicht viel von seinen Gesichtszügen erkennen konnte, wirkte er besorgt um mich. „Ich weiß es nicht. Ich versuche bereits seit einer halben Stunde herauszufinden, was dich heute dazu bewegt, hier draußen zu sein."

Ich wandte den Blick wieder zum Firmament. „Ich denke nach."

„Ah." Johnny legte eine Decke über mich. Nun, bevor er sich selbst ebenfalls darunterlegte und mit seiner Schulter sanft meine streifte. „Vielleicht können wir zusammen nachdenken?"

Mein Atem stockte, nur war ich mir nicht sicher, ob das an seinen Worten lag oder an seiner Wärme oder vielleicht daran, dass ich nichts lieber getan hätte, als ihm stundenlang beim Nachdenken zuzuhören. „Wie war es beim Familien-Wettbewerb?", begann ich daher mit einer eher harmlosen Frage.

Johnny gluckste. „Wir kommen also direkt zum Punkt, hm?" Er schwieg für einen kurzen Moment. „Ich schätze, dass es in Ordnung war. Ich habe versucht daran zu denken, was du gesagt hast. Wie dankbar sie dafür sind, dass zumindest ich noch da bin. Es hat die Situation irgendwie leichter gemacht. Zumindest hatte ich diesmal keine Panikattacke hinter dem Hot-Dog-Stand und das ist meiner Meinung nach bereits ein Fortschritt, nicht wahr?"

Ich konnte mein entsetztes Keuchen nicht verhindern. „Du hattest eine Panikattacke hinter dem Hot-Dog-Stand?"

„Letztes Jahr. Und das Jahr zuvor. So gut wie jedes Jahr seit...seit Britney nicht mehr da ist. Sie war dir ziemlich ähnlich, wenn wir schon dabei sind." Johnny seufzte. „Für sie musste alles pink sein oder zumindest diese Herzchen haben, die auch du auf allem hast. Himmel, sogar auf deinen Schuhen!"

Herzchen. Ich kaute auf meiner Unterlippe, um nicht hier und jetzt die Fassung zu verlieren. Ich hatte mich immer gefragt, wieso Johnny so ein Problem mit meiner Obsession für mit Herzen bedruckte Gegenstände hatte, aber ich hätte niemals geahnt, dass er nicht damit umgehen konnte, weil es ihn an seine verstorbene Schwester erinnerte. Und ich hatte ihm extra noch mit wasserfesten Farben Herzen auf das Gesicht gemalt. „Es tut mir so leid", hauchte ich. Ich musste nicht aussprechen, wofür ich mich genau entschuldigte, denn ich spürte, wie Johnny mit den Schultern zuckte.

„Ich schätze, dass ich das gebraucht habe. Dieses Muster hat mich auch ohne dich überall verfolgt, vielleicht hatte ich es einfach nötig, sie mit etwas anderem zu assoziieren. Britney war ehrlich und aufrichtig und sie hätte es gehasst, dass überhaupt nur die Form eines Herzens mich für lange Zeit beinahe in den Wahnsinn getrieben hat. Ich denke, dass sie froh wäre, wenn sie wüsste, dass ich dich kennengelernt habe."

Ich drehte mich zu Johnny, um ihm besser in die Augen sehen zu können. „Sie klingt fantastisch."

„Das Wort passt gut zu ihr", stimmte er mir zu. „Vielleicht...vielleicht, wenn du mich beim nächsten Mal mit einem Kaktus bestechen willst und mich erpresst, um in das Haus zu kommen...vielleicht könnte ich Mom dann fragen, ob sie dir einige Bilder von Britney zeigen kann. Ich denke, dass du sie gemocht hättest und sie konnte ihren Charakter auf jedem Foto zum Ausdruck bringen." Johnny lächelte sanft. Er sah zwar noch immer unendlich traurig aus, aber ich konnte trotzdem noch seinen Funken erkennen, der mich immer wieder in den Bann zog.

„Gerne", antwortete ich. „Ich...würde mich geehrt fühlen."

„Okay. Nun, auf jeden Fall haben wir zwar nicht gewonnen, aber es hat sich anders angefühlt als sonst. Mom und Dad ertränken sich meistens in Arbeit, weil sie Angst haben, dass sie sonst zu viel an Britney denken, aber dieser Tag ist immer eine Tradition die wir zusammen beschreiten, egal wie schmerzhaft es für alle ist. Meistens sehe ich sie danach tagelang nicht, weil Erinnerungen an eine gemeinsame Zeit manchmal Fluch und Segen zugleich sind. Aber heute hat es anders gewirkt, als hätte nicht nur ich mich verändert, sondern auch sie. Ich meine, wir haben zusammen zu Abend gegessen und geredet, während wir sonst meistens schweigen."

Johnny fuhr sich durch die Haare und rutschte etwas näher an mich heran, während er die Decke enger um sich selbst wickelte. „Ich möchte mir nicht zu viele Hoffnungen machen, aber es war einfach anders. Erträglicher. Als müsste ich mich nicht für jeden Atemzug entschuldigen, sondern als wäre es endlich mein gutes Recht, wieder ein Teil der Konversation zu sein."

Ich drehte mich, sodass ich auf der Seite lag und legte eine Hand auf Johnnys Brust, bevor ich es mir anders überlegen konnte. „Das ist gut, Johnny. Ich bin froh, dass es dir so geht und dass du sie darauf ansprechen konntest." Ich legte so viel Nachdruck wie möglich in die Worte und konnte nur hoffen, dass er mir glaubte.

Johnny entgegnete nichts, sondern sah mich nur forschend an. Ich hatte mich in letzter Zeit zwar ein wenig daran gewöhnt, dass zwischen uns Stille existieren konnte, aber diesmal war es anders als sonst. Viel friedlicher und doch ruhelos. Geladen. Denn in den letzten Monaten haben sich die Dinge zwischen uns verändert. Johnny war nicht mehr nur mein Nachbar, der gar nicht realisierte, dass ich neben ihm wohnte und ich war nicht mehr nur die Person, die zwei Reihen hinter ihm saß im Literaturkurs. Es war etwas entstanden...eine Freundschaft, wollte ich sagen, aber es war mehr. Seine Finger auf meiner Wange fühlten sich nicht platonisch an, genauso wenig wie das verschnellerte Pochen meines Herzens. Die Blicke zwischen uns waren nicht nur unschuldig, sondern auch sehnsüchtig.

Ich wünschte mir, dass ich näher zu ihm heranrückte, dass ich meine Hände auf seine Brust legte, dass er etwas sagte, was meine Vermutungen bestätigte. Dass ich mich traute, ihn darauf anzusprechen. „Ich habe dich beim Familien-Wettbewerb nicht gesehen", sagte Johnny schließlich sanft. Es war das Letzte, woran ich gedacht hatte, aber gleichzeitig gab es auch keinen besseren Moment, um das Thema anzusprechen. Der Moment fühlte sich ehrlich an, vielleicht sogar intim. „Ich sehe dich nie mit deiner Familie", ergänzte er. „Und wir reden auch nie über deine Familie, Liz."

Ich schluckte tief und gab mir Mühe, den Blick nicht auf seine Lippen zu senken. „Ich war heute auch gar nicht bei meiner Familie während des Wettbewerbs." Ich war mir nicht einmal sicher, ob Familie ein Wort war, das man mit meinen Eltern assoziieren konnte. Sie waren da und ich war da, aber das bedeutete nicht, dass es Zuneigung oder Kommunikation gab. Wir bestanden aus Unterschriften und Geldscheinen.

„Ich musste-..." Ich unterbrach mich selbst. Willa hatte zwar nicht von mir verlangt, dass ich niemandem davon erzählte, was geschehen war und immerhin hatte ich die Kurzversion bereits an ihre Eltern weitergegeben, aber es fühlte sich nicht richtig an, Johnny davon zu erzählen, ohne explizit Willas Erlaubnis zu haben. „Hast du manchmal auch das Gefühl, dass du alles falsch machst?"

Johnny schnaubte. „Du hast ja keine Vorstellung davon wie sehr."

Ich lächelte traurig und begann an den Grashalmen unter meinem Gesicht zu zupfen. „Manchmal fühlt es sich an, als hätten alle ein funktionierendes Bauchgefühl, nur ich nicht. Denn jedes Mal, wenn bei anderen Leuten etwas schiefgeht, sagen sie, dass sie auf ihr Herz hätten hören sollen oder dass sie es bereits geahnt hatten."

„Und bei dir ist es nicht so?" Johnnys Stimme klang sanft, während er seine Hände auf meine legte. „Du bist keine Weissagerin, Liz. Es ist in Ordnung, wenn dich Dinge überraschen."

Ich zuckte hilflos mit den Schultern. „Nun, es ist, als hätte ich keinen sechsten Sinn oder zumindest nicht genug Verstand, denn immer, wenn ich auf Geschehnisse oder Situationen zurückschaue, in denen mein Verhalten gerechtfertigt erschienen ist, schäme ich mich für meine Reaktion."

Himmel, ich hatte Johnny für einen der nervigsten Menschen gehalten! Ich hatte so viele Dinge getan und gesagt, die nicht in Ordnung waren, aber ich konnte dennoch nicht die Energie aufbringen, mich zu entschuldigen, nicht richtig. Es fühlte sich immer an, als wüsste ich nicht, wer ich selbst war und deswegen konnte ich mich nie mit meinen Taten abfinden. Sie gehörten zu einer anderen Person, zu einem anderen Menschen, zu einem anderen ich. Aber keiner dieser Gedanken war real, sondern nur, was ich mir einredete, um mich nicht mit den Konsequenzen meiner Handlungen befassen zu müssen.

„Man kann nicht in jeder Situation gut reagieren, Wheeler. Du bist nur ein Mensch und es ist normal, dass du Fehler machst. Wie könntest du sonst etwas lernen?"

Ich zuckte mit den Schultern und ich hasste mich dafür, dass mir schon wieder Tränen in die Augen traten. Das geschah in letzter Zeit viel zu oft, obwohl ich eigentlich gar keinen Grund zum Weinen hatte. Ich lag neben Johnny im Gras und eigentlich sahen wir uns die Sterne an und sein Leben war tausendmal komplizierter als meins. Ich hatte nicht das Recht dazu, schon wieder eine Szene zu machen.

„Liz", sagte Johnny sanft. Er zog mich näher zu sich heran, bis ich meinen Kopf an seine Brust legen konnte. Seine starken Arme schlangen sich um mich und sein Körper schenkte mir weitaus mehr Wärme als die Decke, unter der wir lagen. „Du darfst emotional werden", versicherte er mir, als hätte er jeden einzelnen meiner Gedanken gelesen. „Du darfst weinen."

Ich nickte, aber ich konnte mich dennoch nicht dazu überwinden, loszulassen. Stattdessen schmiegte ich mich an seine Brust und hörte auf seinen gleichmäßigen Herzschlag, bis ihm meiner glich. Johnny strich mir beruhigend über den Rücken, so wie ich es bei Willa getan hatte. „Jede wichtige Entscheidung in meinem Leben", begann ich nach einer Weile wieder. „Es fühlt sich immer an, als würde ich die Falsche treffen. Oder wenn ich wütend auf jemanden bin und die Person von mir stoße, dann wird mir immer irgendwann bewusst, dass das Gefühl nicht gerechtfertigt war und dass ich übertrieben habe. Es ist, als würde ich aus allem ein Drama machen, obwohl nur die kleinste Information meinen Blickwinkel komplett verändert hätte."

Johnny verspannte sich ein wenig. Wir wussten beide, dass mehr hinter dieser Aussage steckte, nur wusste er noch nichts von dem Willa-Nash-Debakel. Wie ich sie für das Handeln anderer Leute verantwortlich gemacht hatte, was vielleicht berechtigt war, aber vielleicht hätte ich ihr wenigstens eine Chance geben können. Und vielleicht musste ich immerhin klarstellen, was mit Kiki geschehen war – ob sie freiwillig mit Nash zusammen gewesen war oder ob sie ebenfalls machtlos gegen ihn gewesen war. Vielleicht hatte ihr niemand geholfen. Mir wurde beinahe schlecht bei diesem Gedanken. Kiki und Willa waren bis zum Anfang von diesem Schuljahr meine besten Freundinnen gewesen und nun war mein Leben beinahe unvergleichbar. Ich hatte mich verändert und zum ersten Mal war ich mir nicht sicher, ob das eine gute Sache war.

„Du kannst mit mir darüber reden", sagte Johnny. „Sobald du bereit bist."

Ich nickte an seiner Brust und wagte es dann endlich, meinen Kopf ein wenig zu heben und seinem Blick wieder zu begegnen. Für einen klitzekleinen Moment schien die Zeit stehen zu bleiben. Es war einer dieser wenigen Augenblicke, die alles verändern konnte, wenn man sich nur wagte, ein wenig zu träumen. Ich erlaubte es mir, seine Lippen anzusehen. Ich hatte mir noch nie so sehr gewünscht, einen Menschen zu küssen wie in diesem Moment. Es war schrecklich absurd, denn vor wenigen Sekunden hatte ich noch angezweifelt, dass ich die neue Version von mir mochte und nun lag ich hier und fühlte etwas, was ich noch nie gespürt hatte.

Johnnys Finger strichen über meine Wangen, mein Kinn, meine Nase. Hauchzarte Berührungen, die eine Gänsehaut über meinen Körper jagten und jeden Zentimeter entflammten. Ich hatte mich selten so lebendig gefühlt wie in diesem Moment. Ich spürte selten solche Hitze in meinem Gesicht oder in meinem Magen.

Und noch seltener hatte ich das Gesicht eines Jungen in meine Hände genommen, um meine Lippen auf seine zu pressen. Ich war mir nicht sicher, wer überraschter war von dem Kuss – Johnny oder ich. Aber wir erstarrten beide für einen klitzekleinen Moment, warteten beide bis wir aufwachten oder irgendein Zeichen darauf hindeutete, dass dieser Augenblick nicht real war.

Dann streiften Johnnys Lippen meine sanft, so federleicht, dass ich es kaum gespürt hätte, wenn ich nicht hypersensibel wäre, was seine Berührungen betraf. Es war verrückt, wie viel so eine kleine Bewegung in mir erwecken konnte.

Meine Hände vergruben sich in Johnnys Haar, zogen ihn näher zu mir heran, zwangen ihn, seine Lippen härter auf meine zu drücken. Johnnys Hände gruben sich in meine Hüften, während er uns so drehte, dass er über mir lag und mich beinahe erdrückt hätte, wenn er sich nicht mit einem Arm abgestützt hätte.

Nur unserer Mund blieb in ständigem Kontakt, in ständiger Suche zueinander, während jeder Zentimeter meines Körpers unter Flammen stand. Dieser Kuss war mehr als ich mir je erträumt hatte, intimer als jedes Gespräch das ich jemals zuvor geführt hatte und schöner als...nun, es gab nicht viele sonderlich schöne Momente in diesem Leben, aber dieser gehörte definitiv ganz oben auf die Liste.

Johnny küsste mich, als könnte er sich am Rausch betrinken oder vielleicht war das nur, was ich tat. Ich presste mich gegen ihn, presste ihn gegen mich, bis seine Zähne ungeschickt gegen meine stießen und vielleicht biss ich ihm sogar auf die Lippen, aber in diesem Moment war es mir egal.

„Oh, Liz", brachte Johnny zwischen Küssen hervor und ich konnte ihm nicht mehr zustimmen. Er löste sich von mir, um zu Luft zu kommen. Seine Augen öffneten sich flatternd und begegneten meinen. Seine Wangen waren gerötet seine Haare verwuschelt und seine Atmung kam nur noch gestockt. Ich sah vermutlich noch zerzauster aus, aber es interessierte mich nicht, weil ich lieber jeden Tag für den Rest meines Lebens aufgewühlt aussah, als diesen Kuss aufzugeben.

„Johnny", erwiderte ich. Ich legte meine Hände an sein Gesicht und während er sich wieder neben mich legte, wagte ich es, seine Konturen nachzufahren. Meine Finger strichen über seine Stirn und strichen ihm die Haare aus dem Gesicht. Ich berührte die Stelle neben seinen Augen, wo sich Lachfalten bildeten, seine Grübchen, seine Lippen.

Johnny nahm meine Finger sanft in seine und küsste meine Fingerspitzen zärtlich. „Vielleicht-...wenn irgendwo gerade ein neuer Stern geboren wurde...vielleicht wird dann jemand in zwei Millionen Jahren daran denken, dass sich in diesem Moment jemand geküsst hat."

Meine Atmung wurde flach. Kein Stern könnte es jemals mit dem Funkeln in seinen Augen aufnehmen.

„Aber vielleicht", fuhr er rau fort. „Vielleicht wird jemand daran denken, dass ich dich jetzt noch einmal küssen werde. Und dann wieder und wieder, bis meine Lippen geschwollen und vielleicht sogar aufgeplatzt sind und ich mich von dir lösen muss, weil ich nicht einsehe, wie ich es jemals freiwillig tun könnte", sagte er.

Und dann wurde er seinem Versprechen treu und presste seine Lippen auf meine.

Sooooo da kommt endlich wieder mal ein bisschen etwas glücklicheres 🤭❤️

Wie lange haben wir auf einen Kuss gewartettttt???

Vielleicht muss ich jetzt auch anfangen, mir die Sterne anzusehen, wenn es Johnnys anzieht 🤭🤭 (wir ignorieren die Lichtverschmutzung einfach hihi)

Habt ihr schon The Secret of Us (Deluxe) von Gracie Abrams gehört? Als ich Packing It Up gehört habe, musste ich sofort an Johnny und Liz denken und ich denke, das ist offiziell ihr Song! Allgemein hat dieses Album (auch die „normale" Version) so viel von diesem Buch inspiriert und ich kann euch nur empfehlen, reinzuhören 💙

Habt ihr einen Lieblingssong (allgemein oder auch vom Album)?

Ich wünsche euch ein wunderschönes Wochenende, Ciao Kakao ☀️🍂🤎

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